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Arzt sein hinter Gittern

19.05.2023 Seite 16
RAE Ausgabe 6/2023

Rheinisches Ärzteblatt

Heft 6/2023

Seite 16

  • Das Justizvollzugskrankenhaus NRW in Fröndenberg versorgt in seinen vier Hauptabteilungen – Innere, Chirurgie, Psychiatrie und Anästhesie – jährlich rund 3.000 Patientinnen und Patienten stationär und 5.000 ambulant. Über 300 Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, darunter 25 Ärzte, sind dort beschäftigt. © JVK NRW
  • Die medizinisch-technische Ausstattung ist annähernd gleichwertig zu der in einem zivilen Krankenhaus — unter den Sicherheitsstandards einer Justizvollzugsanstalt. © JVK NRW
Wenn Häftlinge erkranken und die Behandlungsmöglichkeiten in ihren Haftanstalten nicht mehr ausreichen, werden sie in das Justizvollzugskrankenhaus NRW in Fröndenberg verlegt. Dabei werden die Anstaltsärztinnen und -ärzte mit Krankheiten und Patientenschicksalen konfrontiert, die vermutlich nur wenige Ärzte aus dem zivilen Arbeitsalltag kennen. 

von Marc Strohm

Wenn Dr. Jochen Woltmann aus dem vergitterten Fenster seines Büros im Erdgeschoss schaut, blickt er auf einen kargen Innenhof, der von einer imposanten Mauer umschlossen ist. Doppelter Widerhakensperrdraht krönt die Mauer, die das gesamte Gelände des Justizvollzugskrankenhauses Nordrhein-Westfalen (JVK NRW) in Fröndenberg, nahe Unna, umringt. Als der Ärztliche Direktor des JVK noch Oberarzt in einer Klinik im benachbarten Menden war, kam er auf seinem alten Arbeitsweg manchmal an diesem grün-orangefarbenen Bau vorbei und hielt die Anlage für ein gewöhnliches Gefängnis, erzählt er im Gespräch mit dem Rheinischen Ärzteblatt. Das JVK NRW gilt als eines der größten und bestgesichertsten Justizvollzugskrankenhäuser in Europa. Der Zufall hat Woltmann schließlich hinter die gut bewachten Mauern geführt. 2011 wurde dem Facharzt für Innere Medizin und Kardiologie in seiner damaligen Klinik der Anruf einer Personalvermittlungsfirma durchgestellt, die Ärztinnen und Ärzte für den Justizvollzug anwarb. Woltmann war interessiert und wurde schließlich Oberarzt am JVK NRW, zweieinhalb Jahre später übernahm er die Stelle des Ärztlichen Direktors. Seitdem gehören Betrüger, Mörder und Sexualstraftäter zu seinen Patienten. Eigentlich seien Gefangene keine schwierigeren Patienten als viele andere, erklärt Woltmann und scherzt: „Manchmal war die Visite auf der Privatstation im zivilen Krankenhaus anstrengender als im JVK.“ Als langjähriger Ärztlicher Direktor kennt er die Eigenheiten seiner inhaftierten Patienten und weiß, worauf er beim Umgang mit diesen achten muss. So verlangten Häftlinge in besonderem Maße nach Ehrlichkeit und Verlässlichkeit. Wenn er einem Häftling eine Untersuchung verspreche und diese nicht am zugesagten Datum durchgeführt werde, unterstellten ihm die Patienten Wortbruch, sagt der erfahrene Gefängnisarzt.

