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Kinderschutz ist auch Familienschutz

21.06.2022 Seite 25
RAE Ausgabe 7/2022

Rheinisches Ärzteblatt

Heft 7/2022

Seite 25

Häusliche Gewalt hat viele Gesichter. Meist werden vor allem körperliche und sexualisierte Gewalt darunter verstanden. Aber auch soziale Gewalt, das Abschieben von Verantwortung, die Instrumentalisierung von Kindern, ökonomische und psychische Gewalt oder Stalking sind Formen häuslicher Gewalt. 

von Sabine Mewes und Martina Levartz

Bei einem Verdacht auf häusliche Gewalt sei es wichtig, auf das eigene Bauchgefühl zu hören, erklärte Professorin Dr. Sibylle Banaschak. Die Leitende Oberärztin am Institut für Rechtsmedizin des Uniklinikums Köln und Leiterin des Kompetenzzentrums Kinderschutz im Gesundheitswesen NRW (KKG) referierte Mitte Mai bei der 5. Digitalen Fortbildung des IQN in der Reihe „Gewalt gegen Kinder und Jugendliche erkennen und richtig handeln“. 

Typische Verletzungen

Fallen Verletzungen auf, die von typischen unfallbedingten Lokalisationen abweichen, sollten Ärztinnen und Ärzte eine Ganzkörperuntersuchung anbieten, so Banaschak. Das Augenmerk sollte auch auf Widerlagerverletzungen zum Beispiel am Rücken liegen, bei Gewaltspuren am Hals sollte immer auch nach Petechien im Gesicht gesucht werden. Lehnten die Betroffenen eine Ganzkörperuntersuchung ab beziehungsweise nähmen bestimmte Körperregionen aus, sollte dies unbedingt dokumentiert werden, riet Banaschak.

„Gewalt hört nicht von selber auf, medizinisch ausgedrückt ist es eine chronische Erkrankung“, erläuterte die Rechtsmedizinerin. Ein regelrechter Zyklus von Zuschlagen, Entsetzen, Reue, neuer Verliebtheit beziehungsweise Zuwendung, Schuld und Spannung entlade sich immer wieder in erneuter Gewalt. Ein Ausweg aus dem Kreislauf ohne Hilfe von außen ist nach Ansicht der Expertin schwierig. Umso wichtiger sei es, dass medizinisches Personal Betroffene anspreche, dass die Verletzungen durch Gewalt wahrgenommen würden und dass verbalisiert werde, dass so etwas nicht in Ordnung sei (siehe Kasten „Was Ärzte tun können“). Dabei werde Gewalt in Paarbeziehungen oft ausgelöst durch eine Änderung in der Beziehung, zum Beispiel durch eine Schwangerschaft. In 81 Prozent der Fälle seien die Opfer Frauen.
Einig waren sich die Experten bei der Fortbildung, dass das Thema Stalking, das häufig nicht ernst genommen werde, mehr Beachtung finden müsse. In Extremfällen gehe Stalking Tötungsdelikten voraus oder es würden Drohungen in die Tat umgesetzt. In solchen Fällen sei es dringend geboten, mit den Betroffenen über Schutzmaßnahmen zu sprechen. Unterstützung für Opfer und Gesundheitsberufe bietet zum Beispiel das Hilfetelefon Gewalt gegen Frauen (siehe Kasten „Hilfe für Opfer von Gewalt“). 
 

Untersuchung und Dokumentation: 

  • umfänglich 
  • von Kopf bis Fuß (sofern dies vom Betroffenen akzeptiert wird)
  • präzise
  • jederzeit nachvollziehbar
  • mit Fotos des Wesentlichen
  • Größenmaßstab und Farbskala etc. verwenden
  • sorgfältige (Foto-)Dokumentation aller Verletzungen (nicht nur derjenigen, die medizinisch versorgt werden müssen)
Anforderungen an die Dokumentation

Wichtig für die Opfer von Gewalttaten sei die richtige Dokumentation von Verletzungen, erklärte Dr. Britta Gahr, Bereichsleiterin der Rechtsmedizinischen Ambulanz des Instituts für Rechtsmedizin im Universitätsklinikum Düsseldorf, die die Fortbildungsveranstaltung moderierte. Die Untersuchung von Gewaltopfern koste zwar viel Zeit, sei aber eine sinnvolle Aufgabe, weil sie viel bewirken und den Betroffenen im weiteren Verlauf zum Beispiel im Rahmen der Strafverfolgung helfen könne. „Gewaltopferuntersuchungen sind ein medizinischer Notfall“, so Gahr (siehe Kasten „Untersuchung und Dokumentation“). 

Manchmal seien es kleine, nicht versorgungspflichtige Verletzungen, die später in der Beurteilung des Vorfalls relevant seien und wichtige Hinweise geben könnten. Die Untersuchung und Dokumentation solle bei jedem Verdacht, sofort oder nur mit kurzer Verzögerung und gerichtsfest erfolgen. Lehnten die Betroffenen eine Untersuchung ab, müsse dies dokumentiert werden. 

