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Unter Kollegen

21.06.2022 Seite 12
RAE Ausgabe 7/2022

Rheinisches Ärzteblatt

Heft 7/2022

Seite 12

Es war sein erster Auftritt als Bundesgesundheitsminister beim Deutschen Ärztetag. Professor Dr. Karl Lauterbach nutzte ihn, um den Ärztinnen und Ärzten Ende Mai in Bremen „aufrichtig“ für ihren Einsatz in der Coronapandemie zu danken. Mit Blick auf angestrebte Reformen im Gesundheitswesen griff er einige Forderungen der Ärzteschaft auf, darunter Änderungen am Fallpauschalensystem in den Krankenhäusern und eine Erhöhung der Zahl der Medizinstudienplätze. Keine Zugeständnisse machte er hingegen beim Thema GOÄ.

von Heike Korzilius

Um den Weg zum Konzerthaus „Die Glocke“ in der Bremer Innenstadt zu finden, musste man nur dem Polizeiaufgebot folgen. Einlass fanden Journalisten und Kamerateams erst, nachdem Beamte die Personalien und Spürhunde die Taschen kontrolliert hatten. Geschuldet war das dem prominenten Gast bei der Eröffnungsveranstaltung des 126. Deutschen Ärztetags am 24. Mai. Bundesgesundheitsminister Professor Dr. Karl Lauterbach steht unter strengem Personenschutz, weil er Anfeindungen und Drohungen insbesondere aus dem Lager der Querdenker ausgesetzt ist. 

Das Thema Corona bildete auch einen Schwerpunkt in seiner Ansprache an die 250 Abgeordneten des Ärztetages sowie die übrigen rund 750 Gäste. Zunächst sprach Lauterbach den Ärztinnen und Ärzten in Deutschland für ihren Einsatz in der Coronapandemie den „aufrichtigen Dank der Bundesregierung“ aus. Alle hätten zusammengestanden. Ärzte seien gerade zu Beginn der Pandemie, als Schutzausrüstung knapp und Impfungen noch nicht verfügbar waren, ins persönliche Risiko gegangen. Auch dadurch sei Deutschland im Vergleich zu vielen anderen Ländern gut durch die Pandemie gekommen, sagte Lauterbach. Er dankte zudem den Ärztekammern dafür, dass sie gegen Fake News und Coronaleugner in den eigenen Reihen konsequent vorgegangen seien. 

Neue Volkskrankheit Long COVID

Der Minister betonte, dass zurzeit die Vorbereitungen zum Schutz vor einer neuen Coronawelle im Herbst vorangetrieben würden. Neben einer Impf-, Test- und Behandlungsstrategie gelte es auch, ein neues Infektionsschutzgesetz zu beschließen, das mehr ermögliche als eine Neuauflage der Maskenpflicht in Innenräumen, falls neue Coronavirus-Varianten dies erforderten. Große Sorge bereite ihm, dass so viele Menschen von Long COVID betroffen seien. „Das könnte eine neue Volkskrankheit werden“, sagte Lauterbach. Sein Haus arbeite zurzeit intensiv an einer Strategie zur Forschungsförderung. 

Mit Blick auf angestrebte Reformen im Gesundheitswesen griff Lauterbach einige Forderungen der Ärzteschaft auf. So kündigte er an, sich dafür einsetzen zu wollen, dass auch die Ärztinnen und Ärzte im Öffentlichen Gesundheitsdienst künftig nach Arzttarif bezahlt werden sollen. Zurzeit verdienen diese nach Angaben ihres Berufsverbandes noch rund 1.500 Euro weniger als Kolleginnen und Kollegen in den Krankenhäusern. Ausreichend ärztliches Personal für die Gesundheitsämter lasse sich unter diesen Umständen nur schwer gewinnen. Diese Zweiteilung bei den Gehältern sei nicht mehr hinzunehmen, sagte Lauterbach in Bremen. Er sprach sich außerdem für eine Reform des Fallpauschalensystems im Krankenhaus aus und zielte dabei insbesondere auf die Bereiche Kinderheilkunde und Geburtshilfe. Die DRGs bildeten die Versorgung hier nicht angemessen ab. „Wir brauchen etwas, was näher am Selbstkostendeckungsprinzip liegt“, so Lauterbach. 

