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Mail aus Bonn

19.05.2023 Seite 10
RAE Ausgabe 6/2023

Rheinisches Ärzteblatt

Heft 6/2023

Seite 10

Lüko Fischer © privat

Ich durchlaufe gerade das vierte Semester und stehe vor dem ersten Staatsexamen, dem Physikum oder wie es offiziell heißt, dem ersten Abschnitt der Ärztlichen Prüfung. Links und rechts spürt man Panik aufkommen, aber noch spricht niemand darüber. Die Prüfung ist zu etwas geworden, dessen Name nicht genannt werden darf. Und alle Muggel wünschten sich, dass man Du-weißt-schon-was mit einfacher Magie besiegen könnte. Nur werden es immer mehr und längere Zaubersprüche, dickere Bücher und vor allem weniger Zeit. Ich werde Du-weißt-schon-was wie Harry Potter nicht im ersten Band endgültig besiegen können, hoffentlich aber auch nicht erst im siebten. Aber ein Semester länger als die Regelstudienzeit nehme ich schon jetzt in Kauf.

Nicht weil ich irgendeine Klausur vermasselt oder zu viele Fehltermine gesammelt hätte, sondern aufgrund von mehreren Überlegungen: Ich will verstehen und anwenden können, statt den Stoff des Physikums einfach auswendig zu lernen. Ich will Präp-Tutor sein, um als netter Besserwisser anderen und mir die Anatomie des Körpers besser erklären zu können. Ich will mehr Zeit für mich haben, mehr Sport treiben, über meinen Tellerrand hinausblicken und vielleicht eine neue Sprache lernen.

Ich lese die vorangegangenen drei Sätze dieses Textes erneut und merke das „Ich will“ sticht heraus. Mich beschleicht der Gedanke, dass das andere Studierende vielleicht auch wollen, aber nicht können. Ich kann mir diese Zeit nur nehmen, weil ich mental und körperlich gesund bin, weil ich tolle Freunde und eine liebevolle Freundin habe, weil ich unterstützende Eltern habe, weil ich auf Ersparnisse zurückgreifen kann, weil ich eine Wohnung habe, weil ich noch nie in einer echten Notlage steckte, weil ich so privilegiert bin.
 
Wie erlebt Ihr das Studium der Humanmedizin? Schreibt mir an medizinstudium(at)aekno.de.