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Der Blick durch die „Kulturbrille“

11.12.2020 Seite 16
RAE Ausgabe 1/2021

Rheinisches Ärzteblatt

Heft 1/2021

Seite 16

  • „Wir müssen die verzerrende Kulturbrille absetzen, findet Dr. (YU) M. san. Ljiljana Joksimovic, Fachärztin für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie und Leiterin des LVR-Kompetenzzentrums Migration. Zu häufig, so die Ärztin, bediene man sich gesellschaftlicher und kultureller Klischees und Stereotypen. © olezzo/stock.adobe.com
  • In der Transkulturellen Tagesklinik des LVR-Klinikums in Düsseldorf kommen die Patientinnen und Patienten auch zu gemeinsamen Gesprächen zusammen. „Wir reden, kochen und essen gemeinsam. Die familiäre Atmosphäre und der Zusammenhalt verstärken die Wirkung unserer Therapie,“ erklärt Dr. Stefanie Dechering, Fachärztin für Psychotherapeutische Medizin und Psychoanalyse und Leiterin der Tagesklinik. © fizkes/stock.adobe.com
Knapp 22 Millionen Menschen mit Migrationshintergrund leben laut Statistischem Bundesamt aktuell in Deutschland. Für viele von ihnen ist das komplexe deutsche Gesundheitssystem schwer zu verstehen. Besonders psychotherapeutische Angebote werden weniger häufig wahrgenommen. Dabei greift die Vermutung, dass dies auf sprachlichen Barrieren und kulturellen Unterschieden beruht, zu kurz.

von Vassiliki Latrovali

„Als die Gastarbeiter in den 1960er-Jahren nach Deutschland kamen, sah kaum jemand voraus, dass sich die meisten von ihnen hier niederlassen würden“, sagt Dr. (YU) M. san. Ljiljana Joksimovic, Fachärztin für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie und Leiterin des Kompetenzzentrums Migration des Landschaftsverbandes Rheinland (LVR) in Viersen. „Die Arbeiter brachten Gesundheit quasi im Gepäck mit. Nur die jungen, gesunden und psychisch stabilen Personen erhielten ein Arbeitsvisum. Dadurch fielen diese Menschen im Gesundheitswesen wenig auf.“ Man sei zudem davon ausgegangen, dass der Zugang zur Gesetzlichen Krankenversicherung, den die Gastarbeiter mit ihrer Anstellung erhielten, Garant für den gleichen Zugang zur medizinischen Versorgung war. Erst in den späten 1980er- und frühen 1990er-Jahren thematisierte die Public-Health-Forschung in Europa, dass innerhalb der Mitgliedstaaten Chancenungleichheiten im Zugang zum Gesundheitswesen zwischen verschiedenen Bevölkerungsgruppen bestehen, und erklärte die Verringerung dieser Ungleichheiten zum Ziel gesundheitspolitischer Bemühungen. 

In der Psychotherapie habe man damals von Interkulturalität gesprochen, erklärt Joksimovic. Doch auf der Suche nach kulturellen Zugehörigkeiten und Einordnungen hätten sich zum Teil unwissenschaftliche und diskriminierende Konzepte wie der Morbus Mediterraneus (siehe Kasten Seite 19) entwickelt, die eine Fixierung auf die herkunftsbezogene Kultur unterstellten, obwohl Migrantinnen und Migranten der 2. Generation sich schon längst in Deutschland beheimatet fühlten oder sich das wünschten. „Man sollte Entwicklungen und Definitionen immer im historischen Kontext betrachten und die Errungenschaften und Anstrengungen von damals nicht entwerten. Aus Sicht der kritischen Migrationsforschung wissen wir jedoch heute, dass das Kulturparadigma zu kurz greift, wenn es um Gesundheit und Krankheit geht. Soziale Einflüsse, Menschenrechtsverletzungen, Diskriminierungs- und Rassismuserfahrungen, die zweifellos negative Auswirkungen auf die Gesundheit haben, werden dabei ignoriert“, meint die Ärztin. 

 „Auf der Suche nach Zugehörigkeit und Einordnung haben sich teilweise unwissenschaftliche und diskriminierende Konzepte entwickelt.“

Kultur sei mehr als die gemeinsame Sprache und Annahmen über die Homogenität einer Gruppe. „Wir brauchen dringend neue  Begriffe, die uns Perspektivenwechsel und einen breiteren Blick über den Tellerrand  der Interkulturalität ermöglichen,“ erklärt Joksimovic. Der Psychotherapeutin zufolge fordert die transkulturelle und an Diversität orientierte Psychotherapie eine Anpassung an die gesellschaftliche Heterogenität, die auch die heutige diskriminierungs- und rassismuskritische Psychotherapie einbezieht.

Nur ein Kommunikationsproblem?

