Die Beitragssätze in der gesetzlichen Krankenversicherung (GKV) liegen auf Rekordniveau. Trotzdem sind die Kassen leer. Im vergangenen Jahr wies die GKV ein Defizit von rund 6,2 Milliarden Euro auf. Das Problem: Die Einnahmen halten mit den wachsenden Ausgaben nicht Schritt. Strukturreformen sollen das System fit für die Zukunft machen. Auch die Preispolitik der Arzneimittelhersteller steht auf dem Prüfstand.
von Heike Korzilius
Dr. Jochen Post ist besorgt. Den niedergelassenen Onkologen aus Nettetal am Niederrhein treibt ein grundsätzliches Problem seines Fachs um: „Wir verordnen täglich sehr viele, sehr teure Medikamente“, sagt Post im Gespräch mit dem Rheinischen Ärzteblatt. Häufig lägen die jährlichen Therapiekosten bei mehreren zehntausend Euro je Patient. Etwa 1.000 Patientinnen und Patienten versorgen Post und seine Kolleginnen und Kollegen in ihrem Medizinischen Versorgungszentrum im Quartal. „Wenn man diese Kosten hochrechnet auf ganz Deutschland mit zum Teil hochspezialisierten onkologischen Zentren, wird einem schwindelig“, meint Post. „Ich habe die Befürchtung, dass das GKV-System überstrapaziert wird, wenn sich an dieser Preispolitik nichts ändert.“ Im schlimmsten Fall stünden für nachfolgende Generationen von Krebskranken nur noch eingeschränkte Therapiemöglichkeiten zur Verfügung, weil kein Geld mehr da sei. Zumal aufgrund der alternden Bevölkerung die Zahl der Tumorerkrankungen noch ansteigen werde.
Rasante Kostensteigerungen
Zu einer ähnlichen Diagnose kommt der Sachverständigenrat Gesundheit und Pflege in seinem jüngsten Gutachten für die Bundesregierung, das Ende Mai veröffentlicht wurde. Von „rasanten Kostensteigerungen“ ist dort die Rede. Insbesondere für Markteinführungen innovativer Arzneimittel würden immer höhere Preise aufgerufen. Zuletzt entfiel mehr als die Hälfte des Arzneimittelumsatzes auf patentgeschützte Arzneimittel, während ihr Anteil an den Verordnungen auf sieben Prozent zurückgegangen sei, so der Rat. Die Preisentwicklung bei den neu eingeführten Arzneimitteln sei besorgniserregend. Kostete vor 15 Jahren ein patentgeschütztes neues Arzneimittel durchschnittlich 1.000 Euro, lag dieser Wert den Wissenschaftlern zufolge zuletzt zeitweise bei 70.000 Euro. Für neuartige Gentherapien, bei denen es sich oft um Einmaltherapien handele, würden Preise von 200.000 bis drei Millionen Euro aufgerufen. Werde die bisherige Systematik der Bewertung und Bepreisung innovativer Arzneimittel unverändert fortgesetzt, drohe eine Überforderung des Systems, warnt der Rat.
In Summe gaben die gesetzlichen Krankenkassen im vergangenen Jahr 55,25 Milliarden Euro für die Arzneimittelversorgung ihrer Versicherten aus. Die Arzneimittelausgaben sind damit nach der Krankenhausversorgung (102 Milliarden Euro) der zweitgrößte Kostenblock in der GKV. Viel hatten sich Politik und Kostenträger vom Arzneimittelmarktneuordnungsgesetz (AMNOG) versprochen, das 2011 in Kraft trat. Es sah vor, dass nur noch Arzneimittel mit einem Zusatznutzen einen höheren Preis erzielen dürfen als die zweckmäßige Vergleichstherapie. Zwar halten alle Beteiligten die Grundidee des Verfahrens nach wie vor für richtig. Das Ziel der Kostendämpfung wurde hingegen verfehlt. Nach Angaben der Krankenkassen stiegen die Arzneimittelausgaben zwischen 2011 (32 Milliarden Euro) und 2024 um knapp 73 Prozent. Die Kassen machen dafür den Gesetzgeber mitverantwortlich, der Schlupflöcher geöffnet und dadurch dafür gesorgt habe, dass der Erstattungsbetrag nicht „linear“ dem Zusatznutzen entsprechen könne, erklärt der GKV-Spitzenverband auf Anfrage des Rheinischen Ärzteblatts. Für nicht gerechtfertigt halten die Kassen insbesondere das Zusatznutzenprivileg und „damit die garantiert hohen Preise“ für Orphan Drugs. Bei Arzneimitteln gegen seltene Erkrankungen gilt nach dem AMNOG bis zu einer Umsatzschwelle von 30 Millionen Euro im Jahr der Zusatznutzen als belegt. Analysen zeigten jedoch, dass bei Vollbewertung die Hälfte der Orphanpräparate keinen Zusatznutzen nachweisen könne.
Weder die Kassen noch der Sachverständigenrat stellen die Verdienste der pharmazeutischen Industrie infrage. In den letzten Jahrzehnten seien echte therapeutische Fortschritte errungen worden, erklärt der GKV-Spitzenverband. Patienten mit vormals tödlichen Erkrankungen wie HIV und Krebs könnten heutzutage mithilfe innovativer Therapien noch eine lange Lebenszeit erreichen. Zugleich weisen die Kassen aber darauf hin, dass nur manche Arzneimittel solche Fortschritte bringen, die Preise für neue Wirkstoffe hingegen „generell die Bodenhaftung verloren“ haben.
