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Der Mann an ihrer Seite

18.02.2022 Seite 12
RAE Ausgabe 3/2022

Rheinisches Ärzteblatt

Heft 3/2022

Seite 12

Er galt als Angela Merkels rechte Hand: Als Chef des Bundeskanzleramts koordinierte Professor Dr. Helge Braun von 2018 bis zum Regierungswechsel im vergangenen Dezember das Regierungshandeln und vermittelte Kompromisse, wenn es zwischen den Ministerien oder Bund und Ländern knirschte. Der gelernte Anästhesist referierte bei der diesjährigen Jörg-Dietrich-Hoppe-Vorlesung der Ärztekammer Nordrhein am 11. Februar über das Verhältnis zwischen Arztberuf und politischem Engagement. 

von Heike Korzilius

Helge Braun ist ein besonnener Mann. Diese Eigenschaft dürfte ihm sowohl in seinem früheren Beruf als Anästhesist am Universitätsklinikum Gießen zugutegekommen sein als auch in seinem jetzigen als Bundestagsabgeordneter in Berlin. Seit dem Regierungswechsel im vergangenen Dezember ist der CDU-Politiker Vorsitzender des Haushaltsausschusses. Zuvor war er im Kabinett von Angela Merkel vier Jahre lang Minister für besondere Aufgaben und Kanzleramtschef. „Der Chef des Bundeskanzleramts muss immer dahin, wo die Probleme sind, und das war in den letzten zwei Jahren die Pandemie“, sagte er im Rahmen der Jörg-Dietrich-Hoppe-Vorlesung der Ärztekammer Nordrhein, die coronabedingt bereits zum zweiten Mal online stattfand und zu der er aus Berlin zugeschaltet war. Braun sprach anlässlich des 200. Geburtstages des Sozialmediziners und Politikers Rudolf Virchow am 13. Oktober 2021 über das Verhältnis zwischen Arztberuf und politischem Engagement.

Ihm selbst habe seine ärztliche Vorbildung im Umgang mit der Pandemie sehr geholfen und auch sein politisches Handeln verändert, sagte Braun. „Die erste Coronawelle mit Schulschließungen, Kontaktbeschränkungen und einer völlig ahnungslosen Bevölkerung – das war ein Punkt, wo ich das Gefühl hatte, wir müssen jetzt erklären, was wir tun und warum wir es tun“, so der CDU-Politiker. Er habe deshalb damals seine relative öffentliche Zurückhaltung als Kanzleramtschef aufgegeben und angefangen, die Pandemiepolitik der Bundesregierung öffentlich zu erläutern. 

Gefahr für die Glaubwürdigkeit

Dabei prallten jedoch Grundsätze politischen und medizinisch-wissenschaftlichen Handelns aufeinander. „Glaubwürdigkeit in der Politik besteht immer dann, wenn Sie eine Position ein Leben lang vertreten. Wenn sie eine Position ändern, ist das eine kommunikative Krise“, führte Braun aus. „Und solche kommunikativen Krisen haben wir im Verlauf der Coronapandemie eine ganze Menge erlebt.“ Beispiel: Die Empfehlungen der Ständigen Impfkommission zum Coronaimpfstoff von Astra Zeneca. Zunächst habe die Empfehlung für Menschen unter 64 Jahren gegolten, dann – wegen des erhöhten Thromboserisikos bei Jüngeren – nur noch für Menschen über 60 Jahre. „Eine solche Umkehr ist sehr schwer zu vermitteln“, sagte Braun. Einen derart dynamischen Wissensfortschritt wie in der Coronapandemie angemessen zu kommunizieren, sei eine Herausforderung. 

