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Interview

„Das bisherige Honorarsystem funktioniert so nicht mehr“

30.01.2023 Seite 21
RAE Ausgabe 2/2023

Rheinisches Ärzteblatt

Heft 2/2023

Die Vertreterversammlung der KV Nordrhein (KVNO) hat in ihrer konstituierenden Sitzung am 22. Oktober 2022 Dr. Frank Bergmann und Dr. Carsten König als hauptamtliche Vorstände für die 16. Amtsperiode (2023 bis 2028) bestätigt. Im Interview sprachen sie darüber, wie sie die Coronapandemie erlebt haben und welche Herausforderungen sie in den kommenden Jahren in der ambulanten Versorgung sehen.

RhÄ: Herr Dr. Bergmann, Herr Dr. König, zunächst einmal herzlichen Glückwunsch zu Ihrer Wiederwahl. Fast die Hälfte Ihrer ersten Amtsperiode war von der Coronapandemie geprägt. Wie haben Sie diese Zeit persönlich erlebt? 
Dr. Frank Bergmann: Wir waren durch diese besondere Situation alle plötzlich mit Aufgaben konfrontiert, auf die wir uns nicht vorbereiten konnten. Wir mussten aus dem Stand heraus sehr viel organisieren, vor allem am Anfang, als es noch keine festgelegten Krisenpläne, keine Schutzmaterialien und Impfstoffe gab. Und das haben wir rückblickend sehr gut hinbekommen, in der KVNO genauso wie in den Praxen. Die Vertragsärztinnen und -ärzte haben mit ihren Teams durch ihr unermüdliches Engagement beim Testen und Impfen dafür gesorgt, dass die Gesellschaft alles in allem gut durch die Pandemie gekommen ist. Als Verwaltung haben wir uns schnell in der Lage gesehen, mit dieser neuen Situation umzugehen. Im ganzen Haus war ein großes Maß an spontaner Bereitschaft spürbar, Aufgaben zu übernehmen, die man vorher noch nie gemacht hat. Wir haben gezeigt: Die KVNO kann auch Krise!

RhÄ: Herr Dr. König, Sie haben die Pandemie nicht nur als Vorstandsmitglied, sondern auch als Hausarzt direkt miterlebt. Wie fällt Ihr Rückblick aus?
Dr. Carsten König: Für mich ist es beeindruckend, wie sich die Kolleginnen und Kollegen mit ihren Praxisteams dieser Ausnahmesituation gestellt haben – mit einem Verantwortungsgefühl und einer Leistungsfähigkeit, die mich dann persönlich auch sehr motiviert hat. Ich habe noch nie in meiner Zeit als Hausarzt so viele Menschen erlebt, die sich in der Praxis bedankt haben. Aber es gab auch die Schattenseiten: Menschen, die sich beim Impfen vordrängeln wollten, die Aggressivität Einzelner gegenüber dem Praxispersonal. Letztlich überwiegen im Rückblick die hellen Seiten. Ich habe tatsächlich Patientinnen und Patienten durch die Praxis tanzen sehen, als sie die erste Impfung bekommen haben. Das war ein außergewöhnliches Erlebnis.

RhÄ: Nicht nur in der Pandemie waren Sie als Krisenmanager gefragt. Es gab außerdem eine Jahrhundertflut, von der viele Praxen in Nordrhein betroffen waren, in diesem Jahr dann den Ukraine-Krieg, um nur zwei Beispiele zu nennen. Mit welchem Blick schauen Sie auf diese Zeit?
König: Zwei Dinge sind dabei genauso beeindruckend wie in der Pandemie: Zum einen die immense Solidarität unter Niedergelassenen nach der Flutkatastrophe, mit der es innerhalb kürzester Zeit gelungen ist, einen Hilfsfonds aufzulegen. Die Spendenbereitschaft unter den Ärztinnen und Ärzten und den Psychologischen Psychotherapeutinnen und -therapeuten war enorm. Zum anderen der Ukraine-Krieg: Bei allen politischen Schwierigkeiten der Integration haben die Praxen die medizinische Versorgung der Geflüchteten nahezu reibungslos in den Arbeits- und Praxisalltag integriert – und das, obwohl es erneut mehr Arbeit für die Kolleginnen und Kollegen bedeutet hat. Dass die Praxen, insbesondere die Medizinischen Fachangestellten, dafür keinerlei Würdigung erfahren, ist überhaupt nicht nachvollziehbar. Eine staatliche Prämie ist nicht nur mehr als angebracht, sondern längst überfällig.
Bergmann: Egal, was kommt: Unsere Praxen standen und stehen immer bereit, sei es beim Testen zu Beginn der Pandemie, später beim Impfen in den Praxen, Heimen und Impfzentren – abends und auch am Wochenende – und bei der Versorgung Geflüchteter. Nun sind sie erneut beim Impfen gefragt, da seit Ende des Jahres die Impfzentren geschlossen sind. Nach der Flutkatastrophe gab es nur ganz kurzfristig Ausfälle. Die Kolleginnen und Kollegen haben improvisiert und in Zelten, Containern und anderen Praxen ihre Patientinnen und Patienten weiterhin versorgt. Es kann nicht sein, dass unsere Praxen über Jahre im Krisenmodus arbeiten, zu 150 Prozent funktionieren und jetzt erleben müssen, dass die Politik sie gewissermaßen am langen Arm verhungern lässt.

