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Mein Engagement

Corona-Lernprozesse

27.04.2020 Seite 46
RAE Ausgabe 5/2020

Rheinisches Ärzteblatt

Heft 5/2020

Seite 46

Neben seinem Beruf hat er sich in der größten Stadt Nordrhein-Westfalens beim Management der Corona-Krise ehrenamtlich für eine enge Zusammenarbeit zwischen niedergelassenen Ärzten, Kliniken und Gesundheitsamt engagiert: Dr. Jürgen Zastrow, Vorsitzender der Kreisstelle Köln der Kassenärztlichen Vereinigung Nordrhein. In unserer Reihe reflektiert er seine Erfahrungen der vergangenen Wochen – „aus Sicht der versorgenden Ärztinnen und Ärzte in Nordrhein“, wie er es selber formuliert. 

von Jürgen Zastrow

Covid-19 (coronavirus disease 2019) nennen wir ein 160 nm großes SARS-Virus, das Ende 2019 in Wuhan, China geboren wurde. Es reist gerne mit vorwiegend älteren Herren um die ganze Welt, wobei es sich ebenso gerne und leicht auf andere Menschen überträgt, in denen es sich schnell vermehrt. 80 Prozent der Menschen merken davon nichts und von den Erkrankten haben die meisten die üblichen Grippesymptome. Von den bekannten Infizierten sterben 0,4 bis 5 Prozent (die große Spanne ist wahrscheinlich durch eine hohe Dunkelziffer und den Infektionsweg zu erklären). Diese Todesfälle begründen die weltweiten Bemühungen, das Virus einzudämmen. Die schwer verlaufenden Fälle bedeuten einen meist hohen intensivmedizinischen Behandlungsaufwand.

Hygienemaßnahmen zur Eindämmung verändern weltweit das gesellschaftliche Leben in der Familie genauso wie sie sich auf  Wirtschaftssysteme und damit auch die Natur auswirken. Diagnostik und Therapie des Virus priorisieren alle anderen medizinischen Bereiche und bewirken damit genau das, was noch zu Beginn der Epidemie verhindert werden sollte. Die hierzu erforderlichen Maßnahmen und Prozesse zeigen uns die Bruchstellen unserer Systeme auf.

Normengläubigkeit

Es gibt eine Menge hilfreicher Medizinprodukte, deren unproblematische Einfuhr uns helfen würde. Aber wir leisten uns ein großes Netz an Bestimmungen und Zertifikaten, schreiben Materialien, Formen, Farben und Verpackungen in Art und Größe vor und vieles mehr. Deutsche Importeure geraten bei der derzeitigen weltweiten Schlacht um Hygieneprodukte im deutschen Normendschungel ins Hintertreffen. Die Beschaffungsbürokratie ist hin- und hergerissen zwischen der Einhaltung des engen Regelkorsetts und damit dem Ausscheiden aus einem umkämpften Markt und der situativ möglicherweise sinnvollen Aufgabe der Regelgläubigkeit mit Erfolgsmöglichkeiten.

Medizinproduktegesetze und Infektionsschutzgesetze sind zum Schutz der Patienten sicher gut gemeint. Hygieniker und Juristen haben die Politiker (oft medizinische Laien) in den Gesundheitsausschüssen mit von wem auch immer bezahlten Studien zugunsten einer überbordenden (die Umwelt mit Einmalprodukten verseuchenden) Hygieneindustrie entsprechend beraten. An vielen Stellen fehlen aber Realitätsbezüge, besonders bei der Umsetzbarkeit. Die für Hygiene zuständigen staatlichen Institute haben Regeln und Rahmenbedingungen erstellt, ohne die Finanzierung sicherzustellen. Wir erleben dies zurzeit bei der Forderung nach persönlicher Schutzausrüstung, die aber schlicht und einfach nicht vorhanden ist. Sie wurde schließlich nicht finanziert – ups!

Prozesse

Der fehlende Realitätsbezug führt nun interessanterweise dazu, dass wir den Luxus der Normengläubigkeit verlassen und zu den (meist einfacheren) Maßnahmen kommen, die unter Einsatz des Vorhandenen möglich sind. So ersetzt zunehmend das Machbare das Wünschenswerte. Unsere Normen legen uns ein enges medizinisches Korsett an und schränken unsere Handlungsfähigkeit unter Krisenbedingungen teilweise enorm ein. Dies führt dazu, dass die Normen der Kraft des Faktischen folgend verändert werden. Die Vorgaben passen sich also nun an die Bedingungen an und nicht wie vorher die Bedingungen an die Vorgaben. Das ist neu und gut!

Die Nachteile der Separation der medizinischen Bereiche in ambulant, stationär, Pflege, Arzneimittel und Medizinprodukte zeigen sich nun deutlich. Das medizinische Personal versucht an der Basis verzweifelt, die politischen Planungsfehler der letzten Jahrzehnte durch weitestmögliche Kooperation vor Ort auszugleichen. Auch hier ringen bei den meisten Menschen verschiedene Motive miteinander, nämlich der Egoismus der eigenen Gruppe gegen den Helferinstinkt. Die unpragmatische Kooperationsbereitschaft mit Umsetzung des Machbaren zum Besten des Patienten führt uns Ärzte zu den Ursprüngen ärztlichen Handelns im Sinne des hippokratischen Eides zurück.