Man habe aber nicht nur den Erkenntnisfortschritt öffentlich erklären müssen. Auch habe der wissenschaftliche Diskurs in der Pandemie Deutschlands Leitmedien erobert. Wer ärztlich und wissenschaftlich tätig sei, wisse, dass wissenschaftliche Auseinandersetzung notwendig und Triebfeder neuer Erkenntnis sei. Doch schaffe es Verunsicherung, wenn dieser Diskurs öffentlich ausgetragen werde. „Wenn wir als Ärzte, Epidemiologen, Intensivmediziner, als Hausärzte öffentlich unterschiedliche Positionen vertreten, schaltet die Bevölkerung irgendwann ab“, warnte Braun. Er warb deshalb dafür, Ärztekammern, Fachgesellschaften oder auch die Akademie der Wissenschaften Leopoldina als Autoritäten und „Vertrauensinstitutionen“ zu erhalten, von denen auch die Öffentlichkeit wisse, dass sie die Meinung der überwiegenden Mehrheit der Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler vertreten. „Die Bevölkerung muss eine Chance haben, zwischen Mehrheits- und Randpositionen zu unterscheiden“, forderte Braun. Es gehe nicht, dass sich jeder die wissenschaftliche Haltung heraussuche, die ihm am besten passe. 

Entscheiden trotz fragiler Evidenz

Die lückenhafte Erkenntnislage bei einer neuartigen Erkrankung wie COVID-19 stelle die politisch Verantwortlichen immer wieder vor Dilemmata. Denn es müssten trotzdem zum Teil weitreichende Entscheidungen getroffen werden. „Die Freiheitseinschränkungen, die wir in der Pandemie vorgenommen haben, sind ein ganz klassisches Beispiel dafür, in welche Schwierigkeiten man kommen kann, wenn die Erkenntnis noch nicht zu 100 Prozent sattelfest ist“, sagte Braun. Für Freiheitseinschränkungen gebe es hohe Hürden. Sie müssten immer verhältnismäßig, erforderlich und geeignet sein und es dürfe kein milderes Mittel geben. Doch auf viele Fragen habe man erst im Verlauf der Pandemie eine Antwort gefunden: Wo steckt man sich an? Ist die Impfung ein milderes Mittel? Macht Omikron schwerere Verläufe in größerer Zahl? – um nur einige zu nennen. „Das macht eine politische Entscheidung extrem schwer“, so Braun. „Denn wenn in einer Pandemie über einen Sachverhalt Gewissheit herrscht, ist es oft zum Handeln zu spät.“
 

Gesundheitsthemen werden nach Ansicht des ehemaligen Kanzleramtsministers in naher Zukunft einen immer größeren Stellenwert einnehmen. So müsse sich die Gesellschaft zum einen besser auf künftige Pandemien vorbereiten, es müssten Pandemiepläne erarbeitet und die Digitalisierung vorangetrieben werden. Außerdem müsse mehr getan werden, um zum Beispiel durch international einheitlich hohe Schutzstandards für Biolabore und bessere Bedingungen in der Tierhaltung Pandemien zu vermeiden. Zum anderen rechnet Braun damit, dass die Debatten rund um die Finanzierung der Sozialversicherungssysteme wieder an Fahrt aufnehmen werden. So habe unter anderem die Coronapandemie dazu geführt, dass die Rücklagen der vergangenen Jahre „in Windeseile“ aufgezehrt wurden. 

Vor diesem Hintergrund sei es gut und wichtig, dass Ärztinnen und Ärzte sich überdurchschnittlich für die Gesellschaft engagierten. „Es können aber noch mehr werden“, sagte Braun. „Die Politik kann ärztlichen Sachverstand gut gebrauchen.“ Das lasse sich gut am Wirken Rudolf Virchows zeigen. Der Arzt und Politiker habe sich in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts nicht nur für eine medizinische Grundversorgung der Bevölkerung sowie die berufliche Ausbildung zur Krankenpflege und die Einrichtung von Krankenpflegeschulen an jedem großen Krankenhaus eingesetzt. Auf ihn gehe auch die Errichtung erster kommunaler Krankenhäuser in Berlin zurück. Außerdem habe er eine bessere Hygiene in den Krankenhäusern und Schlachtbetrieben sowie den Ausbau der Berliner Kanalisation befördert. In einer von ihm selbst herausgegebenen Wochenschrift schrieb Virchow 1848: „Die Medizin ist eine soziale Wissenschaft, und die Politik ist nichts weiter als Medizin im Großen.“

