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Umweltmedizin in Nordrhein-Westfalen – Bestandsaufnahme und Bedarfsanalyse

25.11.2022 Seite 35
RAE Ausgabe 12/2022

Rheinisches Ärzteblatt

Heft 12/2022

Noch ist die umweltmedizinische Versorgung der Patientinnen und Patienten in NRW gesichert. Für die Zukunft trifft das aber nicht mehr zu. Das ist das Ergebnis einer Studie im Auftrag des NRW-Umweltministeriums. Die Gründe: Gut 70 Prozent der niedergelassenen Umweltmediziner sind über 60 Jahre alt und die Rahmenbedingungen in der klinischen Umweltmedizin sind wenig attraktiv.

von Ricarda Sahl-Wenzel, Sylke Termath und Stefanie Esper


Zahlreiche Umweltfaktoren wirken auf die menschliche Gesundheit ein und können das Auftreten von Gesundheitsstörungen begünstigen, diese verursachen oder bestehende verstärken. Die Umweltmedizin als interdisziplinäres Fachgebiet befasst sich mit den gesundheits- und krankheitsbestimmenden Aspekten der Mensch-Umwelt-Beziehung. Sie umfasst Arbeitsbereiche des öffentlichen Gesundheitsdienstes (ÖGD) mit dem bevölkerungsbezogenen präventiven Ansatz sowie die individuelle umweltmedizinische Beratung und Behandlung insbesondere durch die niedergelassene Ärzteschaft. Ein weiteres Standbein sind umweltmedizinische Institute an Universitäten, teilweise mit umweltmedizinischen Ambulanzen und Forschungseinrichtungen.

Sinkendes Angebot

Das Angebot an umweltmedizinischer Fachkompetenz ist in den letzten 20 Jahren bundesweit zurückgegangen. Bereits im Jahr 2017 thematisierten die Ärztekammern Nordrhein und Westfalen-Lippe sowie der ÖGD NRW gegenüber dem Umweltministerium NRW – in seiner Funktion als oberste Landesbehörde für die Umweltmedizin im ÖGD in NRW – den Handlungsbedarf zur Sicherstellung der umweltmedizinischen Kompetenz.

 

Um ein aktuelles Bild zu erhalten, hat das Umweltministerium NRW 2020 über ein Ausschreibungs- und Auswahlverfahren nach den Vergaberichtlinien des Landes NRW eine Studie zur Bestandsaufnahme und Bedarfsermittlung zur Umweltmedizin in NRW in Auftrag gegeben. Die Studie wurde von einem Expertengremium aus Vertreterinnen der Ärztekammern Nordrhein und Westfalen-Lippe, einem Vertreter a.D. aus dem ÖGD, einer Fachärztin für Umweltmedizin und dem Landesamt für Natur, Umwelt und Verbraucherschutz NRW begleitet.

 

Kern der explorativen Studie war eine Befragung von niedergelassenen Ärztinnen und Ärzten der Fachrichtung Umweltmedizin und anderer potenziell umweltmedizinisch relevanter Fachrichtungen, Gesundheitsämtern, Krankenhäusern und Universitätskliniken, Universitäten, Hochschulen sowie umweltmedizinischen Ambulanzen und Beratungsstellen in NRW. Von insgesamt 6.590 Angefragten haben 893 an der Studie teilgenommen. Schlaglichter aus der Befragung sind: Zum Alter und zum Qualifizierungszeitpunkt der Ärzteschaft: 97 Prozent der teilnehmenden niedergelassenen Umweltmediziner haben angegeben, älter als 50 Jahre zu sein und 74 Prozent älter 60 Jahre. Im Vergleich dazu gaben von den befragten niedergelassenen Ärztinnen und Ärzten anderer Fachrichtungen 89 Prozent an, älter als 50 Jahre zu sein und 45 Prozent älter 60 Jahre. Der Zeitpunkt des Erwerbs der Fachqualifikation für Umweltmedizin lag überwiegend in den 1990er-Jahren.

 

Zur Einschätzung der Versorgungslage: Die befragten Umweltmediziner schätzen die Versorgungslage in der klinischen Umweltmedizin in NRW überwiegend als schlecht ein. Die befragte Ärzteschaft anderer Fachrichtungen hat die Frage, inwieweit personelle und zeitliche Ressourcen für umweltmedizinische Behandlungen ausreichen, überwiegend mit selten oder gelegentlich beantwortet. Gründe für die Kontaktaufnahme durch Patienten: Die befragten Ärztinnen und Ärzte haben als häufigste Gründe für die Kontaktaufnahme durch Patienten insbesondere Innenraumluft, Raumklima, Ernährung und Feinstaub genannt, gefolgt von elektromagnetischen Feldern, Schwermetallen und Lösungsmitteln. Von den Gesundheitsämtern wurden Trinkwasser, Innenraumschadstoffe und Luftqualität benannt. Die Zahl der Patienten, die umweltmedizinische Beratung suchen, wurde von den Befragten aller Fachrichtungen als eher steigend wahrgenommen.

Berufsbild und Ausbildung stärken

Das Expertengremium hat die Studie ausgewertet und Kernaussagen und Bedarfe abgeleitet. Zu den wesentlichen Punkten gehört, dass die umweltmedizinische Versorgung derzeit zwar gesichert ist, dies für die Zukunft aber nicht mehr zutrifft. Gründe hierfür sind die Altersstruktur der Fachärzteschaft in Verbindung mit der überwiegenden Einschätzung, dass die Rahmenbedingungen für die Klinische Umweltmedizin „Hygiene und Umweltmedizin“ als wenig attraktiv angesehen werden. Für die langfristige Sicherstellung der umweltmedizinischen Kompetenz und Versorgung in NRW müssen nach Ansicht des Expertengremiums das Berufsbild und die Ausbildung in der Umweltmedizin gestärkt und die Zahl an Fachärztinnen und Fachärzten für Hygiene und Umweltmedizin erhöht werden. Dazu gehört nach Einschätzung des Expertengremiums ebenso eine adäquate Vergütung umweltmedizinischer Leistungen, unter anderem um sicherzustellen, dass ausreichend Zeit zur Behandlung bleibt. Ferner bedarf es der Förderung der Fort- und Weiterbildung im Bereich der Klinischen Umweltmedizin. Im ÖGD muss ausreichend umweltmedizinisch qualifiziertes Personal vorhanden sein. Sowohl für den Bereich der klinischen Umweltmedizin als auch für das Öffentliche Gesundheitswesen bedarf es der Bereitstellung qualifizierter Fachinformationen und der langfristigen Sicherstellung eines fachlichen Netzwerks. Wichtig sind zudem aktuelle, verlässliche Informationen über umweltmedizinisch tätige Ärztinnen und Ärzte sowie umweltmedizinische Ambulanzen und Beratungsstellen in NRW.

Ricarda Sahl-Wenzel ist Referentin „Umwelt und Gesundheit“ und Dr. Sylke Termath Referatsleiterin im Referat V-6 „Umwelt und Gesundheit, Umweltradioaktivität“ im Umweltministerium NRW.


Stefanie Esper, M.A., ist Referentin im Ressort „Medizinische Grundsatzfragen“ der Ärztekammer Nordrhein.