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Gesundheits- und Sozialpolitik

Gesetzlicher Neustart beim Maßregelvollzug

22.02.2022 Seite 20
RAE Ausgabe 3/2022

Rheinisches Ärzteblatt

Heft 3/2022

Seite 20

Ende 2021 ist das neue strafrechtsbezogene Unterbringungsgesetz NRW in Kraft getreten. Es löst das über zwanzig Jahre alte Maßregelvollzugsgesetz des Landes ab.

von Jürgen Brenn

Beinahe geräuschlos hat der Landtag Nordrhein-Westfalens am 15. Dezember 2021 einstimmig das „Gesetz zur Durchführung strafrechtsbezogener Unterbringungen in einem psychiatrischen Krankenhaus und einer Entziehungsanstalt in Nordrhein-Westfalen“ (Strafrechtsbezogenes Unterbringungsgesetz NRW) verabschiedet. Das StrUG NRW löst das seit 1999 geltende Maßregelvollzugsgesetz NRW ab. Es ist am 31. Dezember 2021 in Kraft getreten und regelt vor allem die Unterbringung von psychisch erkrankten sowie suchtkranken Straftätern nach § 63 und 64 Strafgesetzbuch.

Erheblicher Erneuerungsbedarf

Die umfassende Überarbeitung des bisherigen Maßregelvollzugsgesetzes wurde nötig, da sich zum einen die wissenschaftlichen Erkenntnisse über den Maßregelvollzug erheblich weiterentwickelt haben und zum anderen das Bundesverfassungsgericht neue Maßstäbe gesetzt hatte. Bereits 2011 hatten die Verfassungsrichter in einer Grundsatzentscheidung gefordert, dass im Maßregelvollzug der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz zu beachten sei. Die Unterbringung der betroffenen Personen solle therapie- und freiheitsgerichtet sein. Das Individualisierungs- und Intensivierungsgebot sei zu beachten. Das heißt, dass es zu Beginn des Maßregelvollzugs einen Vollzugsplan geben muss, der darauf zielt, alle therapeutischen Möglichkeiten auszuschöpfen. Das StrUG NRW sieht vor, dass möglichst innerhalb von sechs Wochen, spätestens nach drei Monaten, ein Behandlungs- und Eingliederungsangebot zu erstellen ist. Das Behandlungs- und Betreuungsangebot müsse eine realistische Entlassungsperspektive eröffnen. Zudem müsse die Unterbringung im Maßregelvollzug sich deutlich vom Strafvollzug unterscheiden, so die Verfassungsrichter.

Landesgesundheitsminister Karl-Josef Laumann sagte im Vorfeld des Gesetzgebungsverfahrens: „Mit dem geplanten neuen Gesetz wollen wir auch künftig eine sichere, rechtsstaatlich korrekte und erfolgreiche Durchführung der Unterbringung sicherstellen.“ Neben dem Schutz der Allgemeinheit sollen mit dem StrUG NRW unverhältnismäßig lange Unterbringungsdauern durch ein verbessertes Behandlungsangebot für die Patientinnen und Patienten vermieden werden, so das Landesgesundheitsministerium zur Zielsetzung. Im Vergleich zum Bundesdurchschnitt sei die Unterbringungsdauer in Nordrhein-Westfalen deutlich zu lang. Beispielsweise sei zwischen 2010 und 2017 die durchschnittliche Verweildauer von 7,6 auf 10,2 Jahre gestiegen, sodass mit weiteren Entlassungen aus Gründen der Unverhältnismäßigkeit zu rechnen sei, schreibt die Landesregierung in der Gesetzesbegründung. Seit 2016 seien aus diesen Gründen 180 Personen aus dem Maßregelvollzug entlassen worden, und zwar „ohne ausreichende Vorbereitung“, so die Landesegierung. Diese Personen hätten „in der Regel therapeutisch nicht ausreichend erreicht werden“ können und wiesen ein „erhöhtes Rückfallrisiko“ auf. Das StrUG NRW sieht nun eine zeitliche Begrenzung der Unterbringung vor, wenn weniger schwerwiegende Gefahren von den Patientinnen und Patienten ausgehen. Dies wird über eine Konkretisierung der Anforderungen an die Dauer der Unterbringung über sechs und zehn Jahre hinaus erreicht.

Neben der Vermeidung unverhältnismäßig langer Unterbringungszeiten sollen durch das StrUG NRW der Schutzanspruch der Allgemeinheit ebenso gewahrt werden wie die Grundrechte der untergebrachten Patientinnen und Patienten. Es regelt unter anderem konkret die Rücknahme von Freiheitsbeschränkungen und richtet sich verstärkt an der gesellschaftlichen Wiedereingliederung aus. Dazu werden Forensische Ambulanzen intensiver als bisher in die Behandlung einbezogen. Ein weiterer Eckpunkt ist die Stärkung des Selbstbestimmungsrechts der untergebrachten Patientinnen und Patienten vor allem bei Fragen ihrer Behandlung. Auch bei notwendigen ärztlichen Zwangsmaßnahmen in der forensischen Praxis sei der häufig in einer Patientenverfügung niedergelegte Patientenwille nach dem neuen Gesetz zu beachten, gibt die Justiziarin der Ärztekammer Nordrhein, Christina Hirthammer-Schmidt-Bleibtreu, zu bedenken. Darüber hinaus hebt das StrUG NRW deutlicher als bisher das „Regionalisierungsprinzip“ hervor, das eine wohnortnahe Behandlungs- und Unterbringungsmöglichkeit für die Patienten vorsieht.

Viel Zustimmung aus den Landschaftsverbänden

Durch das neue Gesetz und die darin enthaltene Betonung der intensiveren Therapieangebote wird das Land schätzungsweise 17 Millionen Euro mehr für den Maßregelvollzug aufwenden müssen. Gleichzeitig rechnet die Regierung damit, dass sich durch die kürzere Verweildauer entsprechende Einsparungen an anderer Stelle ergeben.
Die Landschaftsverbände Rheinland (LVR) und Westfalen-Lippe (LWL), die zusammen zwölf der 14 forensischen Einrichtungen betreiben, in denen jährlich rund 3.000 Patientinnen und Patienten behandelt werden, halten das neue Gesetz für gelungen. Der Gesetzgeber habe viele Anregungen und Vorschläge aus den Landschaftsverbänden aufgegriffen, hieß es dort. Die Pressereferentin des LVR, Karin Knöbelspies, sagte: „Hervorzuheben sind aus unserer Sicht die Stärkung der Rechte der Patientinnen und Patienten und die Absicht des Gesetzes, die Maßregelvollzugs-Patienten schneller wieder in die Gesellschaft zu integrieren.“ LWL-Direktor Matthias Löb stellte im Rahmen des Gesetzgebungsverfahrens fest: „Der Gesetzentwurf gewährleistet eine gute Ausgewogenheit zwischen den berechtigten Sicherheitsinteressen der Gesellschaft und den Rechten von Patientinnen und Patienten in den Maßregelvollzugskliniken.“ Tilmann Hollweg, LWL-Maßregelvollzugsdezernent, hob positiv hervor, dass die schulische und berufliche Förderung der psychisch kranken und suchtkranken Straftäter umfassender als bisher geregelt sei. Bessere Bildung stärke deren erfolgreiche Wiedereingliederung in die Gesellschaft, so Hollweg.