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Ein verlorener Kampf?

22.02.2022 Seite 16
RAE Ausgabe 3/2022

Rheinisches Ärzteblatt

Heft 3/2022

Seite 16

  • Die Frauenrechtsorganisation medica mondiale hat in den vergangenen 20 Jahren in Afghanistan gemeinsam mit Partnerorganisationen vor Ort Beratungsstellen für Frauen eingerichtet, die von Gewalt betroffen sind. Anwältinnen haben sich für die Freilassung von Frauen eingesetzt, die wegen moralischer Verbrechen im Gefängnis saßen. © picture alliance/dpa/Boris Roessler
  • Mithilfe von medica mondiale wurde Gewalt gegen Frauen in Afghanistan unter Strafe gestellt. Nun sei die Lage im Land unübersichtlich, heißt es vonseiten der Hilfsorganisation, die nach Wegen sucht, afghanische Frauen auch weiterhin zu unterstützen. © Lizette Potgieter
Frauenrechte sind zum Teil verbrieft, werden aber nicht durchgesetzt. Zwangsverheiratungen sind stark verbreitet, ebenso familiäre Gewalt und Morde an Mädchen und Frauen. Afghanistan hat eine der höchsten Mütter- und Kindersterblichkeitsraten weltweit und Mädchen haben nur einen stark eingeschränkten Zugang zu Bildung. Dennoch: In den vergangenen 20 Jahren verbesserte sich die Frauenrechtslage im Land allmählich. Mit der Rückkehr der Taliban an die Macht werden Frauen nun erneut ihrer Rechte beraubt.

von Jocelyne Naujoks

Auch sie habe das Tempo überrascht, mit dem die Taliban die Macht im Land übernommen haben, sagt Dr. Monika Hauser. Dass der Abzug der internationalen Streitkräfte ein massives Sicherheitsvakuum hinterlassen würde, sei aber schon lange absehbar gewesen. Hauser ist Vorstandsvorsitzende der Kölner Frauenrechts- und Hilfsorganisation medica mondiale, die gemeinsam mit einer afghanischen Partnerorganisation 20 Jahre lang Mädchen und Frauen in Afghanistan unterstützt hat. Nach der Machtübernahme der Taliban mussten sie ihre Arbeit dort einstellen. Während ein Teil der afghanischen Mitarbeiterinnen sich und ihre Familien in Deutschland in Sicherheit bringen konnte, sind viele Frauenrechtsaktivistinnen noch in Afghanistan und fürchten um ihr Leben. Die Mitarbeiterinnen berichteten von Drohungen und anderen Einschüchterungsversuchen, sagt Hauser. Auch wenn einige von ihnen bereits eine Aufnahmezusage für Deutschland hätten, werde es für sie immer schwieriger, das Land zu verlassen. Jedes Familienmitglied bis hin zum Neugeborenen benötige dazu Visa und Pässe, erklärt Hauser. Doch die Behörden, nun geführt von den Taliban, seien nicht mehr arbeitsfähig und Passbüros ständig ohne Angabe von Gründen geschlossen. 

Frauenrechtlerinnen muss sichere Ausreise ermöglicht werden

Ein Rückblick: Kurz nachdem der NATO-Rat Mitte April 2021 das Ende der sogenannten „Mission Resolute Support“ in Afghanistan erklärt, beginnen die Bundeswehr und ihre NATO-Partner, Soldatinnen und Soldaten aus Afghanistan abzuziehen. Zeitgleich erobern die Taliban zunächst vor allem ländliche Gebiete zurück, dann fällt eine Provinzhauptstadt nach der anderen in die Hände der Radikalislamisten. Es ist der 15. August 2021, als die Taliban die afghanische Hauptstadt Kabul erreichen und damit endgültig wieder die Macht in Afghanistan übernehmen. Unmittelbar nach der Einnahme Kabuls evakuieren die US-amerikanischen Streitkräfte, die Bundeswehr und ihre Bündnispartner tausende Menschen aus der Stadt, unter ihnen afghanische Ortskräfte, Menschenrechtler und Botschaftsangehörige. Abertausende bleiben zurück. Am 26. August beendet die Bundeswehr die militärische Evakuierung aus Afghanistan. Das letzte US-Militärflugzeug verlässt den Kabuler Flughafen am 30. August kurz vor Mitternacht Ortszeit.

Die medica mondiale-Vorsitzende Hauser sieht nun die Bundesregierung in der Pflicht, unter anderem den im Land verbliebenen Frauenrechtsaktivistinnen eine sichere Ausreise aus Afghanistan zu ermöglichen. 20 Jahre lang seien Kolleginnen dem Aufruf der Bundesregierung gefolgt, öffentlich für Frauenrechte in Afghanistan einzutreten. Nun sei deswegen ihr Leben bedroht. „Die Bundesregierung trägt hier mit Verantwortung“, meint Hauser. Sie schildert, wie Kolleginnen und Kollegen mehrfach auf unterschiedlichen Wegen versucht haben, das Land zu verlassen und dabei scheiterten. Andere müssen Familienmitglieder zurücklassen, um sich selbst in Sicherheit zu bringen. „Das ist schmerzhaft und traumatisierend“, sagt Hauser. Die Bundesregierung müsse die Listen mit Aufnahmezusagen für gefährdete Menschen wieder öffnen und einen Familiennachzug für Angehörige ermöglichen, fordert die Ärztin.
 
