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Praxis – Arzt und Recht – Folge 124

Lockerung der Schweigepflicht zugunsten des Kinderschutzes

22.07.2021 Seite 25
RAE Ausgabe 8/2021

Rheinisches Ärzteblatt

Heft 8/2021

Seite 25

Der Deutsche Bundestag hat am 22. April 2021 mit Zustimmung des Bundesrates den von der Bundesregierung eingebrachten Entwurf eines Gesetzes zur Stärkung von Kindern und Jugendlichen (Kinder- und Jugendstärkungsgesetz, KJSG) verabschiedet (Drucksache 319/21). Geändert wurde hierdurch das Gesetz zur Kooperation und Information im Kinderschutz vom 22. Dezember 2011 (BGBl. I S. 2975; BGBl. I S. 3234).

von Katharina Eibl und Dirk Schulenburg

Ärztinnen und Ärzte sind verpflichtet, über das zu schweigen, was ihnen ihre Patienten anvertraut haben. § 203 Abs. 1 Strafgesetzbuch (StGB) bestimmt, dass derjenige bestraft wird, der unbefugt ein fremdes Geheimnis, namentlich ein zum persönlichen Lebensbereich gehörendes Geheimnis offenbart, das ihm als Arzt (…) anvertraut oder sonst bekannt geworden ist.

Die Wahrung der ärztlichen Schweigepflicht wird darüber hinaus unter den Schutz der ärztlichen Berufsordnung gestellt (§ 9 der Berufsordnung der nordrheinischen Ärztinnen und Ärzte). Derjenige, der als Arzt gegen die Schweigepflicht verstößt, handelt berufsrechtswidrig.

Umfang der Schweigepflicht


Von der ärztlichen Schweigepflicht umfasst sind Tatsachen und Umstände, die nur einem beschränkten Personenkreis bekannt sind und an deren Geheimhaltung der Betroffene ein bei Berücksichtigung seiner persönlichen Situation sachlich begründetes Interesse hat. Ein schutzwürdiges Geheimhaltungsinteresse wird in der Rechtsprechung (beispielsweise OLG Karlsruhe vom 11. August 2006, AZ: 14 U 45/04) überwiegend auch schon für den Namen des Patienten sowie für die Tatsache angenommen, dass jemand überhaupt einen Arzt konsultiert hat.

Die ärztliche Schweigepflicht ist grundsätzlich auch gegenüber anderen Ärzten sowie gegenüber Gerichten und Behörden zu beachten.

Einwilligung bei Minderjährigen


Ärztinnen und Ärzte sind nicht an die ärztliche Schweigepflicht gebunden, wenn der Patient seine Einwilligung zur Weitergabe des Patientengeheimnisses 
erteilt hat. Minderjährige, die die notwendige Urteils- und Einsichtsfähigkeit besitzen, müssen selbst eine Entbindungserklärung abgeben. Liegt bei Minderjährigen keine Einsichtsfähigkeit vor, müssen deren gesetzliche Vertreter den Arzt von der Schweigepflicht entbinden.

Schweigepflicht bei Kindeswohlgefährdung


Der Gesetzgeber hat, wenn eine solche Entbindung nicht vorliegt, eine Offenbarungsbefugnis des Arztes im Rahmen eines sogenannten rechtfertigenden Notstandes (§ 34 StGB) vorgesehen. Demnach darf ein Arzt ein Patientengeheimnis offenbaren, wenn das Interesse, das dem Straftatbestand der ärztlichen Schweigepflicht zugrunde liegt, nämlich das Vertrauen des Patienten in die Verschwiegenheit seines Arztes, gegenüber einem anderen Rechtsinteresse, nämlich dem Kindeswohl, geringwertig ist.

Kinderschutzgesetz


Einen konkreten Fall des rechtfertigenden Notstandes regelt § 4 des Gesetzes zur Kooperation und Information im Kinderschutz (KKG), welches nunmehr durch das Kinder- und Jugendstärkungsgesetz geändert wurde. Die Vorschrift regelt die Beratung und Übermittlung von Informationen durch Geheimnisträger bei Kindeswohlgefährdung und sieht ein gestuftes Vorgehen vor.

Bei gewichtigen Anhaltspunkten für eine Kindeswohlgefährdung soll die Situation zunächst mit dem Kind und den Sorgeberechtigten erörtert werden. Der Arzt sollte auf die Inanspruchnahme von Hilfe hinwirken.

In der zweiten Stufe haben Ärztinnen und Ärzte zudem gegenüber dem Träger der öffentlichen Jugendhilfe Anspruch auf Beratung durch eine erfahrene Fachkraft. Hierzu dürfen sie dem Jugendamt die dafür erforderlichen Daten anonymisiert überlassen.

Ist eine Kindeswohlgefährdung trotzdem nicht abwendbar, sind die Geheimnisträger befugt, das Jugendamt zu informieren, wobei die Betroffenen darauf vorab hinzuweisen sind, es sei denn, dass dadurch der wirksame Schutz des Kindes oder des Jugendlichen infrage gestellt wird. Die hierzu erforderlichen Daten soll der Arzt bei dringender Gefahr dem Jugendamt mitteilen, ohne dass er damit gegen seine Schweigepflicht verstößt (§ 4 Abs. 3 KKG). Wenn nach Einschätzung des Arztes eine dringende Gefahr für das Wohl des Kindes oder des Jugendlichen das Tätigwerden des Jugendamtes erfordert, steht es diesem mithin nicht mehr frei, ob er die Informationen weitergibt.

Neu ist auch, dass in § 4 Abs. 4 KKG eine Pflicht zur Rückmeldung des Jugendamtes an den die Kindeswohlgefährdung meldenden Berufsgeheimnisträger aufgenommen wurde. Dabei handelt es sich um eine sinnvolle und auch hilfreiche Gesetzesänderung, denn sie gibt dem Berufsgeheimnisträger nach der Meldung einer Gefährdung des Kindeswohls ein Feedback und ermöglicht es ihm, zukünftige Gefährdungslagen besser einzuschätzen.

Öffnungsklausel


In § 4 Abs. 4 KKG wird eine Landesöffnungsklausel zum interkollegialen Austausch eingeführt. In Nordrhein-Westfalen will die Regierungskoalition aus CDU und FDP vor diesem Hintergrund die Schweigepflicht für Ärzte lockern, die bei jungen Patienten auf einen Missbrauchsverdacht stoßen. Ein neues Gesetz soll es den Ärztinnen und Ärzten erlauben, sich mit Kollegen über den jeweiligen Fall auszutauschen.

Die neuen Regelungen im KKG sind insgesamt eine erfreuliche Entwicklung, die den Kinderschutz in Deutschland weiter voranbringen werden.

Dr. iur. Dirk Schulenburg, MBA, MHMM, ist Justiziar der Ärztekammer Nordrhein und Katharina Eibl, Fachanwältin für Medizinrecht, ist Referentin der Rechtsabteilung.