Zurzeit sind von den 730 Abgeordneten des Deutschen Bundestages 15 Ärztinnen und Ärzte. „Abgeordnete sind Vertreter des ganzen Volkes und als solche nur ihrem Gewissen unterworfen“, erläuterte Braun. Das ähnele sehr dem Konzept der Therapiefreiheit von Ärztinnen und Ärzten. „Man kann sich also als Arzt bei der Arbeit als Bundestagsabgeordneter sehr wohlfühlen“, sagte der CDU-Politiker. 

Mehr Mut zum freien Beruf

Braun selbst engagierte sich bereits als Student und später als junger Assistenzarzt in der Kommunalpolitik in seiner Heimatstadt Gießen. Dass er bei wichtigen Abstimmungen im Stadtparlament zuweilen vom Dienst im Krankenhaus freigestellt werden musste, sei bei seinen Kolleginnen und Kollegen nicht immer mit Wohlwollen aufgenommen worden, räumte er ein. Sein Vorgesetzter habe hingegen sein politisches Engagement „als Wert“ geschätzt und ihm den Rücken freigehalten. Das sei zugegebenermaßen in einer großen Abteilung wie der Anästhesie am Universitätsklinikum Gießen einfacher als in einem kleinen Haus. Die ärztlichen Zuschauerinnen und Zuschauer in Leitungsfunktion forderte er dennoch auf: „Fördern Sie das ehrenamtliche Engagement der jungen Kolleginnen und Kollegen. Tun Sie es meinen Chefs gleich.“

An die Ärztinnen und Ärzte appellierte Braun, mehr „Mut zum freien Beruf“ zu haben und weniger nach dem Gesetzgeber zu rufen. Als aktuelles Beispiel führte er die jüngste Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts zur Triage an. Die Karlsruher Richter hatten Ende Dezember 2021 dem Gesetzgeber aufgetragen sicherzustellen, dass Menschen mit Behinderung bei der Triage nicht benachteiligt werden dürfen. Man könne das nicht allein ärztlichen Gremien überlassen. „Das ist eine Entwicklung, die ich mit Sorge betrachte“, sagte Braun. In vielen gesundheitspolitischen Diskussionen, die er in den letzten Jahren geführt habe, hätten immer wieder auch ärztliche Kollegen Regulatorik regelrecht eingefordert. 

Der ärztliche Alltag berge Rechtsunsicherheiten, räumte Braun ein. Vor dem Hintergrund seiner eigenen beruflichen Erfahrungen in der Intensivmedizin hielt er dennoch ein Plädoyer für den freien Arztberuf und ermutigte auch die ärztlichen Standesvertreter, „dass wir vielleicht einmal weniger nach dem Gesetzgeber rufen und uns einmal mehr darauf verlassen, dass wir uns in unseren eigenen Selbstverwaltungsgremien Regeln geben, mit denen wir dann am Ende arbeiten können“. Man müsse die Rechtsunsicherheit, die dann bleibe, als Therapiefreiheit begreifen, die Ärztinnen und Ärzten so wichtig sei. Denn es sei extrem schwierig, die komplexen Sachverhalte gerade in der Intensivmedizin gesetzlich so detailliert zu regeln, dass am Ende nicht doch wichtige Fallkonstellationen außen vor gelassen würden. „Mein Gefühl ist, dass das rechtliche Korsett immer enger wird, und wir damit der Vielzahl an Konstellationen, denen wir in unserem ärztlichen Alltag gegenüberstehen, nicht immer den besten Dienst tun“, so Braun. 

