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Post-COVID: Der bittere Nachgeschmack der Pandemie

22.04.2021 Seite 27
RAE Ausgabe 5/2021

Rheinisches Ärzteblatt

Heft 5/2021

Seite 27

Rund 2,2 Millionen Menschen gelten in Deutschland aktuell als von COVID-19 genesen. Die Erkenntnisse aus Medizin und Wissenschaft nach einem Jahr zeigen allerdings, dass eine überstandene Infektion bei einigen Patientinnen und Patienten zum sogenannten Long-Covid-Syndrom führen kann. Für Ärztinnen und Ärzte ist es nicht immer einfach, die Symptome klar zu differenzieren.

von Sabine Mewes und Martina Levartz

„Es hat sich gezeigt, dass nach der augenscheinlich überstandenen Akutphase der Infektion Symptome und Beschwerden weiterhin persistieren und die Funktionen verschiedener Organe beeinträchtigt sein können, und dies mehrere Wochen oder sogar Monate nach der Erkrankung“, erklärte der Präsident der Ärztekammer Nordrhein, Rudolf Henke, bei einer Fortbildung des Instituts für Qualität im Gesundheitswesen Nordrhein (IQN) zum Long-Covid-Syndrom Anfang März. Mehr als 1.000 Teilnehmerinnen und Teilnehmer hatten sich bei der digitalen Veranstaltung registriert.

Aufgrund der Neuartigkeit des Krankheitsbildes und der unterschiedlichen klinischen Präsentationen existiert noch keine einheitliche Definition für die Langzeitfolgen. Bereits im vergangenen Frühsommer gab es erste Hinweise darauf, dass auch ohne schwere Lungenschädigung durch eine vom Virus hervorgerufene Pneumonie bleibende Einschränkungen der Lungenfunktion auftreten können. Patientinnen und Patienten berichteten über Kurzatmigkeit und Luftnot, nachdem sie nachweislich nicht mehr infiziert waren. Man weiß mittlerweile, dass es sich bei COVID-19 um eine systemische Erkrankung handelt und sich das SARS-CoV-2-Virus in mehreren Organsystemen manifestieren kann. Daher sind auch bei milderen Verläufen Langzeitbeschwerden möglich. Neben den persistierenden Beschwerden und Organschäden können die Auswirkungen der Erkrankung auch eine psychische Beeinträchtigung der Betroffenen, wie Ängste, Depressionen oder eine Traumafolgesymptomatik, nach sich ziehen.

Deshalb gelten chronische Müdigkeitserscheinungen, Erschöpfung und Fatigue, Palpitationen, neurologische Ausfälle und Gedächtnisprobleme, Merk- und Wortfindungsstörungen sowie klinische Hinweise auf Thrombosen oder Sekundärinfektionen als COVID-19-verdächtig. In der Literatur wird auch von ungewöhnlichen Symptomen wie plötzlichem Erbrechen und starkem Schwindel berichtet. 

Nach COVID ist vor COVID

Dr. Magarethe Konik, Oberärztin der Klinik für Infektiologie der Universitätsmedizin Essen, behandelt Patientinnen und Patienten mit Long-Covid-Syndrom in ihrer Post-COVID-19-Ambulanz. „Wir haben bis Januar 2021 rund 200 Patientinnen und Patienten im Alter zwischen 19 und 86 Jahren mit anhaltender Symptomatik betreut. Die am häufigsten angegebenen Symptome waren, unabhängig vom Alter: Leistungsminderung, Dyspnoe und Müdigkeit.“ Bei der Auswertung der psychologischen Begleitevaluation zeigte sich laut der Oberärztin zudem bei zwölf Prozent der untersuchten Patienten eine moderate bis schwere Depression. Wichtig sei in diesem Zusammenhang, die Patienten gut über die Beschwerden aufzuklären und ihnen mögliche Ängste zu nehmen. „Viele der beklagten Symptome scheinen im Laufe der Monate rückläufig zu sein. Es ist aber sicher wichtig, eine Strategie zum Umgang mit den Langzeitfolgen der COVID-19 Erkrankung zu entwickeln“, erklärte Konik.

 

„Für die behandelnden Ärzte ist es schwierig, die unspezifischen Symptome der Patienten zweifelsfrei der COVID-19 Erkrankung zuzuordnen“, sagte Dr. Carsten König, stellvertretender Vorstandsvorsitzender der Kassenärztlichen Vereinigung Nordrhein und Hausarzt in Düsseldorf. Häufige Symptome seien Brust- und Atembeschwerden, Beschwerden im Rachenraum, wiederkehrend erhöhte Körpertemperatur, anhaltende Erschöpfungszustände beziehungsweise Leistungsminderung. „Es zeigt sich eine Palette verschiedenster Symptome, die manchmal auf eine falsche Fährte locken. Verlässliche repräsentative Daten fehlen bislang ebenso wie therapeutische Optionen, die angeboten werden können, da muss noch etwas kommen“, sagte König. Für Ärztinnen und Ärzte bedeute dies, dass sie noch intensiver auf die Beschreibungen ihrer Patienten eingehen und eine genaue Anamnese erstellen müssen, um Ängste abbauen zu können. Eine Analyse der Daten von 10.000 Versicherten der Deutschen Krankenversicherung, die eine COVID-19 Erkrankung durchgemacht hatten, ergab König zufolge eine 50-prozentige Steigerung der Leistungsausgaben, wobei 20 Prozent dieser Patienten in den drei Jahren zuvor keinerlei gesundheitliche Einschränkungen hatten. „Dies zeigt auch die eminente wirtschaftliche Bedeutung, die die COVID-19 Erkrankung für die Patienten beziehungsweise für das Gesundheitssystem darstellt.“