Nach Auffassung von Joksimovic gibt es vier Faktoren, die erklären, warum Migrantinnen und Migranten psychotherapeutische Angebote weniger häufig annehmen. Es könne zum einen an den Betroffenen selbst liegen, die durch ihre soziokulturellen Prägungen und Erfahrungen innerhalb des deutschen Gesundheitsystems kein Vertrauen in die professionelle psychotherapeutische Hilfe haben. „Hinter dem vermeintlichen Sprachproblem verbirgt sich häufig, dass sich Menschen mit Migrationshintergrund dafür schämen, dass sie Deutsch nicht auf hohem intellektuellem Niveau verstehen und beherrschen oder dass sie einen Akzent haben.“ Die Betroffenen suchten dann oft gleichsprachige Therapeutinnen und Therapeuten auf, in der Annahme, dass diese ihren Bedürfnissen allein aufgrund der gemeinsamen Sprache oder sogar der geteilten Migrationserfahrung gerecht werden könnten. „Ein weiterer Faktor sind die Psychotherapeuten selbst, die vor vermeintlichen sprachlichen und kulturellen Barrieren zurückschrecken“, meint Joksimovic. Die Krankenkassen weigerten sich bis heute selbst in begründeten Einzelfällen, Sprach- und Integrationsmittler zu finanzieren. „Das ist eigentlich ein Skandal, weil viele betroffene Migrantinnen und Migranten jahrelang in die Sozial- und Krankenversicherungssysteme eingezahlt haben“, erklärt die Ärztin. Dies weise auf einen weiteren Faktor hin. „Die Schwierigkeiten sind strukturell. Es gibt keine fest verankerten Instrumente, die bei der Überwindung von Hürden zum Einsatz kommen. Dabei ließe sich dies insbesondere in Institutionen leicht ändern, indem interdisziplinäre Arbeitsgruppen eingerichtet werden, die Behandlungsansätze entwickeln, mit denen man Sprach-, Kultur- und Sozialbarrieren überwinden kann.“ Zuweilen werde Migrantinnen und Migranten aber auch die Fähigkeit abgesprochen, von psychotherapeutischen Verfahren profitieren zu können. Auf der Ebene des LVR-Klinikverbunds leiste seit einigen Jahren das LVR-Kompetenzzentrum Migration seinen Beitrag zum Abbau struktureller Zugangsbarrieren. Es könne aber auch am Zuweiseverhalten von Hausärztinnen und -ärzte liegen, so Joksimovic.  

Wichtig sei es, Menschen mit Migrationshintergrund in der Psychotherapie differenziert zu betrachten. „Innerhalb der Gruppe der Migrantinnen und Migranten gibt es sehr viele unterschiedliche Lebensrealitäten. Probleme der Menschen, die in 3. oder 4. Generation hier leben, lassen sich nicht mit den Problemen der Geflüchteten der vergangenen fünf Jahre vergleichen – selbst dann nicht, wenn sie teilweise ähnliche Erfahrungen gesammelt haben“, sagt Joksimovic.

Nordrhein als Vorreiter

Für schwer traumatisierte Geflüchtete bietet die Tagesklinik des LVR-Klinikums in Düsseldorf seit dem vergangenen Sommer Therapieplätze an. Geleitet wird die Einrichtung von Dr. Stefanie Dechering, Fachärztin für Psychotherapeutische Medizin, die im therapeutischen Setting die Erfahrungen und Erlebnisse der Patientinnen und Patienten verstärkt in den Blick nimmt. Das tagesklinische Angebot baut auf langjährigen Erfahrungen in der ambulanten Versorgung von Migrantinnen, Migranten und Geflüchteten auf. „Wir haben versucht, die Räumlichkeiten so gut es geht gemütlich und einladend zu gestalten“, sagt Dechering. Bequeme Sofas, bunte Bilder an den Wänden und genügend Tageslicht sollen den Patienten ein gutes Gefühl geben.
In ganz Deutschland gibt es nur zwei Einrichtungen dieser Art – die eine im Düsseldorfer Osten, die andere in Berlin. Über die Ambulanz des LVR-Klinikums können sich Patientinnen und Patienten auf eine Warteliste für die neun zu vergebenen Plätze der Tagesklinik setzen lassen. „Aber wir kooperieren auch eng mit verschiedenen Beratungsstellen, treffen uns einmal im Jahr in einer Koordinationsstelle zu einer Art ,Rundem Tisch‘. Dadurch kommen die meisten Vermittlungen zustande. Außerdem kontaktieren uns Flüchtlingsunterkünfte oder Ärzte aus Praxis und Klinik“, erklärt die Psychotherapeutin.

