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Wissenschaft und Fortbildung – Aus der Arbeit der Gutachterkommission, Folge 142

Fehler bei der Zirkumzision

14.03.2024 Seite 27
RAE Ausgabe 4/2024

Rheinisches Ärzteblatt

Heft 4/2024

Seite 27

Bei der ambulant durchgeführten medizinisch indizierten Zirkumzision gibt es – neben typischen Komplikationen – auch eine Reihe von Fehlermöglichkeiten. Besonderes Augenmerk ist daher auf die Anforderungen an die Indikationsstellung, die Auswahl der anzuwendenden Operationstechnik, die präoperative Aufklärung und die Nachsorge bei diesem operativen urologischen Eingriff zu legen.

von Joachim Steffens, Hans-Willi Laumen und Tina Wiesener 

Die Gutachterkommission hatte sich in dem Fall einer ambulant durchgeführten operativen Phimosebehandlung insbesondere mit der Frage der Bewertung des postoperativen Komplikationsmanagements und der besonderen Bedeutung der Aufklärung zur Operation und ärztlichen Dokumentation auseinanderzusetzen.

Sachverhalt

Aufgrund einer Entzündung der Vorhaut und Eichel bei Vorhautenge wurde ein 60-jähriger Patient ambulant in örtlicher Betäubung (Peniswurzelblock) in einer urologischen Praxis operiert. Intraoperativ wurden ausgeprägte Verwachsungen des inneren Vorhautblattes mit der Eichel gelöst, das innere Vorhautblatt wurde bis 2 mm vor der Kranzfurche entfernt, die Vorhautblätter wurden anschließend in Einzelknopfnahttechnik vernäht, und es wurde eine Frenulumplastik durchgeführt. Das zur histologischen Untersuchung eingeschickte Vorhautresektat zeigte eine vernarbende Entzündung (Posthitis xerotica obliterans).

Unmittelbar nach Entlassung aus der Praxis trat bei dem Patienten bereits auf dem Weg nach Hause eine stark zunehmende Schwellung und Blauverfärbung im Hodensack und Penis auf, die sich im Verlauf des Nachmittags bis zum Bauchnabel und den Oberschenkeln ausdehnte.
Bei telefonischer Rücksprache in der urologischen Praxis wurden dem Patienten von einer dort tätigen Fachangestellten lokale Kühlung und körperliche Schonung empfohlen. Am Folgetag wurde der Patient, bei dem zusätzlich Kreislauf- und Blutdruckprobleme aufgetreten waren, vom Arzt, der ihn operiert hatte, untersucht; dieser riet zu einem konservativen Vorgehen (kühlende lokale Maßnahmen, Schmerzmedikation). 

Einen Tag später stellte sich der Patient bei weiterhin zunehmender Schwellung und erheblichen Kreislaufproblemen notfallmäßig in einer urologischen Klinik vor. Hier wurden eine massive Schwellung, Rötung und Verhärtung des Hodensackes und Penis festgestellt. Bei erhöhten Entzündungswerten wurde eine stationäre kalkulierte antibiotische Therapie begonnen. 
Fünf Tage später erfolgte dort die operative Drainage eines ausgedehnten infizierten Hämatoms (im mikrobiologischen Nachweis: Staphylokokkus aureus und Proteus mirabilis). Die stationäre antibiotische Therapie erfolgte noch für weitere acht Tage.

Wegen des postoperativ auch nach drei Monaten noch bestehenden unbefriedigenden Genitalbefunds mit Hodensackschwellung, verkürztem Penisschaft und Einschränkungen beim Geschlechtsverkehr suchte der Patient eine urologische Universitätsklinik auf. Hier wurde eine zu kurze Penisschafthaut in Folge der komplikationsträchtigen Vorhautentfernung festgestellt und – weitere drei Monate später – interdisziplinär eine urologische und plastisch-chirurgische Revisionsoperation mit Penisrekonstruktion mit zwei freien, von der Unterbauchhaut entnommenen Hauttransplantaten durchgeführt.
Eine psychiatrische Behandlung wegen Anpassungsstörungen mit Depression war bereits fünf Monate zuvor eingeleitet worden. 

Urologische Begutachtung 

Ob für die durchgeführte Zirkumzision bei möglicherweise bereits präoperativ vorliegender Penisanomalie (zum Beispiel „buried penis“) eine Gegenanzeige zum gewählten operativen Vorgehen vorlag und daher der Wechsel zu einer anderen Operationstechnik notwendig gewesen wäre, konnte vonseiten des urologischen Gutachters aufgrund fehlender präoperativer Dokumentation nicht festgestellt werden. Der vom Operateur als Zirkumzision nach Föderl bezeichnete Eingriff war laut Operationsbericht zwar erklärtes Ziel, diese Technik im vorliegenden Behandlungsfall jedoch nicht angewendet wurde. Bei dem Vorgehen nach Föderl wird nur das verengte Vorhautsegment entfernt und ein ausreichender Vorhautrest erhalten, der einen Großteil der Eichel noch bedeckt. Der Operationsbericht in diesem Fall beschreibt hingegen eine subtotale Vorhautentfernung bis 2 mm oberhalb der Kranzfurche. 

