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21.01.2021 Seite 23
RAE Ausgabe 2/2021

Rheinisches Ärzteblatt

Heft 2/2021

Seite 23

Jawahir Cumar, Gründerin und Geschäftsführerin von stop mutilation e.V.: Ärztinnen und Ärzte mit spezifischem Wissen und transkultureller Kompetenz können einen Beitrag zur Überwindung von FGM in Deutschland leisten. © privat
Aufgrund stärkerer globaler Flucht- und Wanderungsbewegungen ist Female Genital Mutilation/Cutting (FGM/C) auch in Deutschland ein Thema. Auf einer Fortbildung des IQN zur „Weiblichen Genitalbeschneidung“ wurde deutlich, dass immer mehr Ärztinnen und Ärzte mit Patientinnen konfrontiert werden, die eine weibliche Genitalbeschneidung erlitten haben.

von Sabine Schindler-Marlow

Knapp 160 Ärztinnen und Ärzte haben sich Anfang Dezember bei einer Online-Fortbildung des Instituts für Qualität im Gesundheitswesen Nordrhein (IQN) über ein in Deutschland noch weitgehend tabuisiertes Thema informiert: die in etwa 30 Ländern der Welt verbreitete Praxis der weiblichen Genitalbeschneidung.

Die Wortwahl „weibliche Genitalbeschneidung“ sei von den Veranstaltern und Referenten für die Fortbildung gewählt worden, um im Gegensatz zum Ausdruck „weibliche Genitalverstümmelung“ nicht sprachlich einen zusätzlichen Beitrag zur Stigmatisierung betroffener Frauen zu leisten, erklärte Günter Haverkamp von der Aktion Weißes Friedensband e.V., Düsseldorf. Zumal sich viele betroffene Frauen selbst nicht als verstümmelt erleben und sich vor dem Hintergrund ihrer Traditionen umgekehrt nicht vorstellen können, dass es unbeschnittene Frauen gibt. Gleichwohl sei aber klar, dass der Ausdruck „weibliche Genitalverstümmelung“ die Irreversibilität und Schwere des Eingriffs besser wiedergebe und auch in den offiziellen Dokumenten der Vereinten Nationen gebraucht werde. Unter weiblicher Genitalverstümmelung verstehe die WHO „alle Verfahren, die die teilweise oder vollständige Entfernung der weiblichen äußeren Genitalien oder deren Verletzung aus nicht medizinischen Gründen involvieren“.

Rund 200 Millionen Frauen leben weltweit mit den Folgen einer Genitalbeschneidung, berichtete Haverkamp. Neu hinzu kämen jährlich vier Millionen Mädchen. Man müsse sich bewusst machen, dass in einigen afrikanischen und asiatischen Ländern weit über 80 Prozent der Frauen beschnitten seien. In Deutschland sei die Zahl genitalbeschnittener Frauen, so Haverkamp, seit 2017 durch Flucht und Migration stark angestiegen. Exakte Zahlen gebe es nicht, doch Schätzungen zufolge seien über 70.000 Frauen in Deutschland betroffen und rund 20.000 Mädchen, die in Deutschland leben, von weiblicher Genitalbeschneidung bedroht. Für Nordrhein-Westfalen gehe man von rund 15.000 betroffenen Frauen und rund 4.700 gefährdeten Mädchen aus. Frauen, die in NRW leben und von Beschneidung betroffen sind, kommen zumeist aus Eritrea, Indonesien, Ägypten, Somalia und Guinea. In Nordrhein-Westfalen lebende Mädchen, die von Beschneidung bedroht sind, kommen überwiegend aus einigen Regionen im Irak, Eritrea, Ägypten und Nigeria. Für Haverkamp ist es wichtig, dass Ärztinnen und Ärzte Verbreitungsgrad und Herkunftsländer im Kopf haben, weil diese einen Hinweis auf möglichen Hilfebedarf der Frauen und Mädchen in den Praxen darstellen können.
Der Eingriff gilt, so Haverkamp, als schwere Menschenrechtsverletzung und ist in Deutschland nach Strafgesetzbuch §§ 223, 224 und 226a verboten und erfüllt den Tatbestand der schweren Körperverletzung.  Weibliche Genitalbeschneidung wird in Deutschland mit einem Strafmaß von bis zu 15 Jahren Haft geahndet, auch wenn die Tat im Ausland begangen worden ist.
Jawahir Cumar vom Düsseldorfer Verein „stop mutilation e.V.“, selbst aus Somalia stammend, erklärt soziokulturelle Hintergründe der Beschneidung. Der Ursprung der Tradition sei weitgehend unbekannt und lasse sich auch keiner Religion im Besonderen zuschreiben, wenngleich religiöse Motive zu ihrer Rechtfertigung herangezogen werden.

In vielen Gebieten der Welt sei FGM eher eine Art Initiationsritual – nur beschnittene Frauen gelten als heiratsfähig und entsprechen dem erwarteten Schönheitsideal. Wer nicht beschnitten sei, gehöre nicht dazu, werde ausgegrenzt und sozial isoliert. Auch verfolge das Ritual das Ziel, Frauen vor ihrer eigenen Sexualität zu „schützen“, indem diese kein Interesse an Sexualität entwickeln und somit dem Ehemann Treue bewahren.