In der Dokumentation nur von einer „Prellmarke“ zu sprechen, reiche nicht aus. Gerichtsfest bedeutet Gahr zufolge, dass die folgenden Fragen anhand der Dokumentation nachvollziehbar dargestellt sind:

  • Was für eine Verletzung liegt vor? (Art, Größe, Lokalisation und Form der Verletzung)
  • Wann ist sie entstanden? (falls dies möglich ist)
  • Wie gefährlich ist sie? 

Das Universitätsklinikum Düsseldorf und die Fachhochschule Dortmund haben ein webbasiertes, schnell erlernbares Dokumentationssystem und Informationsportal mit dem Namen „iGOBSIS“ (Intelligentes Gewaltopfer-BeweisSicherungs- und Informations-System) entwickelt, das unter anderem eine rechtsmedizinische „on-demand“-Beratung anbietet. Die zugehörige Website fasst unter www.gobsis.de/anleitungen die ärztlichen Aufgaben im Rahmen von Gewaltopferuntersuchungen kompakt zusammen.

Ärztliche Schweigepflicht

Sämtliche ärztliche Bescheinigungen und auch die Dokumentation könnten Eingang bei Gerichtsverhandlungen finden, betonte Katharina Eibl, Fachanwältin für Medizinrecht und Fachanwältin für Familienrecht, Referentin in der Rechtsabteilung der Ärztekammer Nordrhein. Darüber müssten sich dokumentierende Ärztinnen und Ärzte im Klaren sein und dementsprechend objektive Befunde erheben und nicht Partei ergreifen. Eibl wies darauf hin, dass sich Ärzte in Einzelfallfragen von der Rechtsabteilung der Ärztekammer auch ohne Nennung von Namen der Täter und Opfer juristisch beraten lassen können.

Heikel sei in manchen Fällen die Frage der arztlichen Schweigepflicht. Eibl zufolge gibt es verschiedene Situationen, in denen Ärztinnen und Ärzte von der Schweigepflicht entbunden werden können. Am einfachsten sei es, wenn die Patienten dem zustimmten. Dabei sei nicht zwingend eine schriftliche Erklärung notwendig, auch eine mündliche Schweigepflichtentbindung sei wirksam. Eine schriftliche Bestätigung durch die Patientinnen und Patienten sei aber in jedem Fall ratsam.

Auch im Fall eines rechtfertigenden Notstandes (§ 34 StGB) seien Ärztinnen und Ärzte nicht an die Schweigepflicht gebunden. Dabei gelte es, zwischen widerstreitenden Interessen abzuwägen: dem Interesse an körperlicher Unversehrtheit und dem Vertrauen in die ärztliche Verschwiegenheit. Nur wenn eine nicht anders abwendbare gegenwärtige (nicht zurückliegende) Gefahr für Leib, Leben, Freiheit oder Eigentum oder eine akute Wiederholungsgefahr bestehe, könne die Schweigepflicht gebrochen werden. Bei erwachsenen Patienten sollte dies bevorzugt im Einvernehmen beziehungsweise durch die Patienten selbst erfolgen, riet Eibl. Aus einer solchen Notlage ergebe sich eine Offenbarungsbefugnis, aber keine Verpflichtung, betonte die Juristin.

Wenn Ärztinnen und Ärzte beispielsweise Fälle von häuslicher Gewalt erkennen, in denen Kinder durch das Miterleben von Partnerschaftsgewalt indirekt betroffen sind, liege nicht immer eine Kindeswohlgefährdung vor, aber in jedem Fall seien darin „gewichtige Anhaltspunkte für die Gefährdung des Wohls eines Kindes“ zu sehen. Eine Datenweitergabe an das Jugendamt wäre entsprechend § 4 KKG (Bundeskinderschutzgesetz) erlaubt.

Sind Ärztinnen und Ärzte von Opferseite als sachverständige Zeugen in Gerichtsverfahren benannt, ist davon auszugehen, dass die Entbindung von der ärztlichen Schweigepflicht schon in der Gerichtsakte vermerkt ist. Bei Zweifeln, so Eibl, könnten die Ärzte den Richter oder die Richterin fragen, deren Auskunft in dem Verfahren verbindlich sei. Anders sei dies bei Polizeianfragen, denn das Strafverfolgungsinteresse des Staates allein rechtfertige nicht den Bruch der Schweigepflicht, erklärte die Juristin.

Forderten betroffene Patienten die medizinische Dokumentation an, müssten Ärztinnen und Ärzte Einsicht gewähren oder gegen Kostenerstattung Kopien herausgeben. Die Originale der Patientendokumentation seien im Rahmen einer zehnjährigen Aufbewahrungsfrist zu archivieren.
 

Hilfe für Opfer von Gewalt

Das Hilfetelefon „Gewalt gegen Frauen“ ist ein bundesweites Beratungsangebot für Frauen, die Gewalt erlebt haben oder noch erleben. Unter der Telefonnummer 08000 116 016 ist das Angebot rund um die Uhr erreichbar.

Auch die Nummer gegen Kummer (Elterntelefon: 08001 110 550, Kinder und Jugendtelefon: 116 111) berät anonym und kostenfrei.
 