Für überfällig hält der Minister eine Reform der Notfallversorgung, die eine sinnvolle Arbeitsteilung zwischen Krankenhäusern und niedergelassenen Ärzten ermöglicht. Das wolle die Ampel-Koalition noch in dieser Legislaturperiode angehen. „Wir brauchen diesmal einen größeren Wurf“, erklärte Lauterbach angesichts früherer Reformversuche. 

Der Technokratie gegensteuern

Auch für eine Erhöhung der Zahl der Medizinstudienplätze zeigte er sich offen. Das sei angesichts einer Gesellschaft des längeren Lebens mit mehr älteren, multimorbiden Patienten und einer ebenfalls alternden Ärzteschaft „unbedingt“ erforderlich. Mit Blick auf die zum Teil sehr holprige Digitalisierung im Gesundheitswesen versicherte er den Ärztinnen und Ärzten, man wolle der derzeit herrschenden Technokratie entgegensteuern und nur das umsetzen, was medizinisch sinnvoll sei. Ärzte und Patienten müssten den Nutzen neuer digitaler Anwendungen sofort spüren können, betonte Lauterbach. 

Keine Zugeständnisse machte der Minister beim Thema GOÄ. Er kündigte lediglich an, den konsentierten Reformvorschlag von Bundesärztekammer, Privater Krankenversicherung und Beihilfe „vorurteilsfrei zu prüfen“. Im Koalitionsvertrag habe sich die Ampel darauf festgelegt, nichts zu unternehmen, was das Gleichgewicht von PKV und GKV verschieben könnte. Der Spielraum sei eng. Lauterbach betonte zugleich, er freue sich auf die Zusammenarbeit und den Austausch mit der Ärzteschaft. „Für mich sind Sie kein Kostenfaktor im Gesundheitssystem, sondern Kolleginnen und Kollegen“, bekräftigte er. 

Der Präsident der Bundesärztekammer (BÄK), Dr. Klaus Reinhardt, hatte Lauterbach zuvor ein dickes GOÄ-Kompendium überreicht und gefordert, die Reform der Gebührenordnung jetzt endlich zeitnah umzusetzen. Die letzten Änderungen habe es vor 30 Jahren gegeben und eine Anpassung an den aktuellen Stand der Medizin sei längst überfällig. Die Abrechnung nach Analogziffern sorge für große Verunsicherung bei Ärzten und Patienten und für unnötige Rechtsstreitigkeiten. „Das ist ein unhaltbarer Zustand“, sagte Reinhardt an den Minister gewandt. Die Ärzteschaft empfinde die Untätigkeit der Politik inzwischen als Affront. 
 

Solidarität mit der Ukraine

Reinhardt umriss zum Auftakt des Deutschen Ärztetages die wichtigsten Inhalte, über die die Abgeordneten während der kommenden vier Tage beraten wollten. Einen eigenen Schwerpunkt bildeten die Auswirkungen der Coronapandemie auf Kinder und Jugendliche (siehe „Kindern eine Stimme geben“ auf Seite 20). Deren Bedürfnisse seien gerade zu Beginn der Pandemie kaum beachtet worden, kritisierte der BÄK-Präsident. 

Reinhardt nutzte zudem den öffentlichen Rahmen, um den Menschen in der Ukraine sowie den Kolleginnen und Kollegen, die dort ihr Leben aufs Spiel setzen, um anderen zu helfen, die Unterstützung und Solidarität der deutschen Ärzteschaft zuzusichern. Die russischen Angreifer machten auch vor Gesundheitseinrichtungen nicht halt, kritisierte Reinhardt. Kinder würden mit Kopfverletzungen, durchlöchertem Unterleib und Knochenbrüchen ins Krankenhaus eingeliefert und seien auch dort nicht sicher, zitierte er den Chefarzt des Kinderkrankenhauses in Saporischschja. Solche Berichte seien erschütternd und machten betroffen. Reinhardt wies erneut auf ein Portal bei der Bundesärztekammer hin, auf dem sich Ärztinnen und Ärzte registrieren können, die in der Ukraine oder deren Nachbarstaaten helfen wollen (https://www.bundesaerztekammer.de/themen/aerzte/aerztinnen-und-aerzte-fuer-die-ukraine). Die bisherige Resonanz sei beeindruckend, so der BÄK-Präsident. In wenigen Wochen hätten sich mehr als 1.600 Kolleginnen und Kollegen gemeldet. Sobald die Bundesregierung Bedarf für Einsätze melde, könne man ausreichend Ärztinnen und Ärzte vermitteln. „Wir sind vorbereitet“, sagte Reinhardt. 

