Viele „Verschickungskinder“ kehrten in den 1950er- bis 1980er-Jahren traumatisiert aus ihren Erholungs- oder Kuraufenthalten nach Hause zurück. Die Betroffenen leiden oft auch noch Jahrzehnte später unter den Folgen. Die mittlerweile stattfindende Aufarbeitung macht die Dimension des Geschehens deutlich.
von Thomas Gerst
Vieltausendfach ist die Zahl der Erwachsenen, die seit einigen Jahren auf öffentlich zugänglichen Seiten im Internet Zeugnis ablegen über das, was sie als Kinder bei ihren in der Regel ärztlich verordneten Erholungs- und Kuraufenthalten erlitten. Die Autorin und Sozialpädagogin Anja Röhl, selbst Betroffene, löste offenbar mit ihrem im Jahr 2021 erschienenen Buch „Verschickungskinder“ und der zugrundeliegenden Umfrageaktion eine Lawine weiterer Erfahrungsberichte sowie eine Vielzahl von Veröffentlichungen zu dem Thema aus. Diese machen zunehmend das Ausmaß des Geschehens sichtbar. Es sind keine beklagenswerten Einzelfälle, die nur einen Bruchteil der in den Jahren von 1950 bis 1990 rund zehn Millionen verschickten Kinder betrafen. Man muss vielmehr ein systematisches Versagen der beteiligten Institutionen konstatieren, wodurch Kindern in vielfältiger Weise Schaden zugefügt wurde. Auch Ärztinnen und Ärzte waren Akteure in einem System, das mit repressiver und disziplinierender Pädagogik- die Kinder auf den rechten Weg bringen wollte.
Es ist ein stets gleicher Katalog von Erziehungs- und Bestrafungsmaßnahmen, an die sich die Betroffenen oft auch noch nach Jahrzehnten erinnern. Ein im Mai 2025 vorgestellter Forschungsbericht im Auftrag von Deutscher Rentenversicherung, Deutschem Caritasverband e. V., Deutschem Roten Kreuz und Diakonie Deutschland, die sich als Trägerorganisationen der Kurheime zur Aufarbeitung des Verschickungswesens verpflichtet sahen, beschreibt die in Interviews mit Betroffenen und in überlieferten Akten erfassten missbräuchlichen Praktiken. Es gebe deutliche Hinweise auf „verbreitete und strukturell bedingte Missstände“ heißt es zusammenfassend in dem Forschungsbericht. Vorherrschend sei ein auf Ordnung und Disziplin ausgerichteter Umgang mit den Kindern gewesen. Als fast schon regelhaft genannt werden der Essenszwang, die rigiden Schlafvorschriften, der Zwang zur Einhaltung fester Toilettenzeiten und die bei Zuwiderhandlung fälligen Strafen, oft verbunden mit der Androhung oder Ausführung von körperlicher und psychischer Gewalt. Es habe zahlreiche Hinweise auf die zwangsweise Gabe von Medikamenten gegeben. Hingewiesen wird in dem Forschungsbericht auch auf das meist rigoros überwachte Kontaktverbot zu den Eltern während des in der Regel sechswöchigen Kuraufenthalts, was bei vielen Kindern – häufig noch im Vorschulalter – mit dazu beigetragen haben wird, dass die Kinderverschickung als traumatisch empfunden wurde. Allerdings verweist der Forschungsbericht auch auf die große Heterogenität der Kureinrichtungen, sodass nicht überall von den genannten Missständen auszugehen sei; es gebe durchaus auch positive Erinnerungen von Verschickungskindern. Der online verfügbare knapp 800-seitige Forschungsbericht (www.drk.de, Suchbegriff: Verschickungskinder) ist der vorläufige Abschluss einer Reihe wissenschaftlicher Aufarbeitungen zum Thema Kinderverschickungen; so liegen zum Beispiel auch von der DAK und der Barmer in Auftrag gegebene Forschungsarbeiten vor. Diese kommen zu ähnlichen Ergebnissen. So sieht Professor Dr. phil. Hans-Walter Schmuhl, der die Abläufe der von der DAK durchgeführten oder bezuschussten Kinderkuren untersuchte, auf der Grundlage von Interviews ein breites Spektrum von Gewaltformen in den Kurheimen mit länger anhaltenden psychischen Folgen für die Betroffenen. „Nachweisbar sind die rigorose Abschottung der Kurkinder von der Außenwelt, eine ständige Kontrolle, die Unterwerfung unter rigide Tagesstrukturen, die Wegnahme persönlicher Gegenstände, …, verbale Herabsetzungen, Drohungen, demütigende Strafen, die Bloßstellung des nackten Körpers sowie massive Formen körperlicher Gewalt, von Ohrfeigen über das Einsperren in einem Besenschrank oder das gewaltsame Eintrichtern von Erbrochenem bis hin zu massiven sexuellen Übergriffen.“
Auf den Druck von Betroffenen-Initiativen reagierte auch die Politik; in Baden-Württemberg und Nordrhein-Westfalen wurden unter deren Beteiligung Runde Tische eingerichtet. Auch im Koalitionsvertrag zwischen CDU/CSU und SPD von Mai 2025 fand das Thema „Verschickungskinder“ Eingang. Man wolle die Aufarbeitung der Misshandlungen von Kindern bei Kuraufenthalten zwischen 1950 und 1990 durch die „Initiative Verschickungskinder“ unterstützen, heißt es dort eher unverbindlich. Im März 2024 hatte sich der Familienausschuss des Deutschen Bundestages unter Hinzuziehung von Expertinnen und Experten mit dem Thema befasst. Zusammenfassend wurde in dem Sitzungsbericht darauf hingewiesen, dass die Verschickung in ein Kindererholungs- oder Kurheim eine medizinische Maßnahme gewesen sei. Diese sei auf ärztliche Verordnung durchgeführt worden, der Aufenthalt habe in ärztlich-pflegerisch geleiteten Einrichtungen stattgefunden, also müsse sich auch der Gesundheitsausschuss damit auseinandersetzen.