Das Ergebnis der feingeweblichen Untersuchung der entfernten Vorhaut weist allerdings auf eine Besonderheit hin und rechtfertigt die Operationsindikation als solche: Die festgestellte Erkrankung einer Posthitis xerotica obliterans wird auch als Lichen sklerosus et atrophicans bezeichnet und stellt eine seltene, ursächlich unklare Bindegewebserkrankung des äußeren Genitales dar. Das Fortschreiten dieser mit einer Gewebeschrumpfung einhergehenden Erkrankung mit Übergriff auf die Harnröhre kann durch einen Vorhauteingriff vermieden werden.
Als fehlerhaft beanstandet der urologische Gutachter jedoch das Risikomanagement der urologischen Praxis: Die telefonische Mitteilung des Patienten am Operationstag mit Schilderung seines Beschwerdebilds wurde von der Fachangestellten falsch bewertet und eine unverzügliche Mitteilung des komplizierten postoperativen Operationsverlaufs an den Operateur unterlassen. Dieser wiederum bewertete am Folgetag die ausgedehnten sektorenübergreifenden Blutergüsse mit Ausdehnung in die Bauchdecke und Oberschenkel falsch. Eine notfallmäßige stationäre Einweisung zur Revisionsoperation wäre geboten gewesen.  

Das Penisschafthautdefizit kann Folge des postoperativ infizierten Blutergusses sein. Eine frühzeitige operative Reintervention hätte vor einer Sekundärinfektion geschützt, das Penisschaftgewebe erhalten und die später durchgeführte aufwändige Sekundäroperation vermeiden können.  
Der urologische Sachverständige stellte ferner fest, dass ein präoperativer Aufklärungsbogen   des Arztes fehlt, sodass gemäß § 630h Abs. 3 BGB vermutet wird, dass eine Aufklärung auch nicht erfolgte. Darüber hinaus liegt eine ungenügende und widersprüchliche Dokumentation des postoperativen komplizierten Behandlungsverlaufs vor: Auf den Fotografien vom ersten postoperativen Tag, die der  Patient vorlegte, ist eine massive Ausdehnung des Blutergusses über das äußere Genital hinaus in den Unterbauch und die Oberschenkel zu sehen; dies steht im Widerspruch zu der ärztlich dokumentierten Aussage einer Blutergussbildung „subkutan bis Skrotalansatz leichte Schwellung“. 

Juristische Hinweise

Zunächst ist zu klären, ob die unterlassene stationäre Einweisung des Patienten als Diagnosefehler oder als Befunderhebungsfehler einzuordnen ist. Diese Unterscheidung ist wichtig, weil auch ein einfacher Befunderhebungsfehler zu einer Beweislastumkehr für den Kausalzusammenhang zwischen Behandlungsfehler und Gesundheitsschaden führen kann. Die Rechtsprechung stellt insoweit auf den Schwerpunkt der Vorwerfbarkeit des ärztlichen Fehlverhaltens ab. Ein Befunderhebungsfehler ist danach gegeben, wenn die Erhebung medizinisch gebotener Befunde unterlassen oder nicht veranlasst wird. Demgegenüber setzt ein Diagnosefehler voraus, dass der Arzt die medizinisch notwendigen Befunde überhaupt erhoben hat, um sich eine ausreichende Basis für die Einordnung der Krankheitssymptome zu verschaffen. Hat dagegen die unrichtige diagnostische Einstufung einer Erkrankung ihren Grund bereits darin, dass der Arzt die nach dem medizinischen Standard gebotenen Untersuchungen erst gar nicht veranlasst hat, er mithin aufgrund unzureichender Untersuchungen vorschnell zu einer Diagnose gelangt, ohne diese durch die medizinisch gebotenen Befunderhebungen abzuklären, ist dem Arzt ein Befunderhebungsfehler vorzuwerfen. Denn bei einer solchen Sachlage geht es im Kern nicht um die Fehlinterpretation von Befunden, sondern um deren Nichterhebung. Dem Operateur ist deshalb aufgrund der unterlassenen stationären Einweisung ein Befunderhebungsfehler anzulasten.

Bei einer notfallmäßigen stationären Einweisung hätte sich mit hinreichender Wahrscheinlichkeit ein reaktionspflichtiger Befund ergeben, dessen Nichtbeachtung grob fehlerhaft gewesen wäre. Dies hat eine Umkehr der Beweislast hinsichtlich der Kausalität des Behandlungsfehlers für den eingetretenen Gesundheitsschaden des Patienten zur Folge. Die Ungewissheit, wie sich der Behandlungsverlauf bei korrekter Vorgehensweise entwickelt hätte, geht daher zulasten des Operateurs. 

Professor Dr. med. Joachim Steffens ist Stellvertretendes Geschäftsführendes Kommissionsmitglied,Dr. jur. Hans-Willi Laumen ist Stellvertretender Vorsitzender und Dr. med. Tina Wiesener ist Leiterin der Geschäftsstelle der Gutachterkommission für ärztliche Behandlungsfehler bei der Ärztekammer Nordrhein.