Vorlesen
Forum

COVID-19: Medizinethiker beraten in Grenzsituationen

22.02.2022 Seite 25
RAE Ausgabe 3/2022

Rheinisches Ärzteblatt

Heft 3/2022

Seite 25

Abbruch der Behandlung oder Fortführung der Maximaltherapie? Bei Konflikten können Klinische Ethik-Komitees Behandlungsteams und Angehörige entlasten. © picture alliance/KEYSTONE | GAETAN BALLY
Besuchsverbote, Priorisierung, Behandlungsabbruch – medizinische Teams müssen vielfach ethisch heikle Entscheidungen treffen, die sie selbst psychisch belasten. Corona wirkt hier wie ein Katalysator. In schwierigen Fällen kann die Beratung durch ein Klinisches Ethik-Komitee für Entlastung sorgen. 

von Heike Korzilius

Seit drei Wochen ist die 56-jährige COVID-19-Patientin an eine künstliche Lunge angeschlossen. An der Universitätsklinik Essen ist man auf die ECMO-Therapie spezialisiert. Doch trotz aller Versuche verbessert sich die Lungenfunktion der Patientin nicht. Die Lunge ist vernarbt. Das Essener Behandlungsteam sieht keine Indikation zur weiteren Therapie mehr. Die Angehörigen fordern hingegen, die Maximaltherapie fortzuführen. Eine Willensäußerung der Patientin liegt nicht vor.
 
Dr. Sonja Vonderhagen, Leitende Oberärztin der unfallchirurgischen Intensivstation der Klinik für Unfallchirurgie am Universitätsklinikum Essen, dient der Fall als Beispiel dafür, wie wichtig und entlastend es sein kann, in schwierigen Konfliktsituationen ein Klinisches Ethik-Komitee hinzuzuziehen. Im Beratungsgespräch mit allen Beteiligten stellt sich im Fall der 56-jährigen Intensivpatientin heraus, dass die Angehörigen in erster Linie Angst davor haben, über den Abbruch der Behandlung selbst entscheiden zu müssen und sich wünschen, dass die Patientin nicht leidet. In der Abwägung zwischen „Nicht-Schaden“ und „Wohltun“ bekräftigt das Behandlungsteam die Entscheidung zum Therapieabbruch, die die Angehörigen jetzt mittragen können. „Der Konflikt konnte im guten Konsens gelöst werden“, fasste Vonderhagen das Ergebnis der ethischen Beratung zusammen. Die Chirurgin sprach beim Symposium „Update Ethik – (Rück-)Blick auf die Pandemie“, das die Ärztekammer Nordrhein am 26. Januar veranstaltete.
 
In Essen hat die ethische Fallberatung Tradition. Das Klinische Ethik-Komitee besteht dort seit mehr als zehn Jahren. Ihm gehören Ärztinnen und Ärzte ebenso an wie Vertreter der Pflege, des Sozialdienstes und der Seelsorge. Wichtig sei neben dem multiprofessionellen auch ein kultursensibler Ansatz, erklärte Vonderhagen. Das verdeutlichte sie anhand eines zweiten Falls, den das Ethik-Komitee allerdings nur retrospektiv beraten hat.

Der 56-jährige COVID-19-Patient hat keine Vorerkrankungen, als er sich mit Corona infiziert. Dennoch verschlechtert sich sein Zustand derart, dass eine ECMO-Therapie unumgänglich wird. Im Verlauf der Behandlung kommt es zur Lungenschädigung, zu Rechtsherzversagen, bakteriellen Superinfektionen und Blutungen unter der Antikoagulation. Auch in diesem Fall kommt das Behandlungsteam zu dem Schluss, dass eine Fortführung der Therapie aussichtslos ist. Die Angehörigen, eine Großfamilie mit migrantischem Hintergrund, fordern dennoch die Fortsetzung der Maximaltherapie. Sie treten aggressiv auf, drohen mit rechtlichen Konsequenzen und damit, die Medien einzuschalten. Auch in diesem Fall liegt keine Patientenvollmacht vor. Die Rechtsabteilung des Essener Klinikums empfiehlt schließlich, zum Schutz des Behandlungsteams die Therapie auch ohne Indikation fortzuführen, bis ein Betreuungsbeschluss durch einen Richter vorliegt.
 