Was Ärzte tun können

S –    Sprechen Sie mögliche Gewalterfahrungen aktiv an
I –    Interview mit einfachen konkreten Fragen
G –    Gründliche Untersuchung der Verletzten
N –    Notieren Sie alle Befunde und Angaben so, dass sie gerichtsverwertbar sind
A –    Abklären des aktuellen Schutzbedürfnisses
L –    Leitfaden mit Notrufnummern und Unterstützungsangeboten anbieten
Quelle: www.signal-intervention.de

Gewalt ist keine Privatsache

Häusliche Gewalt setze als Tatort nicht die gemeinschaftliche Wohnung voraus, sondern könne auch in der Öffentlichkeit stattfinden, erläuterte Anja Brückmann, Kriminalhauptkommissarin und Opferschutzbeauftragte in der Kriminalprävention/Opferschutz Polizeipräsidium Düsseldorf. Per definitionem sei dabei eine partnerschaftliche Beziehung gemeint (bestehend, in Auflösung befindlich, beendet). Kinder seien häufig mittelbar Betroffene, Delikte seien überwiegend die vorsätzliche einfache Körperverletzung (zum Beispiel Ohrfeigen), die gefährliche Körperverletzung (zum Beispiel Schläge mit dem Stock) oder (Be-)Drohungen und Beleidigungen.Werden Kinder und Jugendliche verletzt, sind Brückmann zufolge oft Elternteile (82 Prozent) die Täter, nicht nur leibliche Eltern, sondern beispielsweise auch neue Lebensgefährten.

„Gewalt in der Familie ist keine Privatangelegenheit“, betonte die Polizistin. Die Änderung des Gewaltschutzgesetzes und des Polizeigesetzes hätten einen Paradigmenwechsel eingeleitet. Im Sinne von „Wer schlägt, der geht“ können seither Wohnungsverweisungen mit Rückkehrverbot von bis zu zehn Tagen ausgesprochen werden, die auf Antrag auch verlängert werden können.

Werde die Polizei Zeuge häuslicher Gewalt, erfolge automatisch eine Anzeige und die Kriminalpolizei übernehme die Ermittlungen. Lebten Kinder und Jugendliche im betroffenen Haushalt, werde das Jugendamt eingeschaltet.

Schutz- und Hilfsangebote 

Nach repräsentativen Befragungen sei jede 4. Frau im Laufe ihres Lebens von Gewalt betroffen, erklärte Luzia Kleene, Juristin und Sozialpädagogin in der „frauenberatungsstelle düsseldorf e.V.“. Eine kritische Zeit für Gewalt in der Beziehung sei oft der Trennungsprozess, der hohes Gefahrenpotenzial berge. Kleene wies darauf hin, dass es als eigenständiges Angebot neben der „klassischen Frauenberatung“ die Interventionsstelle gegen häusliche Gewalt gebe, die genderneutral alle Opfer berät. Diese Institution sehe sich als Schnittstelle zu Polizei, Jugendamt und Opferhilfe. 
Neben pro-aktiver Beratung nach Übermittlung der Daten durch die Polizei, werde dort auch bedarfsorientierte Krisenintervention und Kurzzeitunterstützung (zum Beispiel bei zivilrechtlichen Schutzanordnungen) angeboten. Die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter kontaktierten zunächst telefonisch alle Betroffenen nach dem Polizeieinsatz, klärten dabei auch, ob Kinder betroffen sind, oder ob es (rechts-)medizinischen Untersuchungsbedarf gibt, wenn notwendig mit Unterstützung von Sprach- und Kulturmittlern. 

Darüber hinaus gebe es seit einiger Zeit das über Spenden finanzierte Projekt „Extra für Kinder“, so Kleene, das sich speziell den Belangen von Kindern von Gewaltopfern widmet. Denn Studien hätten gezeigt, dass Kinder, die Gewalt in der Familie erleben, dieses Verhalten oft generations- und situationsübergreifend weiterleben. 

Dr. Sabine Mewes ist ärztliche Referentin im Institut für Qualität im Gesundheitswesen Nordrhein (IQN). Dr. Martina Levartz, MPH ist Geschäftsführerin des Instituts für Qualität im Gesundheitswesen Nordrhein (IQN).
 

IQN Fortbildungsreihe zum Thema Kinderschutz, die nächsten Termine: 

Gewalt gegen Kinder erkennen und richtig handeln

  • Teil 6 am 14.09.2022 (voraussichtlich als Präsenzveranstaltung)
  • Teil 7 am 16.11.2022   
  • Teil 8 im Frühjahr 2023.

Wer ist die AG Kinderschutz im IQN?

Im Herbst 2020 hat das IQN eine Gruppe von Experten im Bereich des Medizinischen Kinderschutzes in einer Arbeitsgruppe versammelt. Das Ziel dieser Gruppe besteht darin Fortbildungen und Materialien zu entwickeln, um Ärztinnen und Ärzte für das Thema zu sensibilisieren und den Umgang damit in der täglichen Arbeit zu schulen.