Medizin-Ethik auf der Tagesordnung

In der laufenden Legislaturperiode stünden noch weitere medizin-ethische Themen von erheblicher Tragweite zur Entscheidung an. „In den Jahren, seitdem ich im Deutschen Bundestag sitze, haben wir immer wieder Themen diskutiert, die tief in das Arzt-Patienten-Verhältnis hineinwirken“, erklärte Braun. Ganz aktuell liege der Vorschlag der Ampelkoalition auf dem Tisch, § 219 a, der die Werbung für Abtreibung verbietet, abzuschaffen. „Ich habe in der letzten Legislaturperiode hart daran gearbeitet, dass wir diesen Paragrafen dahingehend verändern, dass Sachinformationen durch Ärzte ermöglicht werden, die Werbung im engeren Sinne aber strafrechtlich verboten bleibt“, so der CDU-Politiker. Die Koalition aus SPD, Grünen und FDP beabsichtige jetzt eine vollständige Abschaffung des Paragrafen, und er nehme auch wahr, dass sich damit bei einigen die Hoffnung verbinde, eine grundlegende Änderung des Abtreibungsrechts voranzutreiben. „Das ist eine gesellschaftliche Debatte, die ich uns momentan überhaupt nicht empfehlen würde und die mir große Sorgen bereitet“, warnte Braun. Darüber hinaus stünden auch Neuregelungen in der Reproduktionsmedizin und bei der gewerblichen Sterbehilfe an – beides Bereiche, in denen ärztliches Handeln reguliert werde. Da sei es gut, dass medizinischer Sachverstand auch im Parlament vertreten sei.

Die Bezüge des ärztlichen Wirkens in die Gesellschaft hinein seien auch für seinen Vorgänger im Amt und ehemaligen Präsidenten der Bundesärztekammer, Professor Dr. Jörg-Dietrich Hoppe, besonders wichtig gewesen, sagte der Präsident der Ärztekammer Nordrhein, Rudolf Henke. Neben seinen steten Bemühungen, die ärztliche Freiberuflichkeit sowie die Therapiefreiheit und die Patientenorientierung in das Zentrum der Diskussion zu rücken, sei Hoppe auch immer wieder für die ethische Fundierung des Arztberufs und eine professionelle ärztliche Haltung eingetreten. „Wir sehen die Jörg-Dietrich-Hoppe-Vorlesung daher auch als ein Forum zur Diskussion grundlegender Fragen des ärztlichen Handelns und seiner Bezüge zur Gesellschaft, so Henke.

Die Jörg-Dietrich-Hoppe Vorlesungsreihe

Zum neunten Mal fand in diesem Jahr die Jörg-Dietrich-Hoppe-Vorlesung statt. Sie dient dem Gedenken an den ehemaligen Präsidenten der Ärztekammer Nordrhein und Bundesärztekammerpräsidenten, der am 7. November 2011 verstarb. Hoppe habe die Arbeit ärztlicher Gremien über Jahrzehnte hinweg bis zu seinem Tod geprägt, sagte sein Nachfolger im Amt des Präsidenten der Ärztekammer Nordrhein, Rudolf Henke. Er habe die Ärzteschaft, die Politik und die Gesellschaft immer wieder mit unbequemen Wahrheiten konfrontiert und damit entscheidende Debatten angestoßen. „Durch den Austausch mit unterschiedlichen Disziplinen und Professionen und deren Perspektiven hoffen wir, im Sinne des Wirkens und des Lebenswerks von Jörg-Dietrich Hoppe zu handeln und es in dieser Weise fortführen zu können“, erklärte Henke.

Die Ärztekammer Nordrhein konnte als Gastredner immer wieder führende Vertreterinnen und Vertreter ihrer jeweiligen Profession gewinnen. Die erste Vorlesung hielt im Jahr 2013 der damalige Bischof von Mainz, Karl Kardinal Lehmann, zum Thema „Ewiges Leben oder ewig Leben“. Im Februar 2021 referierte der Virologe Christian Drosten von der Charité – Universitätsmedizin Berlin zur „Aktuellen Lage der Coronapandemie“.