Beschwerden von A bis Z

Dr. Frank Bergmann, Vorstandsvorsitzender der Kassenärztlichen Vereinigung Nordrhein und niedergelassener Neurologe in Aachen, hob die neurologischen Folgeerkrankungen nach überstandener COVID-19 Erkrankung hervor. „Nicht selten ist das zentrale Nervensystem betroffen. Die Folgen reichen von einem monatelang andauernden Fatigue-Syndrom über neurologische Ausfallerscheinungen bis hin zu vaskulären Schäden. Das müssen Ärzte in Zukunft bei Patienten nach durchgemachter COVID-19 Erkrankung intensiver beobachten“, so der Neurologe.

„Eine S1-Leitlinie ‚Neurologische Manifestationen bei COVID-19 Erkrankung‘ wurde bereits veröffentlicht und stellt eine solide Unterstützung dar“, sagte Professor Dr. Philipp Albrecht, Oberarzt in der Klinik für Neurologie des Universitätsklinikums Düsseldorf. Er stellte Fallbespiele aus seiner klinischen Tätigkeit in der Behandlung von COVID-19 Erkrankten vor, die das weite Spektrum neurologischer Komplikationen aufzeigen. Enzephalopathien (Delirium), inflammatorische ZNS-Syndrome (para- oder postinfektiöse Enzephalitis/Myelitis), ischämische Schlaganfälle, periphere neurologische Erkrankungen (GBS, Miller Fisher, Hirnnervenausfälle), wurden laut Albrecht immer wieder beobachtet.

Dr. Heinz-Wilhelm Esser, Oberarzt der Abteilung Pneumologie des Sana Klinikums in Remscheid, bekannt als Doc Esser aus der gleichnamigen WDR-Sendung, stellte zwei Studien über die kardialen und pulmonalen Auswirkungen der COVID-19-Erkrankung vor: Bei einer Untersuchung im chinesischen Wuhan (Chaolin Huang, MD*Lixue Huang, MD*Yeing Wang, MD*Xia Li, MD*Lili Ren, PhD*Xiaoying Gu, PhD*et al.) zeigte sich, so Esser, dass nach sechs Monaten noch 75 Prozent der Patientinnen und Patienten, die COVID-19 überstanden hatten, zumindest ein Symptom als Spätfolge der durchgemachten Erkrankung aufwiesen. Eine weitere Studie aus Frankfurt (Valentina O. Puntmann, MD, PhD;M. Ludovica Carerj, MD; Imke Wieters, MD; et al.), die weitgehend bei Patienten mit einem leichten Verlauf durchgeführt wurde, zeigte sich, dass 60 Prozent der Patienten zu diesem Zeitpunkt noch Anzeichen für eine myokardiale Inflammation aufwiesen.

Belastbarkeit beeinträchtigt

„Die COVID-19-Erkrankung ist ein komplexer Prozess“, sagte Professor Dr. Wilhelm Bloch, der am Institut für Kreislaufforschung und Sportmedizin, Molekulare und Zelluläre Sportmedizin der Deutschen Sporthochschule in Köln forscht. „Das Krankheitsgeschehen wird durch die Eintrittspforte der ACE2-Rezeptoren (Enzym) gesteuert. Die Blockade der ACE2-Rezeptoren verändert dann das Renin-Angiotensin-System. Dies führt zu Unterstützung von Entzündungsprozessen, Bildung von Sauerstoffradikalen, Vasokonstriktion und Thrombosen“, erläuterte der Sportwissenschaftler. Da ACE2-Rezeptoren in vielen Geweben des menschlichen Körpers zu finden sind, erklärt sich laut Bloch auch der Befall der multiplen Organe. „Dass sich besonders bei adipösen Patienten schwere Krankheitsverläufe zeigen, hat mit der starken Exprimierung der ACE2-Rezeptoren auf den Adipozyten zu tun.“ Auch die Blutgruppen scheinen eine Bedeutung für die Erkrankungsschwere zu haben. So zeigten sich bei der Blutgruppe AB häufiger schwerere Verläufe. Auch bei symptomarmem oder sogar symptomfreiem Verlauf der Infektion zeigten sich oft Mikroläsionen im Herzen. Eine Studie aus den USA lege dar, dass sich bei 15 Prozent der Collegestudenten mit asymptomatischem oder symptomarmem Verlauf eine Herzbeteiligung zeigte. „Deshalb sollten Sportler auch dann eine Trainingspause von mindestens 14 Tagen einlegen und danach vorsichtiger und dosierter trainieren“, sagte Bloch.

Untersuchungen zeigten, dass auch drei Monate nach einer COVID-19-Erkrankung die Erythrozyten ein reduziertes korpuskuläres Volumen aufzeigten, was mit einer Links-Verschiebung der Sauerstoffbindungskurve einhergehe. Dies führe zu einer schlechteren Abgabe des Sauerstoffs und einer Verschiebung zum anaeroben Metabolismus bei Belastung. 

Dr. Sabine Mewes ist ärztliche Referentin im Institut für Qualität im Gesundheitswesen Nordrhein (IQN)
Dr. Martina Levartz, MPH, ist Geschäftsführerin des Instituts für Qualität im Gesundheitswesen Nordrhein (IQN)