Allerdings unterscheiden sich die Arbeitsbedingungen und das Krankheitsspektrum von dem in den zivilen Kliniken deutlich. Fast 95 Prozent der Patienten, die Woltmann im JVK NRW betreut, sind männlich, die meisten sind jünger als 40 Jahre. Viele von ihnen haben in Freiheit nie Früherkennungsuntersuchungen in Anspruch genommen oder Krankheiten verschleppt. Manche verfügten nicht einmal über eine Krankenversicherung. Als Internist ist Woltmann im JVK NRW für alle Krankheiten zuständig, die sich „im weitesten Sinne mit einer Infusion oder einer Tablette behandeln lassen“, erklärt er. Darunter fallen Bluthochdruck, Herzschwäche, Leberentzündungen und Diabetes. Doch im JVK NRW wird Woltmann auch mit Krankheiten konfrontiert, die er in zivilen Krankenhäusern selten oder gar nicht zu Gesicht bekam. So seien Infektionskrankheiten wie Tuberkulose und Skabies bei Gefangenen verbreitet, aber auch HIV, Hepatitis und Vitaminmangel zählten zu den typischen „Knastkrankheiten.“ Seit einigen Jahren steigt Woltmann zufolge auch die Anzahl der Inhaftierten mit psychischen Erkrankungen, weshalb das JVK NRW künftig weitere Behandlungsplätze in der psychiatrischen Abteilung schaffen werde. Bei vielen Gefangenen sei die Wahrscheinlichkeit für eine psychische Erkrankung aufgrund ihrer häufig schweren Kindheit und erlittener Traumata höher als in der übrigen Gesellschaft. Auch durch den Freiheitsentzug selbst und die damit verbundenen fremdbestimmten Lebensbedingungen könnten Häftlinge körperliche und psychische Symptome entwickeln, die eine Abklärung durch den Anstaltsarzt benötigen. 

Typische Knastkrankheiten

Aber nicht alle Patienten, die bei Woltmann vorstellig werden, leiden an schweren Krankheiten. Unter ihnen befinden sich gelegentlich Inhaftierte, die Krankheiten simulieren, um Hafterleichterungen zu erhalten. So klagten manche Patienten beispielsweise über einen hohen Blutdruck, obwohl sie bereits Blutdrucksenker erhielten, berichtet Woltmann. In diesen Fällen kläre eine Blutuntersuchung, ob der Patient verordnete Medikamente überhaupt einnehme.
 
Weit verbreitet unter Häftlingen ist Woltmann zufolge der Drogenkonsum. In der Vergangenheit sei fast jeder zweite Patient wegen eines Drogenentzugs ins JVK NRW eingeliefert worden. Als Woltmann noch in einem zivilen Krankenhaus arbeitete, seien Drogenentzüge mit Methadon eine Seltenheit gewesen. Im Justizvollzug gehöre die Substitution zum Standard, berichtet er. Häufig seien die Arme der Patienten durch den Drogenkonsum so zerstochen, dass Untersuchungen wie eine Blutabnahme an den gängigen Venen nicht mehr möglich seien und die Ärztinnen und Ärzte zu diesem Zweck die Venen in der Leistengegend oder den Kopf „anzapfen“ müssten.
 
Besondere Priorität hat bei der Arbeit im JVK NRW die Sicherheit. So musste Woltmann vor Antritt seiner Stelle eine Handreichung durcharbeiten, die ihm den sicheren Umgang mit Gefangenen vermittelte. Er weiß, wie er eine Zelle betreten muss, ohne dass ein Häftling diesen Moment zur Flucht nutzen könnte. In gefährliche Situationen ist Woltmann bisher nicht geraten. Nicht zuletzt liege das daran, dass die meisten Inhaftierten das medizinische Personal als Helfer wahrnehmen, ist er überzeugt. „Die Arbeit im JVK NRW ist vermutlich sicherer als die in einem zivilen Krankenhaus“, sagt der Ärztliche Direktor. In einem zivilen Krankenhaus könne man nie ausschließen, dass ein Patient möglicherweise aggressiv reagiere. Im JVK NRW würden alle Gefangenen vor ihrer Ankunft einem gründlichen Screening unterzogen und es werde abgeklärt, ob ein Patient gewalttätig sei und folglich unter besonderen Sicherheitsvorkehrungen untersucht werden müsse. Falls es doch einmal zu einem Angriff kommen sollte, sei schnelle Hilfe von den blau-schwarz-uniformierten Justizvollzugsangestellten zu erwarten. Um die Gefangenen vor sich selbst zu schützen, gibt es auf den weitläufigen Fluren und in den Behandlungsräumen kein alkoholhaltiges Desinfektionsmittel. Vor einigen Jahren sei einmal ein Patient mit einer Alkoholvergiftung aus seiner Justizvollzugsanstalt in das JVK NRW eingeliefert worden, weil er aus Desinfektionsmittel und seinem Apfelshampoo einen „fruchtigen“ Cocktail gemixt hatte, sagt Woltmann zur Begründung. 