„Das war eine massive Belastung für alle Beteiligten – für das Behandlungsteam, das täglich dem Druck der Angehörigen ausgesetzt war, aber natürlich auch für die Familie“, sagte Vonderhagen beim Kammersymposium. Gerade dieser Fall zeigt aus Sicht der Chirurgin, wie wichtig es ist, frühzeitig sämtliche Kompetenzen zu bündeln. „Vielleicht wäre es nicht zu einer derartigen Eskalation gekommen, wenn wir uns schon vorher zusammengesetzt hätten“, räumte sie ein. 

Ethikberatung zunehmend gefragt

In Essen hat die Zahl der ethischen Fallberatungen seit Beginn der Pandemie deutlich zugenommen. Waren es zuvor in der Regel fünf bis acht Fälle jährlich, mit denen sich das Ethik-Komitee beschäftigte, beriet es 2020 in 14 und im vergangenen Jahr in 25 Fällen. COVID-assoziiert waren davon insgesamt 16 Fälle. 
Die klinische Ethikberatung etabliere sich zunehmend in den Krankenhäusern und fasse auch in der ambulanten Versorgung allmählich Fuß, erklärte Univ.-Professor Dr. Dominik Groß. „Die Nachfrage nach klinischer Ethikberatung steigt“, so der Leiter des Instituts für Geschichte, Theorie und Ethik der Medizin der Rheinisch-Westfälischen Technischen Hochschule Aachen. Das habe unter anderem mit dem medizinischen Fortschritt zu tun, der neue Grauzonen schaffe. Auch würden ethische Fragen und Dilemmata zunehmend öffentlich diskutiert. Gerade mit Blick auf die Coronapandemie gebe es Debatten um den verantwortungsvollen Einsatz knapper Ressourcen. Dazu komme der wachsende Wertepluralismus in der Gesellschaft.
 
Als eine der zentralen Aufgaben Klinischer Ethik-Komitees beschrieb Groß die Einzelfallberatung am Krankenbett in schwierigen Entscheidungssituationen. Ein Ethik-Komitee treffe jedoch niemals selbst Entscheidungen, schon gar nicht über Leben und Tod, stellte er klar. Die Verantwortung für das weitere Vorgehen bleibe beim Behandlungsteam, den Patientinnen und Patienten und deren Angehörigen. Ziel der ethischen Beratung sei es vielmehr, im Konfliktfall eine Lösung zu finden, die jede und jeder mittragen kann. Die Ethik-Komitees würden zudem nie ohne Auftrag tätig. „Wir kommen nur, wenn wir gerufen werden“, betonte Groß.
 
Neben der Fallberatung und der Fallnachbesprechung wirkten die Klinischen Ethik-Komitees auch an der Fort- und Weiterbildung sowie der Entwicklung ethischer Leitlinien mit. „Aktuell heißt die Angst ,Triage‘“, sagte Groß. Echte Triage-Situationen habe es in der Coronapandemie in Deutschland noch nicht gegeben. „Und wir sind auch sehr hoffnungsvoll, dass es sie nicht geben wird“, so der Medizinethiker. Dennoch sei es wichtig gewesen, dass die Deutsche Interdisziplinäre Vereinigung für Intensiv- und Notfallmedizin (DIVI) im vergangenen November ihre klinisch-ethischen Empfehlungen zur Priorisierung und Triage bei COVID-19 vorgelegt habe. Man brauche ein solches Papier, um im Bedarfsfall das Richtige zu tun. 