RhÄ: Und dann werden mit dem Wegfall der Neupatientenregelung ab 2023 auch noch Leistungen gekürzt …
Bergmann: Vor einigen Jahren hielt unser jetziger Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach noch flammende Reden für die Einführung der Neupatientenregelung und redete eine Zeitenwende herbei, weil GKV-Versicherte nun schneller einen Termin bekommen sollten – was de facto auch eingetreten ist. Wenn so ein wirksames Instrument zur Verbesserung der Patientenversorgung nach gut zwei Jahren wieder kassiert wird, dann ist das erratische Politik und nicht mehr nachvollziehbar. Nach so einer Häufung von Krisen, die wir mit den Praxen bewältigt haben, ist jetzt ein Punkt erreicht, an dem die Kolleginnen und Kollegen von der Politik ein deutliches Zeichen sehen möchten. Es geht dabei nicht um Dank dafür, dass wir engagiert unsere Arbeit gemacht haben. Es geht darum, dass die berechtigten Forderungen – wie sie jede andere Berufsgruppe ebenfalls stellt – auch in der medizinischen Versorgung verwirklicht werden.

RhÄ: Auch die Kassen verschließen sich diesen Forderungen. Der mühsam errungene Honorarabschluss für 2023 ignoriert die hohen Kosten, die die Praxen jetzt und nicht erst in zwei Jahren unter anderem für Energie und Inflationsausgleich stemmen müssen. Ist dieses Honorarsystem mit der nachgelagerten Berücksichtigung betriebswirtschaftlicher Kostenfaktoren noch zeitgemäß?
Bergmann: Die Frage, wie es mit den ärztlichen Honoraren weitergeht, treibt uns in der Tat um. Viele unserer Kolleginnen und Kollegen fragen berechtigterweise, ob das System in dieser Form für uns noch haltbar ist. Und die Antwort heißt: nein! Denn es ist offensichtlich nicht mehr in der Lage, mit den bisherigen Regelwerken die Weiterentwicklung der Finanzierungs- und Vergütungssystematik so zu gestalten, dass Ärztinnen und Ärzte damit zurechtkommen können.

RhÄ: Was bedeutet das aktuell und für die kommenden Jahre? 
Bergmann: Es steht völlig außer Frage, dass im Bereich Honorar Änderungen erforderlich sind – die natürlich auf Bundesebene gestaltet werden müssen. Aber als eine große KV ist Nordrhein in der Verantwortung, dort Einfluss zu nehmen und auch darauf hinzuwirken, dass sich etwas verändert. Es gab nun erste Anläufe auf Bundesebene in Form einer Klausur mit allen KVen, auf die jetzt die nächsten Schritte folgen müssen. Denn nur mit dem öffentlichen Aufstellen von Forderungen ist es ja nicht getan. Es muss zu spürbaren Veränderungen kommen. Für dieses Vorhaben haben wir sehr viel Raum und sehr viel unserer Arbeitszeit vorgesehen.
 