 
Gleichwertige Behandlung

Im Gegensatz zu den Patientinnen und Patienten außerhalb der Gefängnismauern, hat ein Großteil der Inhaftierten keine freie Arztwahl. Ausgenommen sind unter anderem Häftlinge in U-Haft, die sich auf eigene Kosten eine zweite Meinung einholen können. Für die große Mehrheit der Inhaftierten ist bei gesundheitlichen Problemen der Anstaltsarzt in ihrer JVA zuständig. Da die Sicherheit im Justizvollzug einen hohen Stellenwert hat, werden nach Möglichkeit alle Krankheiten innerhalb der Mauern behandelt. Für die Diagnostik stehen Ärztinnen und Ärzten in den Haftanstalten ähnliche Möglichkeiten wie in einer hausärztlichen Praxis zur Verfügung, darunter Ultraschallgerät und EKG, erklärt das NRW-Justizministerium auf Anfrage. In das Justizvollzugskrankenhaus werden Gefangene verlegt, wenn die Mittel in den Haftanstalten nicht mehr zur Behandlung ausreichen. Nicht immer wollen die Häftlinge jedoch verlegt werden, denn die Sicherheitsvorkehrungen im JVK NRW sind im Vergleich zu einer JVA strenger.
 
Doch auch das JVK ist in seinen medizinischen Möglichkeiten beschränkt und kooperiert daher mit zahlreichen anderen Fachkliniken außerhalb der Gefängnismauern. Ein wichtiger Grundsatz der Gefängnismedizin ist das Äquivalenzprinzip, wonach Inhaftierten eine gleichwertige medizinische Versorgung zusteht, wie den Bürgerinnen und Bürgern außerhalb der Mauern. Als vorteilhaft empfindet Woltmann dabei, dass es im JVK kein Budget für die medizinische Versorgung der Gefangenen gibt. So könne er ohne ökonomische Zwänge Medikamente und Therapien verordnen. Stolz ist der Ärztliche Direktor auf sein neues Ultraschallgerät, das in einem fensterlosen Behandlungszimmer steht. Die blau gepolsterte Liege, der Computer und die illustrierten Informationszettel an der Wand unterscheiden sich nicht von denen in zahlreichen anderen Krankenhäusern. Nur der mit Panzerglas gesicherte Kontrollraum im Eingangsbereich, wo ein uniformierter Justizvollzugsangestellter den Zugang zu den Behandlungsräumen bewacht, erinnert daran, dass das JVK NRW ein besonderes Krankenhaus ist.
 
Ein Großteil der in NRW beschäftigten Ärztinnen und Ärzte in den Justizvollzugsanstalten ist seit langen Jahren „hinter Gittern“ im Dienst, erklärt das Justizministerium. Die Arbeitsbedingungen seien attraktiv: Die Voll- oder Teilzeitstellen werden unbefristet ausgeschrieben, es gibt keine Wochenend- oder Feiertagsdienste und für Gefängnisärzte besteht die Möglichkeit einer Verbeamtung. Vergütet werden sie nach dem Tarifvertrag TV-Ärzte, in der Regel in der Gruppe Ä2. Trotz dieser vergleichsweise guten Arbeitsbedingungen trifft der Fachkräftemangel jedoch auch die Gefängnisse und das Justizvollzugskrankenhaus hart. In Fröndenberg habe in der Vergangenheit eine Station vorübergehend schließen müssen, da nicht genügend Pflegekräfte vorhanden waren, so Woltmann. Beim ärztlichen Personal gebe es erfreulicherweise noch keine Engpässe. Anders ist die Lage in den 35 Justizvollzugsanstalten des Landes. Dort sind aktuell 14 Stellen unbesetzt.  