Mehr Macht für die Kasse
Der Sachverständigenrat stellt in seinem Gutachten angesichts der ungebremsten Ausgabendynamik im Arzneimittelmarkt eine Verschärfung des Zielkonflikts zwischen bedarfsgerechter Versorgung der Patienten, Innovationsanreizen für die Pharmaindustrie und nachhaltiger Finanzierbarkeit des Gesundheitssystems fest. Er empfiehlt deshalb, neben einem Globalbudget für patentgeschützte Arzneimittel die Preise stärker an den patientenrelevanten Nutzen zu koppeln. Zudem müsse die Verhandlungsposition des GKV-Spitzenverbandes in den Preisverhandlungen nach der Nutzenbewertung gegenüber den pharmazeutischen Unternehmen gestärkt werden. Derzeit dürfe ein Arzneimittelhersteller bis zum Abschluss des Nutzenbewertungsverfahrens sein Präparat zum von ihm gewählten Preis vermarkten – mit „psychologischer Ankerwirkung“, wie der Sachverständigenrat moniert. Auch könne er ein Medikament vom Markt nehmen, wenn ihm der Erstattungspreis zu niedrig sei. Die Kassen hätten hingegen keine Möglichkeit, von Preisverhandlungen zurückzutreten, weil es preiswertere therapeutische Alternativen gibt. Um das Preisniveau zu senken, schlägt der Sachverständigenrat deshalb vor, die Erstattung zu Herstellerpreisen bei Markteinführung abzuschaffen und stattdessen bis zu einer Einigung zwischen Hersteller und Krankenkassen lediglich den Preis der zweckmäßigen Vergleichstherapie zu erstatten.
Das Argument, dass ein hohes Preisniveau der Wirtschaft förderlich sei, lässt der Sachverständigenrat nicht gelten. Für Standortentscheidungen von Pharmaunternehmen seien nicht hohe Preise, sondern vor allem effiziente Verfahren, gut ausgebildetes Personal und eine funktionierende digitale Forschungsinfrastruktur wichtig. Die Förderung des Pharmastandorts Deutschland durch die Politik sei zwar richtig und wichtig. Sie sei aber nicht Aufgabe der Solidargemeinschaft.
Erstattung nach Erfolg
Der Verband forschender Arzneimittelhersteller (vfa) kann den Empfehlungen des Sachverständigenrats wenig abgewinnen. Sie würden weder dem bestehenden System der Preisbildung und Innovationsförderung noch der Schlüsselrolle der pharmazeutischen Industrie für den Forschungs- und Industriestandort Deutschland gerecht, kritisiert der Verband. Vielmehr gelte es, das AMNOG so weiterzuentwickeln, dass die Versorgungsperspektive und die besonderen Therapiesituationen angemessen berücksichtigt werden könnten. Außerdem plädiert der vfa dafür, den Weg für erfolgsabhängige Erstattungsmodelle zu ebnen. Sogenannte Pay-for-Perfomance-Ansätze böten zum Beispiel bei neuen Gentherapien einen Weg, die Finanzierungsrisiken bei begründet limitierter Evidenz oder bei hohen Einmalkosten partnerschaftlich zu tragen.
Dabei argumentieren die Pharmaunternehmen bei ihrer Preisgestaltung längst nicht mehr mit hohen Forschungs-, Entwicklungs- und Produktionskosten. Der vfa vertritt den Standpunkt, dass die Preise den Wert eines Arzneimittels für den Einzelnen und die Gesellschaft widerspiegeln sollten. Selbst wenn der Anteil der Arzneimittelausgaben an den Gesamtausgaben der GKV von derzeit knapp 18 Prozent in Zukunft steigen werde, sei dies kein Problem, schrieb vfa-Präsident Han Steutel bereits 2021 in einem Aufsatz für den Arzneimittel-Kompass. Es handele sich bei Arzneimitteln um Investitionsgüter, die eine höhere wirtschaftliche Produktivität, Einsparungen von Kosten in anderen Bereichen wie Krankenhaus und Pflege, „und vor allem ein längeres und besseres Leben für uns alle ermöglichen“.
In seiner Praxis in Nettetal betont Dr. Jochen Post, dass er niemals einem Patienten ein Medikament vorenthalten würde, weil er es unter Kosten-Nutzen-Aspekten für zu teuer hält. „Dieses Dilemma können wir Ärztinnen und Ärzte nicht auflösen“, sagt Post. „Bahnbrechende Therapiefortschritte in manchen Bereichen ändern nichts an der Tatsache, dass wir vielfach Medikamente zulassen, die ein gigantisches Geld verschlingen, manchmal das Leben aber nur um einen weiteren Monat verlängern bei vielleicht nicht einmal guter Lebensqualität.“ Post geht es um das richtige Maß. „Da muss es wahrscheinlich in der Gesellschaft, aber auch unter uns Onkologen ein Umdenken geben, eine Akzeptanz, dass manchmal weniger mehr ist.“ Endpunkt in onkologischen klinischen Studien sei noch immer meist das Gesamtüberleben, „egal wie“, sagt Post. „Warum beziehen wir nicht die Lebensqualität und durchaus auch die Kosten vermehrt in die Bewertung einer Therapie ein?“, fragt der Onkologe. „Wenn wir diese Diskussion heute nicht führen, wird uns das früher oder später auf die Füße fallen.“
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Arzneimittel: Preise auf dem Prüfstand
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