Rahmenbedingungen

Die Rahmenbedingungen medizinischen Handelns stimmen seit Jahren nicht mehr.

Während die Rechtsprechung von der Gesundheit als höchstem Gut ausgeht und eine Maximierung der Behandlung am Patienten fordert, beugt sich die Politik dem Druck der Wiederwählbarkeit und verspricht dem Wähler möglichst allumfassende gesundheitliche Versorgung für begrenzte Beiträge. Gleichzeitig sollen die Lohnnebenkosten niedrig sein. Dies führt zu dem politisch stillgeschwiegenen Paradoxon, dass ein sehr großes Leistungsversprechen einer begrenzten Finanzierung gegenübersteht. Eigenverantwortung wird erwähnt, aber nicht gelebt – dafür aber die staatliche Fürsorge der Solidargemeinschaft. Die Menschen wurden in einem „Flatrate System“ verwöhnt, in dem „alles medizinisch Notwendige“ versprochen wurde. Damit einher ging aber ein Entwöhnungsprozess in der Bevölkerung vom wirtschaftlichen Umgang mit Ressourcen, von Eigenverantwortung und Wertschätzung.

Budgets funktionieren nun nicht mehr und die von den Krankenkassen und deren Politikern gedeckelten Töpfe kochen über. Möglicherweise führt dies in Zukunft zu einem Umdenken, sodass einerseits die Rahmenbedingungen wieder dem Wertesystem folgen und andererseits das Wertesystem den Rahmenbedingungen angepasst wird.

Hoffnung macht, dass die Menschen plötzlich den Wert von Gesundheit wahrnehmen und die Pflege der Gesundheit wertschätzen. Die nun notwendigen Verhaltensregeln zwingen plötzlich zur Wahrnehmung der eigenen Verantwortung für sich selbst und andere.
 

Sozialverhalten

Ängste und Verunsicherung führen zu Verhaltensänderungen, was an leeren Supermarktregalen erkennbar ist. Egoismen wie „ist mir doch egal“, „ich will meine Freiheit“ und „Fuck Corona“ (75 Prozent Zustimmung auf Facebook noch Mitte März!) sind innerhalb von zehn Tagen nicht mehr gesellschaftsfähig.

Nur die Gruppe ist stark, der Einzelne ist schwach. Egoismen gefährden den Erfolg von Gruppen und Systemen. Die Nachteile unserer „Ellenbogengesellschaft“ werden plötzlich sichtbar und damit auch reflektiert. Disziplinierung des eigenen Verhaltens und gegenseitige soziale Kontrolle werden neuerdings mehr umgesetzt.

Primat der Wirtschaft?

Die Relativierung egoistischen Verhaltens relativiert auch das darauf basierende Wirtschaftssystem. Die (wahrscheinlich wie immer nur zeitweise) abstürzenden Börsenkurse zeigen die Anfälligkeit unserer Hochleistungsgesellschaft (immer mehr, immer schneller, immer billiger) ebenso wie die Tatsache, dass die Basis wirtschaftlichen Handelns der Mensch selbst ist. Dieser sieht sich zurzeit bedroht und verändert seine Fokussierung von Wirtschaft auf Gesundheit. Interessanterweise nehme ich in meinem Umfeld wahr, dass die Quarantänemaßnahmen nicht wie befürchtet zu erheblichem Widerstand in der Bevölkerung führen. Stattdessen schätzen die Menschen die stressfreie Zeit  und pflegen zwischenmenschliche Kommunikation. Der Mensch wird auf seine Natur zurückgeführt, die bestimmt wird von trinken, essen und schlafen. „Wir leben nicht, um zu arbeiten, sondern wir arbeiten, um zu leben“ ist in diesem Zusammenhang kein schlechtes Motto. Ich wünsche mir, dass wir die Atempause des Turbokapitalismus zum Innehalten, zur Reflexion und zur Verhaltensänderung nutzen.

Apropos Natur: Sicher ist das schöne Wetter zurzeit ein meteorologischer Zufall, oder auch nicht? Auf jeden Fall ist die Luft so sauber wie lange nicht mehr und selbst die Chinesen sehen wieder etwas mehr Blau am Himmel. 

Durch diese Krise verändern wir Blickwinkel und Standpunkte. Ändern wir uns nachhaltig oder nur situativ? Lernen wir daraus? Diese Krise bietet auch Chancen zur Weiterentwicklung: Es gibt nichts Gutes, außer man tut es!

Dr. Jürgen Zastrow ist als Hals, Nasen-, Ohrenarzt in Köln niedergelassen. Von 2014 bis 2019 gehörte er dem Redaktionsausschuss des Rheinischen Ärzteblattes an, der die Arbeit der Redaktion ehrenamtlich begleitet.