Perspektive Gefängnismedizin

Um angehenden Ärztinnen und Ärzten die Gefängnismedizin als berufliche Perspektive nahezubringen, hat das Justizministerium NRW im Dezember 2022 eine Kooperation mit der Universität Witten/Herdecke gestartet. Ziel ist es, die Gefängnismedizin fest in der universitären Lehre zu verankern, denn bisher war diese kein Bestandteil der ärztlichen Aus-, Fort- und Weiterbildung, erklärt Professor Dr. Marzellus Hofmann, Prodekan für Lehre an der Fakultät für Gesundheit der Universität Witten/Herdecke. Die Kooperation umfasst einführende Seminare zum Thema Gefängnismedizin und anschließend Möglichkeiten für zum Teil mehrwöchige Praktika in der Justizvollzugsmedizin im Rahmen des Schwerpunkts „ambulante Gesundheitsversorgung“ im Modellstudiengang Medizin an der Universität Witten/Herdecke. Perspektivisch soll auch die Möglichkeit eröffnet werden Tertial-Anteile des Praktischen Jahres im Justizvollzug zu absolvieren. Studierende der Universität, die bereits ein Praktikum in einer Haftanstalt absolviert hätten, seien von der großen Bandbreite der Gefängnismedizin fasziniert gewesen, sagt Hofmann. 

Dramatische Schicksale

Vielfältig sind dabei nicht nur die Krankheiten, die in der Gefängnismedizin behandelt werden, sondern auch die Schicksale der Patienten. „Das sind Leute, die unter dem Radar leben“, weiß JVK-Direktor Woltmann. Nachdenklich berichtet er von einem Patienten aus der Mongolei, der auf Umwegen nach Deutschland kam, aus fremdenfeindlichen Motiven verprügelt wurde und seitdem unter einer Hörminderung leidet. Die Kommunikation mit ihm sei nur über einen Dolmetscher möglich. Ein anderer Patient war in Zentralafrika Kindersoldat, kam auf einem Boot nach Europa und sei wegen seines völlig anderen Wertesystems nur schwer zu integrieren. Ein weiterer Patient, der ihm besonders in Erinnerung geblieben ist, wurde im Alter von sieben Jahren von seinem Vater nachts vor die Tür gesetzt und verbrachte daraufhin die ganze Nacht in der Schule, wo er auf den Unterrichtsbeginn wartete. All diese Patienten eint ihre kriminelle Karriere. Einige, die immer wieder straffällig werden, begleitet Woltmann bereits seit rund zehn Jahren. Für diese Menschen sei die JVA mit ihrem festen Tagesablauf oft die Endstation im Leben. Zu diesen Patienten pflegt Woltmann ein offenes, fast freundschaftliches Verhältnis. Nur der Kontakt mit Sexualstraftätern ist für ihn eine Herausforderung. In diesem Falle mache er sich stets klar, dass der Staat bereits ein Urteil über den Inhaftierten gesprochen habe und dessen Strafe vollstreckt werde. Es liege an ihm als Arzt dafür zu sorgen, dass der Häftling weiterhin haftfähig bleibe. Schließlich motiviert Woltmann auch das christliche Gebot der Nächstenliebe, jeden Tag seinen Dienst hinter Gittern zu tun. Wenn er nach Feierabend seinen Kasak im Nebenzimmer seines Büros ablegt, sich von seiner Sekretärin verabschiedet, sein Diensttelefon mit Alarmknopf im Schließfach auf dem Korridor deponiert und dann vom uniformierten Justizvollzugsangestellten an der Pforte durch die gläserne Türschleuse auf den Parkplatz in die Freiheit entlassen wird, gibt es nur selten Schicksale, die ihn auch zuhause beschäftigen. Kraft schöpft der Ruhe und Gelassenheit ausstrahlende Klinikdirektor aus seinem Glauben und seiner Familie. Zur Entspannung schaut Woltmann manchmal Filme — besonders gerne mag er die skandinavischen Krimis.

Gefängnisärzte gesucht 

Das Land NRW sucht regelmäßig Ärztinnen und Ärzte, die als Gefängnismediziner arbeiten wollen, insbesondere Allgemeinärzte, 
Internisten oder Fachärzte mit ­allgemeinmedizinischer Erfahrung. Vorteilhaft ist zudem eine Qualifikation in der Suchtmedizin, die auch nach Arbeitsbeginn erworben werden kann.

Kontakt: Dr. Bettina Linde, Medizinalreferat des Ministeriums der Justiz des Landes NRW, E-Mail: Bettina.Linde(at)jm.nrw.de, Telefon: 0211 8792 396 Alternativ können sich Interessierte direkt an die jeweiligen Justizvollzugsanstalten oder das JVK NRW wenden. Weitere Informationen zur Karriere als Anstaltsarzt hat das Justizministerium NRW auf seiner Homepage veröffentlicht: https://www.justiz-karriere.nrw/berufe/justizvollzug/arzt