In ihrem Team hat Dechering einen Kollegen aus Syrien, der Arabisch und Russisch beherrscht, eine Kollegin, die fließend Englisch spricht, eine Kunsttherapeutin, die Kroatisch beherrscht und einige Sprach- und Integrationsmittler. Auch Dechering kritisiert, dass die Krankenkassen die Kosten für die Mittler nicht übernehmen. „Dabei besteht dafür eine große Notwendigkeit.“ Zugleich räumt die Psychotherapeutin mit dem Vorurteil auf, Migrantinnen und Migranten wollten die deutsche Sprache gar nicht erlernen. „Die Menschen sind absolut gewillt, die Sprache zu lernen“, sagt Dechering. „Aufgrund der starken Traumatisierung sind sie oft einfach nicht in der Lage, sich lange zu konzentrieren.“ Die Erfahrungen mit den ersten Patientinnen und Patienten in der Tagesklinik geben ihr recht. Die meisten Patientinnen und Patienten, die in diesem Herbst entlassen wurden, konnten ihre Deutschkenntnisse deutlich verbessern. „Wir haben eine Germanistin bei uns im Team, die in den zwölf Wochen der Therapie Deutsch unterrichtet. Es ist wirklich schön zu sehen, wie sehr sich die Menschen in dieser Zeit entfalten.“

Gemeinsam stark

Bei der Therapie gehe es insbesondere darum, eine Basis des Vertrauens zu schaffen. „Sich in eine fremde Kultur einzufühlen, braucht Sensibilität und Sensitivität. Man muss sich in jedem Fall aufgeschlossen zeigen“, sagt Dechering. „Auch ich musste mich erst an die Arbeit mit einem Sprachmittler im Raum gewöhnen, aber es funktioniert wirklich wunderbar. Je öfter man die Erfahrung als Therapeut macht, desto besser kann man mit dieser Drei-Personen-Konstellation umgehen.“ Voraussetzung dafür sei, dass die Mittler sich zurücknehmen und die Übersetzung nicht emotionalisieren. Religiös begründete Vorbehalte spielen der Ärztin zufolge in der Therapie kaum eine Rolle: „Es ist nicht so extrem, wie immer behauptet wird. Die Menschen, die zu uns kommen, sind sehr offen gegenüber den Therapieanwendungen.“ 

Die Patienten der Tagesklinik leiden meist an einer Posttraumatischen Belastungsstörung, die einhergeht mit enormer Schreckhaftigkeit, mit schweren Schlafstörungen und Albträumen. Zu Dechering kommen Menschen, die Krieg und Flucht erlebt haben, und solche, die gefangen und gefoltert wurden. „Viele geraten in langes Grübeln, machen sich Sorgen, besonders, wenn Familienmitglieder noch in der Heimat sind. Wenn es dort Anschläge oder Angriffe gab und sie Eltern und Geschwister nicht per Telefon erreichen, stürzt sie das in unheimliche Ängste“, erklärt die Ärztin. Auffällig sei, dass die Patienten es zu Beginn der Therapie kaum wagen, offen über Terrorgruppen wie die Taliban oder Boko Haram zu sprechen. Sie befürchten, so Dechering, dass ihre Aussagen auf irgendwelchen Wegen in die Heimat gelangen und ihren Familien schaden könnten. „Das legt sich erst langsam im Laufe der Therapie, wenn sich die Menschen sicher und geborgen fühlen“.

„Niemand verlässt seine Heimat freiwillig.“ 

Einigen Patienten der Tagesklinik droht die Abschiebung, da ihre Herkunftsländer als sicher eingestuft wurden: „Wer schwere Gewalt und Krieg erlebt hat, will nicht zurück, obwohl der oder diejenige sich hier absolut entwurzelt fühlt. Diese Belastung, die dann unser gesamtes Team miterlebt, ist schwer zu ertragen. Man kann es kaum deutlicher machen: Niemand verlässt seine Heimat freiwillig“, sagt Dechering.

Die Leiterin der Transkulturellen Tagesklinik betont, dass insbesondere die Vorbehalte gegenüber der psychotherapeutischen Behandlung von Migranten und Geflüchteten ausgeräumt werden müssen. „Die Thematik sollte ganz klar in die psychotherapeutische und die medizinische Ausbildung aufgenommen werden und nicht nur als Zusatzausbildung wählbar sein.“ 

Dafür spricht sich auch Ljiljana Joksimovic aus und formuliert weiteren Handlungsbedarf: „Es muss uns gelingen, die Gesellschaft weiter zu sensibilisieren und geeignete Räume zu schaffen für die Behandlung psychischer Erkrankungen von Migrantinnen und Migranten“, sagt die Therapeutin. „Wir müssen die alles verzerrende Kulturbrille absetzen, und begreifen, dass Menschen Individuen sind.“

Mamma-Mia-Syndrom/Morbus Mediterraneus (Mittelmeersyndrom)/Morbus Balkan:

Hinter diesen medizinisch klingenden Begriffen verbergen sich Vorurteile, die manche Ärztinnen und Ärzte sowie Angehörige anderer Gesundheitsberufe gegenüber Menschen mit Migrationshintergrund und People of Color hegen. Betroffenen Patientinnen und Patienten wird zum Beispiel unterstellt, sie jammerten über nicht-existierende Schmerzen. Frauen sind von dieser abwertenden Stigmatisierung häufiger betroffen als Männer.