Erstmals seit Beginn der Coronapandemie tagte das Ärzteparlament wieder in voller Länge und in Präsenz. Knapp 260 Anträge wurden beraten und abgestimmt, 91 davon waren unter Beteiligung von Ärztinnen und Ärzten aus Nordrhein formuliert worden. In einem mit großer Mehrheit gefassten Beschluss hatten die Abgeordneten gleich zu Beginn der Ärztetagswoche den Gesetzgeber aufgefordert, wichtige Reformen im Gesundheitswesen umgehend umzusetzen. Die ambulanten und stationären Versorgungsstrukturen müssten patientengerecht, sektorenverbindend und digital vernetzt ausgestaltet werden. Die Gesundheitskompetenz der Bürger müsse gestärkt und die Forschung zu Pandemieprävention und -management ausgebaut werden, heißt es im Leitantrag des BÄK-Vorstandes. Dabei müsse bei sämtlichen anstehenden Reformen im Gesundheitswesen immer der Mensch der Maßstab des politischen Handelns sein. 

Im Fokus: der Fachkräftemangel

In diesem Zusammenhang begrüßte der Deutsche Ärztetag die Ankündigung der Bundesregierung für eine grundlegende Krankenhausreform. Notwendig sei unter anderem eine Änderung des Fallpauschalensystems mit stärkerer Berücksichtigung der Vorhaltekosten und – analog zur Pflege – eine Ausgliederung der ärztlichen Personalkosten aus dem DRG-System.

Um angesichts des sich abzeichnenden Fachkräftemangels eine hochwertige und flächendeckende Gesundheitsversorgung sicherzustellen, sprachen sich die Abgeordneten für eine bessere Verzahnung von ambulanten und stationären Versorgungsstrukturen und eine verbesserte interprofessionelle Kooperation aus. Außerdem forderten sie den Gesetzgeber auf, die seit Langem diskutierte Reform der Notfallversorgung voranzutreiben. Der Deutsche Ärztetag erneuerte zudem seine Forderungen nach mehr Studienplätzen in der Humanmedizin und einer zeitnahen Umsetzung der Novelle der Approbationsordnung. Auch fünf Jahre nach Verabschiedung des Masterplans Medizinstudium 2020 liege noch immer kein Gesetzentwurf vor, weil sich die Länder nicht auf die Finanzierung einigen könnten. Das geplante Inkrafttreten der Novelle im Jahr 2025 sei damit in Gefahr.

Der Ärztetag forderte das Bundesgesundheitsministerium erneut dazu auf, endlich die Reform der GOÄ umzusetzen. Sollte dies nicht bis Ende dieses Jahres geschehen, solle die Bundesärztekammer die Ärztinnen und Ärzte bundesweit „über die rechtskonforme Möglichkeit der Anwendung besonderer Honorarvereinbarungen mit höheren Steigerungsfaktoren als dem 2,3fachen Regelsteigerungssatz“ informieren. Diese Abdingung werde insbesondere für Gesprächs-, persönliche Untersuchungs- und andere zuwendungsintensive Arztleistungen erwogen, heißt es in einem Beschluss. Besondere Honorarvereinbarungen seien ein Instrument in der geltenden GOÄ, um den Ärzten in rechtssicherer Weise zu einem angemessenen Honorar zu verhelfen. 

Die Reform der GOÄ erinnere ihn an das absurde Drama „Warten auf Godot“ von Samuel Beckett, sagte Dr. Oliver Funken, Nordrhein, und spielte damit auf die Figur an, die niemals kommt. Doch nicht nur mit Blick auf die GOÄ zeigten sich in der Aussprache zur Gesundheits- und Sozialpolitik zahlreiche Ärztinnen und Ärzte enttäuscht vom Auftritt des Bundesgesundheitsministers. „Lauterbach ist doch nicht so sehr der Kollege, als den wir ihn gerne sehen. Er ist Politiker“, so Dr. Wilfried Schimanke, Mecklenburg-Vorpommern. Die Ärzteschaft müsse mehr dafür tun, dass Beschlüsse auch umgesetzt würden. Dr. Susanne Johna, Hessen, bezeichnete Lauterbachs Aussagen als wenig konkret. Sie forderte die Politik auf, insbesondere den Ärzte- und Fachkräftemangel in Kliniken und Praxen in den Fokus zu nehmen. Denn jeder 5. Arzt scheide in den nächsten Jahren aus dem Beruf aus. 
 