RhÄ: Sie stehen beide vor einer neuen Amtszeit. Wo sehen Sie neben dem Reformbedarf bei der Honorarsystematik in den nächsten Jahren weitere große Herausforderungen?
Bergmann: Eine ist mit Sicherheit die alternde Gesellschaft und damit einhergehend besondere Anforderungen an das Gesundheitssystem – in der Pflege, aber natürlich auch in der haus- und fachärztlichen (geriatrischen) Versorgung. Das Zweite ist, dass die demografischen Veränderungen natürlich auch die Ärzteschaft betreffen – im Krankenhaus genauso wie im vertragsärztlichen Bereich. In der Generation der Babyboomer steht uns eine große Verrentungswelle bevor. Viele Kolleginnen und Kollegen werden in den nächsten Jahren ihre ärztliche Tätigkeit einstellen. 
Wir bilden zwar viele junge Ärztinnen und Ärzte aus, aber die heutige Medizinergeneration hat häufig Lebensentwürfe, die sich von denen unterscheiden, die vor 25 Jahren vielleicht üblich waren. Viele sind nicht mehr bereit, 50, manchmal 60 Stunden und mehr in der Woche zu arbeiten, was früher in den Praxen gang und gäbe war. Das ist ein genereller Trend, nicht nur bei der wachsenden Gruppe der angestellten Ärztinnen und Ärzte, sondern zeigt sich genauso im Krankenhaus und bei Praxisinhabern. Allein um den Status quo zu halten, brauchen wir 20 bis 30 Prozent mehr Ärztinnen und Ärzte. Wir spüren diese Entwicklung sehr deutlich in der hausärztlichen Versorgung, eine ähnliche Entwicklung zeichnet sich in der fachärztlichen Versorgung ab.

RhÄ: Wie kann man diesen Trend aufhalten?
Bergmann: Wir unternehmen schon seit Jahren große Anstrengungen, junge Kolleginnen und Kollegen ins System zu holen - auch in Kooperation mit unserer Schwesternkörperschaft in Westfalen-Lippe, mit den Kammern und mit dem Gesundheitsministerium. Das tun wir zum Beispiel über den Strukturfonds, über Instrumente wie den Quereinstieg und besondere Fördermaßnahmen, die schon bei Medizinstudierenden ansetzen und über die Weiterbildung fortgesetzt werden, bis hin zu unseren umfassenden individuellen Beratungsangeboten. Hier gibt es durchaus Erfolge zu vermelden. Wir müssen diese Anstrengungen aber nun ebenso in den fachärztlichen Bereich ausrollen, weil sich dort ebenfalls – wenn auch etwas zeitversetzt – die gleichen demografischen Probleme zeigen. Zur Attraktivität des Arztberufes in freier Praxis gehört aber fraglos unter anderem ein gesichertes und verlässliches Auskommen in allen Fachdisziplinen. Weitere Zukunftsfragen betreffen den Umgang mit MVZ und Investoren und wie freie Praxen gegen diese bestehen können.
König: Was darüber hinaus in den nächsten Jahren auf uns zukommen wird, ist das, was aktuell unter der Überschrift „Ambulantisierung“ diskutiert wird. Das ist ja ein Wunsch aus dem politischen Raum, aber man hat oftmals das Gefühl, dass dies eher Lippenbekenntnisse sind. Dass sich der ambulante Bereich verändern wird, liegt auf der Hand. Wir werden in den nächsten Jahren Schließungen und das Zurückfahren von Leistungen in Krankenhäusern erleben. Viele dieser vormals stationären Leistungen und ärztlichen Ressourcen werden zwangsläufig ins ambulante System integriert werden müssen. Dieser Ausbau der ambulanten Versorgung ist richtig und notwendig. Es ist auch im Sinne der Patientinnen und Patienten, dass Leistungen, die ambulant erbracht werden können, so auch erbracht werden sollten. Aber das bedeutet natürlich, dass ebenso das Geld in diese Richtung fließen muss.


RhÄ: Ein Bereich, in dem die Verzahnung stationärer und ambulanter Versorgung schon ganz gut funktioniert, ist die Notfallversorgung. Nordrhein ist hier bereits sehr weit gekommen mit den Portalpraxen, die es im Rheinland mittlerweile nahezu flächendeckend gibt. Ein Erfolgsmodell?
Bergmann: Wir sind in der Notfallversorgung durch das Prinzip der Portalpraxen gut aufgestellt. Der Weg der Kooperation mit den Krankenhäusern war der richtige. Die konkrete Zusammenarbeit mit den Kliniken war in allen Regionen problemlos möglich, um eine arbeitsteilige Vorgehensweise zu etablieren. Das war ein erster ganz wichtiger Schritt, auf den weitere folgen müssen, um die Notfallversorgung gut aufzustellen.

RhÄ: Was braucht es noch?
Bergmann: Es zeigt sich – das sieht man exemplarisch in den großen Städten wie Köln –, dass wir insgesamt noch an der Steuerung arbeiten müssen. Dazu gehört eine einheitliche Ersteinschätzung der Behandlungsbedarfe sowohl bei der 112, bei der 116 117 als auch am Krankenhaustresen. Patientinnen und Patienten gehen zunehmend bei Beschwerden direkt in die Klinik, egal, zu welcher Uhrzeit, egal, mit welchem Problem. Sie betrachten das als den einfachsten Weg, zügig versorgt zu werden. Das kann aber auf Dauer nicht funktionieren. Notdienst muss Notdienst bleiben und nicht Regelversorgung – dafür haben wir andere Strukturen. Deshalb bedarf es einer stärkeren Steuerung der Patientinnen und Patienten in die adäquaten Versorgungsbereiche. Das soll über die Callcenter der 116 117 passieren, aber auch vermehrt über digitale Plattformen, die derzeit ans Netz gehen.

