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Nachfragen statt Hinnehmen

21.06.2022 Seite 17
RAE Ausgabe 7/2022

Rheinisches Ärzteblatt

Heft 7/2022

Seite 17

Das Vertrauensverhältnis zwischen Patient und Arzt leidet Schaden, wenn der wirtschaftliche Druck in Krankenhaus und Praxis die unabhängige ärztliche Entscheidung unmöglich macht. Das richtige Maß zwischen dem medizinisch Gebotenen, ethisch Vertretbaren und ökonomisch Möglichen zu finden, ist gerade auch für junge Ärztinnen und Ärzte ein täglicher Balanceakt, der mitunter zu Entmutigung führt.

von Sabine Schindler-Marlow

Die zunehmende Ökonomisierung in den Kliniken empört junge Ärztinnen und Ärzten. Schon im Praktischen Jahr (PJ) machen sie damit unmittelbare Erfahrungen. Beim 126. Deutschen Ärztetag in Bremen forderten sie daher eine Neuausrichtung der Versorgung – und sehen sich auch selbst in der Pflicht. Entscheidungen, die gegen Patienteninteressen gefällt werden, sollten aktiv hinterfragt werden, beim Weiterbilder, beim Oberarzt und beim Chefarzt. Die „unbequeme Ärztin, der unbequeme Arzt“, seien gefragt, die sich nicht dem „Das war schon immer so“ beugten, sondern im Sinne der Patientinnen und Patienten vorgegebene Strukturen und profitorientierte Anweisungen nichtärztlicher Geschäftsführungen hinterfragten. 

Beim Dialogforum „Junger Ärztinnen und Ärzte“, das von der Bundesärztekammer seit Jahren im Vorfeld des Ärztetags organisiert wird, beschrieben die Teilnehmenden ihre Erfahrungen mit einer zunehmend durchökonomisierten Medizin. So berichtete ein Teilnehmer exemplarisch, dass während seines PJs bei jeder Visite eine Vertreterin der Geschäftsführung mitgelaufen sei, die den Ärzten mitgeteilt habe, wie lange ein Patient schon in der Klinik verweile. Solche Erfahrungen teilten auch langjährig tätige Ärztinnen, so etwa Eleonore Zergiebel, Vorstandsmitglied der Ärztekammer Nordhrhein. Zergiebel spürt den Konflikt zwischen einerseits guter Patientenversorgung und andererseits ökonomischem Druck als Leiterin Medizincontrolling am Krankenhaus Düren alltäglich. Aus ihrer Sicht müssten die Fallpauschalen abgeschafft werden. Denn den vom medizinischen Dienst kontrollierten Häusern drohten erhebliche Abschläge, wenn Patientinnen und Patienten länger als die durch die Fallpauschalen definierte Verweildauer in stationärer Behandlung blieben, auch in gut begründeten Fällen. So sorge das DRG-System für schnellstmögliche Entlassungen aus dem Krankenhaus, was aber mitunter zweifelhaft in Bezug auf die individuellen Patientenbedürfnisse sei.

In der Diskussion wurden zwei Entwicklungen deutlich: Erstens bringt es Ärztinnen und Ärzte, ob in Klinik oder Praxis, in belastende Gewissenskonflikte, wenn ihre medizinisch-ärztlichen Entscheidungen und das Wohlergehen der Patientinnen und Patienten von wirtschaftlichen Interessen beeinflusst werden. Zweitens ist die nachwachsende Ärztegeneration nicht mehr willens, sich ohne Nachfrage und Widerstand dem wachsenden Druck auszusetzen und das ärztliche Handeln einer betriebswirtschaftlichen Nutzenoptimierung unterzuordnen. Dabei suchen sie den Schulterschluss vor allem zu anderen Gesundheitsberufen, die ebenfalls unter dem Druck ökonomischer Vorgaben leiden. Lukas Kemmesies, von den Bunten Kitteln, einer Bewegung, die sich gegen die Ökonomisierung und für ein menschlicheres Gesundheitssystem einsetzt, forderte von allen im Gesundheitssystem Tätigen, sich für eine Verbesserung der Arbeitsbedingungen einzusetzen. „Wir leben im 21. Jahrhundert und schaffen es immer noch nicht, Überstunden auszubezahlen“. Vorbildwirkung könne der Ärzte-Codex haben, dem sich mittlerweile 42 Organisationen, darunter die Bundesärztekammer, die Ärztekammer Nordrhein und weitere Kammern, der Marburger Bund, der Hartmannbund und viele Fachgesellschaften angeschlossen haben. Der Ärzte-Codex solle jungen Ärztinnen und Ärzten dabei helfen, die Auswirkungen der Ökonomisierung kritisch in ihrem persönlichen Arbeitsgebiet zu reflektieren, sagte Professorin Dr. Petra-Maria Schumm-Draeger, ehemalige Vorsitzende der Deutschen Gesellschaft für Innere Medizin, die zu den Initiatorinnen des Codex gehört. Der Codex könne Ärztinnen und Ärzten Rückhalt bei Diskussionen mit der kaufmännischen Klinikleitung geben, betonte sie und riet den Kammern, noch mehr „Awareness“ für das Thema zu schaffen.