Zum Stand der Weiterbildung

Inzwischen haben 15 von 17 Ärztekammern die Weiterbildungsnovelle von 2018 umgesetzt. 

Das trugen die Vorsitzenden der Ständigen Konferenz „Ärztliche Weiterbildung“ der Bundesärztekammer, Dr. Johannes Albert Gehle, Präsident der Ärztekammer Westfalen-Lippe, und Prof. Dr. Henrik Herrmann, Präsident der Ärztekammer Schleswig-Holstein, in ihrem jährlichen Sachstandsbericht vor. Die beiden ausstehenden Kammern folgten voraussichtlich noch in diesem Jahr. Dort müssten die Aufsichtsbehörden die Neuregelung noch genehmigen. Außerdem beschloss der Ärztetag eine flexiblere Regelung zur Anrechenbarkeit von Fehlzeiten auf die Weiterbildung. Nach kontroverser Debatte beschlossen die Abgeordneten zudem, die Zusatzbezeichnung Homöopathie aus der (Muster-)Weiterbildungsordnung zu streichen.
 

Renditestreben in der Kritik

Einen nicht unbedeutenden Teil der Debatte nahm die fortschreitende Kommerzialisierung im Gesundheitswesen ein. Stellvertretend für viele kritisierte Dr. Lars Bodammer, Hessen, den zunehmenden wirtschaftlichen Druck in den Krankenhäusern, unter dem inzwischen sowohl die ärztliche Weiterbildung als auch die Patientenbehandlung litten. Andere beklagten, dass nichtärztliche Geschäftsführungen in Kliniken und Medizinischen Versorgungszentren (MVZ) zunehmend versuchten, aus Gewinnstreben ärztliche Entscheidungen zu beeinflussen. Dem wollte sich der Ärztetag entgegenstellen. In einem Beschluss forderten die Abgeordneten zum einen, die Gründung von MVZ durch Krankenhäuser an einen fachlichen, räumlichen und regionalen Bezug zu deren Versorgungsauftrag zu koppeln. Zum anderen forderten sie den Gesetzgeber auf, dem fortschreitenden Aufkauf von Arztpraxen und MVZ durch Private Equity Gesellschaften und börsennotierte Unternehmen Einhalt zu gebieten. 

Eine längere Debatte entspann sich zum Thema Digitalisierung. Umstritten war dabei das sogenannte Opt-out-Verfahren bei der elektronischen Patientenakte (ePA), um deren Verbreitungsgrad zu erhöhen. Seit Januar 2021 sind die gesetzlichen Krankenkassen verpflichtet, ihren Versicherten eine ePA anzubieten. Aktuell besitzen bundesweit jedoch nach Angaben der BÄK lediglich rund 480.000 Patientinnen und Patienten eine solche Akte. Im Rahmen der Opt-out-Lösung würden die Kassen ihren Versicherten künftig automatisch eine ePA einrichten, es sei denn, diese widersprechen. „Digitalisierung kann nur funktionieren, wenn man einfach mal loslegt“, warb PD Dr. Peter Bobbert, Berlin, Co-Vorsitzender des Ausschusses „Digitalisierung in der Gesundheitsversorgung“ der BÄK, für das Opt-out-Modell. „Eine gut gemachte ePA nützt uns allen.“ Melissa Camara Romero, Nordrhein, hielt dagegen, man dürfe die Gefahren einer Opt-out-Lösung nicht übersehen. „Wir dürfen die vulnerablen Patientengruppen nicht vergessen, die ihr Opt-out nicht wahrnehmen können“, warnte sie. „Wir brauchen eine Diskussion darüber, was wir als Gesellschaft möchten.“ Am Ende entschied sich der Deutsche Ärztetag mehrheitlich für das Opt-out unter enger Einbeziehung der Ärzteschaft. Zudem forderten die Abgeordneten, ähnlich wie in den Krankenhäusern auch im ambulanten Bereich den Ausbau der digitalen Infrastruktur und die digitale Vernetzung finanziell zu fördern. Die dafür erforderlichen Mittel sollten Bund und Länder zur Verfügung stellen. Außerdem sollten nur solche digitalen Anwendungen ausgerollt werden, die einen Mehrwert für die Versorgung böten. Die Delegierten sprachen sich vor diesem Hintergrund dafür aus, jetzt zunächst den Notfalldatensatz einzuführen und die sichere Kommunikation im Gesundheitswesen auszubauen.