Oft fehlt es an Evidenz

An der Erarbeitung der DIVI-Empfehlungen war unter anderem die Akademie für Ethik in der Medizin (AEM) beteiligt. Deren Geschäftsstellenleiter, Professor Dr. phil. Alfred Simon, zählte beim Kammersymposion die neben einer möglichen Triage vielen anderen ethischen Herausforderungen in der Coronapandemie auf. Dabei gehe es nicht nur um die gerechte Allokation begrenzter Ressourcen wie Schutzkleidung, Impfstoffe, Intensivplätze oder Personal, sondern auch um Fragen der Verhältnismäßigkeit einer allgemeinen oder berufsbezogenen Impfpflicht oder um Fragen der Verhältnismäßigkeit von Kontaktbeschränkungen und Besuchsverboten. Viele Entscheidungen müssten unter Zeitdruck getroffen werden, für die es aufgrund der Neuartigkeit von COVID-19 keine angemessene Evidenz- oder Rechtsgrundlage gebe. Das führe letztlich zu einer gesellschaftlichen Polarisierung. Die AEM als Fachgesellschaft könne vor diesem Hintergrund mit ihren Empfehlungen und Materialien Orientierung bieten. 

Viele Menschen starben allein

Unter Kontaktbeschränkungen und Besuchsverboten haben in der Pandemie insbesondere Sterbende und Menschen mit Behinderung gelitten. Nicht selten seien sie auch bei Priorisierungsentscheidungen benachteiligt worden, kritisierten Professor Dr. Lukas Radbruch, Direktor der Klinik für Palliativmedizin des Universitätsklinikums Bonn, und Dr. Maria del Pilar Andrino, Leitung des Gesundheitszentrums Franz Sales Haus in Essen. Gerade im ersten Lockdown hätten Menschen zum Teil wochenlang auf der Intensivstation gelegen, ohne Besuch von Angehörigen oder ehrenamtlichen Mitarbeitern der Hospizdienste zu bekommen. Viele Patienten seien allein gestorben. „Es hat große Einschränkungen gegeben“, sagte Radbruch. Aber viele Einrichtungen hätten auch kreative Lösungen gefunden, um die Situation der Betroffenen zu verbessern. So seien Telefon- oder Videoangebote sowie Sonderregelungen für Besuche von Angehörigen bei Sterbenden und auf Palliativstationen geschaffen worden. „Die Palliativversorgung ist Teil der Gesundheitsversorgung. Man darf sie nicht vernachlässigen“, forderte Radbruch. Gerade zu Beginn der Pandemie, als die Schutzkleidung knapp war, seien zum Beispiel die Teams der Spezialisierten Ambulanten Palliativversorgung oftmals leer ausgegangen.

Von ähnlichen Erfahrungen berichtete Andrino. Menschen mit Behinderung seien anfangs nicht nur bei der Verteilung von Schutzausrüstung vergessen worden, sondern auch bei der Impfpriorisierung. Gerade zu Beginn der Pandemie habe es gehäuft Hinweise auf Probleme in der ambulanten und stationären Versorgung von Coronapatienten mit Behinderung gegeben, schilderte die Sozialpädiaterin. In ganz Deutschland habe eine „graue Triage“ stattgefunden, bei der schwerkranke Menschen mit Behinderung erst gar nicht ins Krankenhaus gekommen seien. Dabei hätten diese Patienten ebenso wie alle anderen das Recht auf eine bestmögliche gesundheitliche Versorgung. Andrino begrüßte in diesem Zusammenhang das Urteil des Bundesverfassungsgerichts zur Triage. Es hatte Ende Dezember 2021 den Gesetzgeber aufgefordert klarzustellen, dass im Fall einer pandemiebedingten Triage Menschen mit Behinderung nicht benachteiligt werden dürfen. 

Ärzte positionieren sich zur Triage

Berichte über die Triage als Ultima Ratio in nicht mehr zu bewältigenden Überlastungssituationen erzeugten Ängste, sagte der Präsident der Ärztekammer Nordrhein, Rudolf Henke. Der Gesetzgeber sei nun gefordert, geeignete Regelungen zu schaffen, um Menschen mit Behinderung vor einer Benachteiligung zu schützen. Henke stellte zugleich klar, dass Triage-Entscheidungen allein auf der Basis des medizinischen Sachverhalts getroffen würden, für dessen Beurteilung Ärztinnen und Ärzte die Letztverantwortung trügen. Damit diese im Rahmen des anstehenden Gesetzgebungsverfahrens ihre Position einbringen können, plant die Ärztekammer Nordrhein am 9. März eine Veranstaltung zum Thema.