Knapp ein halbes Jahr nach der Machtübernahme der Taliban hat sich die Lage der Menschen in Afghanistan dramatisch verschärft. Medien berichten über Tötungen ehemaliger Regierungsmitarbeiter und Ortskräfte, über willkürliche Verhaftungen, Einschüchterung und Verfolgung von Journalisten und Menschenrechtsaktivisten. Nachdem die internationale Gemeinschaft Hilfszahlungen an Afghanistan eingestellt und afghanische Finanzreserven im Ausland eingefroren hat, spitzt sich auch die humanitäre Lage im Land drastisch zu. UN-Organisationen zufolge ist mehr als die Hälfte der Afghanen von extremem Hunger bedroht. Daneben alarmieren Berichte über die Situation der Mädchen und Frauen im Land: Frauen werden aufgefordert, einen Hijab zu tragen – wobei nicht eindeutig klar ist, um welche Art der Verschleierung es sich handelt. Sie müssen sich von einem männlichen Verwandten begleiten lassen, wenn sie sich mehr als 72 Kilometer von zu Hause entfernen wollen. Fernsehformate, die Schauspielerinnen zeigen, sind verboten. Das sind nur einige Beispiele.
 

"Mädchen und Frauen werden vom öffentlichen Leben ausgeschlossen."

Die Lage für Frauen und Mädchen in Afghanistan habe sich seit der Machtübernahme der Taliban drastisch verschlechtert, berichtet Hauser, die in engem Kontakt mit ihren im Land verbliebenen afghanischen Kolleginnen steht. Ihre Rechte würden systematisch eingeschränkt. Das habe allerdings niemanden überrascht, so die Frauenrechtlerin. Den Behauptungen der Taliban, sie seien moderner geworden, habe man bei medica mondiale  nie Glauben geschenkt. Das bisherige afghanische Frauenministerium sei de facto abgeschafft und durch das Ministerium zur Erhaltung der Tugend und Unterdrückung des Lasters ersetzt worden, berichtet Hauser. Proteste von Frauenrechtsaktivistinnen seien blutig niedergeschlagen worden. Mädchen und Frauen würden vom öffentlichen Leben ausgeschlossen. Studentinnen dürften nach der Einführung einer Geschlechtertrennung keine Universitäten mehr besuchen. Schülerinnen ab zwölf Jahren sei der Schulbesuch untersagt. „Eltern, die alles darangesetzt haben, dass ihre Kinder Zugang zu Bildung bekommen und dadurch eine Perspektive, sind jetzt verzweifelt, wenn sie ihre Töchter nicht mehr zur Schule schicken können“, sagt Hauser.
 
Während in ländlichen, meist konservativ geprägten Gebieten Mädchen und Frauen der Zugang zu Bildung und gesellschaftlicher Teilhabe auch in den vergangenen 20 Jahren größtenteils verwehrt blieb, verbesserte sich die Situation in den Städten allmählich. Viele afghanische Männer hätten gesehen, dass starke Frauenrechte auch ihre Bürgerrechte stärken, meint Hauser, und sich mit den Frauen solidarisiert. Mit der Lage der Frauen im Land verschlechtere sich nun auch die der Männer. So könne zum Beispiel eine Anwältin, die vorher ihre Familie ernährt habe, nun nicht mehr arbeiten.

Gewalt gegen Mädchen und Frauen nimmt zu

Hausers Erfahrung zeigt, dass akute Krisen bestehende Ungleichheiten in einem Land verschärfen und dabei insbesondere Kinder und Frauen treffen. Sie unterstützt mit medica mondiale seit knapp drei Jahrzehnten Mädchen und Frauen in Kriegs- und Konfliktgebieten weltweit dabei, Gewalt und Traumata zu verarbeiten und für Frauenrechte einzutreten. „Arbeitslosigkeit, fehlender Zugang zu Bildung und Gesundheitsversorgung, Vertreibung, Hunger, Angst vor Verfolgung und generelle Unsicherheit verstärken patriarchale Strukturen. Das beobachten wir aktuell insbesondere in Afghanistan“, sagt die Ärztin. Sie gehe davon aus, dass Gewalt gegen Mädchen und Frauen in ihren unterschiedlichen Formen weiter zunehmen werde. Dazu gehört neben der Gewalt in den Familien Hauser  zufolge auch die Zwangsverheiratung von zum Teil sehr jungen Mädchen. Schon vor der erneuten Machtübernahme der Taliban im vergangenen August wurde jedes dritte Mädchen unter 18 Jahren zwangsverheiratet. „Inzwischen gibt es fast täglich Berichte von Eltern, die aus Verzweiflung, weil sie nicht wissen, wie sie ihre Familien ernähren sollen, ihre teilweise sehr jungen Töchter an zukünftige Ehemänner verkaufen‘“, berichtet Hauser.
 