Überwiegend erfolgten in den Prävalenzländern die Beschneidungen durch alte Frauen, sogenannten Beschneiderinnen, die als Hüterinnen der Tradition aus sogenannter Fürsorge Beschneidungen aktiv durchführten, so Cumar. Hüterinnen der Tradition sind nicht nur die Beschneiderinnen, sondern auch die Großmütter, die dafür sorgen, dass diese Tradition erhalten bleibt. Auch heute noch würden für Beschneidungen Rasierklingen, Glasscherben, Messer oder Konservendeckel verwandt. Durch schlechte hygienische Verhältnisse, ungeeignete Instrumente und mangelndes anatomisches Wissen werde Frauen und Mädchen zusätzlicher Schaden zugefügt. In manchen Ländern nehmen vermehrt Hebammen, aber auch Ärztinnen und Ärzte weibliche Genitalbeschneidungen vor. Hoffnung, diese Traditionen zu durchbrechen, gebe es, weil immer mehr Aktivistinnen in den Prävalenzländern durch Aufklärung und Information Einfluss nähmen und sowohl Männer als auch Frauen über die schweren körperlichen Schäden von FGM aufklärten. 
 

Gemäß der derzeitigen international gebräuchlichen Klassifikation der WHO würden vier Formen von FGM (Typ I – IV, siehe Kasten) unterschieden, sagte Dr. Christoph Zerm, Frauenarzt, früherer langjähriger Chefarzt der Frauenklinik des Gemeinschaftskrankenhauses Herdecke. Schätzungen gingen davon aus, dass rund 80 Prozent der betroffenen Frauen unter die Typen I und II fallen. Von der Infibulation oder der sogenannten „pharaonischen Beschneidung“ seien etwa 15 Prozent der rund 200 Millionen beschnittenen Frauen weltweit betroffen, erklärte der Gynäkologe. Häufig führten die Eingriffe zu starken Blutungen, Infektionen und später zu Zysten und Totgeburten.

Privatdozent Dr. Dan mon O’Dey, Facharzt für Plastische und Ästhetische Chirurgie und Handchirurgie, Chefarzt der Klinik für Plastische, Rekonstruktive und Ästhetische Chirurgie, Handchirurgie, Zentrum für Rekonstruktive Chirurgie weiblicher Geschlechtsmerkmale am Luisenhospital Aachen, stellte neue und eigens entwickelte Operationstechniken zur plastischen Rekonstruktion des äußeren weiblichen Genitals vor. Dabei sei das Ziel der Eingriffe, über eine anatomische Rekonstruktion von Form und Funktion des äußeren weiblichen Genitals eine Beschwerdefreiheit und genitale Integrität zu erreichen. Die Techniken umfassen insbesondere eine Rekonstruktion der klitoralen Vorhaut (OD-flap), eine mikrochirurgische Rekonstruktion der Klitorisspitze (NMCS-Procedure) und eine Rekonstruktion des Scheideneingangs und/oder der Schamlippen (aOAP-flap). Darüber hinaus beinhalten die Eingriffe bei FGM/C-Patientinnen auch Rekonstruktionen sekundärer Veränderungen wie Klitoriszysten oder Verletzungen nach sexuellem Missbrauch und/oder Geburtstraumen des äußeren Genitals (zum Beispiel Damm-/Vulva-/Scheidenrisse).

Christiane Thiele, Kinder- und Jugendärztin in Viersen und Vorsitzende des Berufsverbandes der Kinder- und Jugendärzte in Nordrhein wies darauf hin, dass alle Ärztinnen und Ärzte Wissen darüber benötigten, was FGM für Frauen und Mädchen physisch und psychisch bedeute und wie sie in ihrer Praxis professionell mit Präventions- und Behandlungsnotwendigkeiten umgehen können. Um Töchter betroffener Frauen hier in Deutschland zu schützen, sollten Präventionsgespräche geführt werden, in denen behutsam die medizinischen Folgen der Beschneidung dargestellt und die eigene Haltung zu FGM angesprochen werden kann. Auch sollten Ärztinnen und Ärzte nicht tatenlos zusehen, wenn sie Kenntnis davon erhalten, dass ein Mädchen aufgrund eines bevorstehenden Heimaturlaubs akut von Beschneidung bedroht ist. In der Abwägung zwischen Meldepflicht und Schweigepflicht müsse das Kindeswohl an erster Stelle stehen, so Thiele.

Typen der Beschneidung nach WHO-Definition

Typ 1: Partielle oder vollständige Entfernung der Klitoris (Glans clitoridis) und/oder der Klitorisvorhaut (Clitoridektomie)
Typ II: Partielle oder vollständige Entfernung der Klitoris (Glans clitoridis) und der kleinen Schamlippen, mit oder ohne Entfernung der großen Schamlippen (Exzision) 
Typ III: Verengung der vaginalen Öffnung mit Bildung eines bedeckenden Verschlusses, indem die inneren und/oder die äußeren Labien anteilig oder subtotal abgeschnitten und zusammengefügt werden, mit oder ohne Entfernung der Klitoris (Infibulation oder „pharaonische Beschneidung“) 
Typ IV: Alle anderen schädigenden Eingriffe, die die weiblichen Genitalien verletzen und keinem medizinischen Zweck dienen