RhÄ: In diesen Tagen macht das Bundesgesundheitsministerium viel mit neuen Vorhaben von sich reden. Eines ist die Errichtung von 1.000 Gesundheitskiosken. Eine gute Idee?
König: Der Ansatz, bestimmte Personengruppen – insbesondere in strukturschwachen Gebieten und Großstädten – besser ins Gesundheitssystem zu steuern, ist sinnvoll. Das ist im Grunde das, was bislang die Bezirkssozialdienste machen. Wenn man dann ein Stückchen weiterdenkt, dass dieser Bezirkssozialdienst unter dem moderneren Etikett „Gesundheitskiosk“ mit den Praxen zusammenarbeiten kann, ist auch das eine gute Idee. Wir brauchen im Grunde Teampraxen, also Praxen, an die andere Gesundheitsberufe und -angebote andocken können, mit denen es eine organisierte Kooperation gibt, etwa in Form einer Delegation ausgehend von der Arztpraxis. Dies ist vor allem sinnvoll in Stadtteilen mit Familien, die aus unterschiedlichen Gründen keinen oder einen nur eingeschränkten Zugang zur Versorgung haben. Mittelpunkt der medizinischen Versorgung muss aber die haus- und fachärztliche Praxis bleiben. Die Erbringung ärztlicher Leistungen in Gesundheitskiosken lehnen wir ohne Wenn und Aber ab.

RhÄ: Auch bei der Digitalisierung will die Bundesregierung mehr Tempo machen. Sie hat für Anfang des nächsten Jahres eine Digitalstrategie angekündigt. Wie schätzen Sie das ein?
Bergmann: Über eine belastbare Digitalstrategie würden wir uns freuen. Nach all dem „Trial and Error“ der letzten Jahre und den ganzen Flops, die wir erlebt haben mit verspäteter Lieferung von Konnektoren, die anschließend nicht funktioniert haben, mit unzureichender Finanzierung, mit dem Auslaufen von Zertifikaten, der Notwendigkeit, neue Konnektoren anzuschaffen, obwohl längst nachgewiesen ist, dass man sie ja updaten könnte – ja, wir würden eine durchdachte Digitalstrategie durchaus begrüßen. Allerdings ist dies verbunden mit der Hoffnung, dass diese Strategie dann auch trägt und funktioniert und das hält, was sie verspricht – nämlich eine Verbesserung und eine Entlastung für Patientinnen und Patienten, aber ebenso für die Praxen. Eine Strategie, die darin mündet, dass man ein Rezept nicht mehr auf einem kleinen rosa Zettel, sondern auf einem großen DIN-A4-Blatt als QR-Code ausdruckt, ist keine Digitalstrategie. Hier warten wir also mit Spannung, wie die Politik die Digitalisierung nun anpacken will. Ein kleiner Hinweis aus Nordrhein: Die Politik sollte ihren Fehler nicht wiederholen und über die Köpfe der späteren Anwender hinweg agieren. Oberste Richtschnur müssen Praxistauglichkeit und reibungslose Funktionalität sein. Und die Messe muss natürlich von denen bezahlt werden, die sie bestellen. 

Das Interview führten Thomas Lillig und Jana Meyer
 

Dr. Frank Bergmann 

  • Facharzt für Neurologie, Psychiatrie, Psychotherapie und forensische Psychiatrie aus Aachen 
  • Seit 2017 Vorstandsvorsitzender der KV Nordrhein 
  • Von 2001 bis 2016 erster Vorsitzender des Berufsverbands Deutscher Nervenärzte sowie Vorstandsmitglied der Deutschen Gesellschaft für Psychiatrie, Psychotherapie und Nervenheilkunde und von 2011 bis 2016 Vorsitzender der Vertreterversammlung der KV Nordrhein
     

Dr. Carsten König, M. san. 

  • Facharzt für Allgemeinmedizin in Düsseldorf 
  • Seit 2017 stellvertretender Vorstands-vorsitzender der KV Nordrhein 
  • Bis 2017 Mitglied im Vorstand der Kreis-stelle Düsseldorf der KVNO sowie Mitglied im Vorstand der Ärztekammer Nordrhein