Eine für Mädchen traumatische Situation, die gravierende physische, psychologische und intellektuelle Folgen haben kann, sagt Hauser. Die Fachärztin für Frauenheilkunde und Geburtshilfe berichtet, dass jungen Mädchen, die kaum geschlechtsreif seien, eine Schwangerschaft und Geburt aufgenötigt würden. Dies habe häufig schwere körperliche Folgen, es komme zu Fehl- und Frühgeburten, Infertilität oder hoher Müttersterblichkeit. Viele Mädchen und Frauen erlitten psychische Traumata und blieben lebenslang körperlich und emotional beeinträchtigt. Aktuell fehlt es Hauser zufolge in Afghanistan ganz generell an den wichtigsten Medikamenten und medizinischen Materialien. Die Gesundheitsversorgung sei in großen Teilen zusammengebrochen.
 
Für die Vorstandsvorsitzende von medica mondiale ist es besonders schmerzlich zu beobachten, wie das über Jahre aufgebaute Netzwerk für Frauen, die von Gewalt betroffen sind, zusammenbricht. Frauenhäuser mussten schließen, Frauenrechtsorganisationen können nicht mehr arbeiten. Frauenrechtsaktivistinnen werden bedroht und sind Repressionen ausgesetzt. „Die Taliban schaffen eine Atmosphäre der Verunsicherung und Angst, die Frauen und Mädchen besonders hart trifft“, sagt Hauser. Die internationale Gemeinschaft müsse unbedingt Wege finden, ihnen zu helfen und die im Land verbliebenen Aktivistinnen zu schützen. In einem „Sicheren Haus“, das medica mondiale unterstützt, finden Frauenaktivistinnen zurzeit Schutz vor den Taliban. Die Sicherheit der in Afghanistan verbliebenen Mitarbeiterinnen von medica mondiale habe höchste Priorität, erklärtHauser. Welche Möglichkeiten es gebe, Mädchen und Frauen dort auch zukünftig zu unterstützen, versuchten sie und ihre Kolleginnen und Kollegen vor Ort und im Exil derzeit herauszufinden. Hauser ist zuversichtlich, dass ihre Arbeit in den vergangenen 20 Jahren Früchte getragen hat. Die Frauen in Afghanistan kämpften seit zwei Jahrzehnten gegen alle Widerstände für Demokratie und Rechtsstaatlichkeit und seien dabei immer bedroht gewesen, erinnert sie. Der Mut, die Stärke und die Beharrlichkeit dieser Frauen werde jüngere Generationen inspirieren und ihnen Kraft geben, auch weiterhin für ihre Freiheit und ihre Rechte einzustehen.

Unterstützung auf mehreren Ebenen
 
Die Frauenrechtsorganisation medica mondiale hat in den vergangenen 20 Jahren in Afghanistan gemeinsam mit Partnerorganisationen vor Ort Beratungsstellen für Frauen eingerichtet, die von Gewalt betroffen sind. Anwältinnen haben sich für die Freilassung von Frauen eingesetzt, die wegen moralischer Verbrechen im Gefängnis saßen. Mithilfe von medica mondiale wurde Gewalt gegen Frauen in Afghanistan unter Strafe gestellt. Nun sei die Lage im Land unübersichtlich, heißt es vonseiten der Hilfsorganisation, die nach Wegen sucht, afghanische Frauen auch weiterhin zu unterstützen.

Für Frauenrechte und gegen sexualisierte Gewalt

Medica mondiale setzt sich seit 1993 für Mädchen und Frauen in Kriegs- und Krisengebieten ein. Die Organisation bietet ihnen sowohl medizinische und psychologische als auch rechtliche Unterstützung und hilft ihnen mit Alphabetisierungskursen, beruflichen Fortbildungen und Starthilfen für Existenzgründungen, finanziell unabhängig zu leben. Die Nicht-Regierungsorganisation kooperiert dazu mit lokalen Fraueninitiativen und Aktivistinnen und qualifiziert Projektmitarbeiterinnen, Fachkräfte und Kooperationspartnerinnen vor Ort. Empowerment ist dabei einer der zehn Grundsätze der Arbeit von medica mondiale und bedeutet frei übersetzt „Hilfe zur Selbsthilfe“. Medica mondiale will Mädchen und Frauen befähigen, selbst Einfluss auf bestehende gesellschaftliche Machtverhältnisse zu nehmen und so ihre eigene Lebenssituation zu verbessern.  

Spendenkonto medica mondiale:
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