Ärztlich verordnete Kinderkuren
In der Tat waren Ärztinnen und Ärzte maßgeblich an der Inanspruchnahme und inhaltlichen Ausformung des Verschickungswesens beteiligt. Sie verordneten die Kuren der Kinder, überprüften als Amtsarzt oder Arzt des Vertrauensärztlichen Dienstes der Krankenkassen die Kurbedürftigkeit oder waren Leiter der Kurheime. Für Professor Dr. phil. Marc von Miquel, der 2022 im Auftrag des Ministeriums für Arbeit, Gesundheit und Soziales des Landes Nordrhein-Westfalen eine Studie zu den Verschickungskindern vorlegte, war die Kinderheilkunde die tonangebende Profession unter den Expertengruppen, die das Verschickungswesen steuerten. Es seien vor allem die Leiter großer Kureinrichtungen gewesen, die mit Aufsätzen und Studien an die Öffentlichkeit getreten und mit ihrem Deutungsanspruch weit über gesundheitsbezogene Fragestellungen hinausgegangen seien. Waren es im Nachkriegsjahrzehnt noch Mangelerkrankungen oder Infektionen wie etwa Tuberkulose, zu deren Behandlung die Kinder zur Kur geschickt wurden, so sieht von Miquel für die Folgezeit eine Indikationsausweitung, die nicht zuletzt auf Betreiben maßgeblicher Protagonisten der Kinderheilkunde in dieser Zeit zustande kam. Beispielhaft nennt er den Pädiater Professor Dr. Kurt Nitsch, in den 1960er- und 1970er-Jahren Vorsitzender der Deutschen Gesellschaft für Sozialpädiatrie, der sich 1964 in einem Standardwerk zur Durchführung von Kinderkuren (Sepp Folberth [Hg.], Kinderheime, Kinderheilstätten, 1. Auflage 1956, 2. Auflage 1964) für die vermehrte Berücksichtigung der „sozialen Indikation als Verschickungsdiagnose“ ausgesprochen habe. Grundsätzlich sei dem Leben in der Stadt ein gesundheitsschädigender Einfluss auf das heranwachsende Kind zugesprochen worden. Originalton Nitsch: „Wir dürfen uns auf den Standpunkt stellen, dass jedes Stadtkind, insbesondere jedes Großstadtkind der ‚Erholung‘ bedarf. D.h. einmal jährlich sollten diese Kinder mindestens Gelegenheit haben, den Dunstkreis der Zivilisation zu verlassen, um sich in der Lebensfrische der Landschaft auszutoben.“
Speziell in den Blick fasste Nitsch dabei Kinder aus nach seiner Vorstellung schwierigen Lebensverhältnissen, etwa „Kinder mit ausgesprochenem Wohnungs- und Milieuschaden (auch in psychischer Hinsicht); Kinder von berufstätigen Müttern, die den Lebensunterhalt bestreiten müssen; Kinder aus kinderreichen, wirtschaftlich schwachen Familien; Kinder aus geschädigten und gestörten Familien“. Als Klientel scheint dabei alles subsumiert, was jenseits der gesellschaftlich anerkannten Norm aufwuchs. Von Miquel sieht hier einen „repressiven Grundzug der wohlfahrtsstaatlichen Intervention“. Kinder sollten einem für sie schädlichen Milieu entrissen werden und fernab von der Familie auf den rechten Weg gebracht werden. Vor diesem Hintergrund erscheint es nur folgerichtig, dass viele Kinder bereits im Vorschulalter für einen Zeitraum von sechs Wochen aus ihrem gewohnten Lebensumfeld heraus in eine Kureinrichtung gebracht wurden. Es sei darum gegangen, „die Kinder so lange aus dem vermeintlich schädlichen Herkunftsmilieu herauszuholen, bis dessen pathogene Wirkungen abgeklungen waren“, brachte Hans-Walther Schmuhl die Sichtweise führender Vertreter der Sozialpädiatrie in einem Redebeitrag beim Fachkongress „Das Elend der Verschickungskinder“ im September 2022 auf den Punkt. Um die so verstandene Gesundung der Kinder voranzutreiben, wurde in dem von Folberth herausgegebenen Buch die Einhaltung eines streng reglementierten Tagesablaufs empfohlen. Auch zur Disziplinierung finden sich hier die geeignet erscheinenden Mittel; Dr. Hans Kleinschmidt, Ärztlicher Direktor des DRK-Kindersolbads Bad Dürrheim, unterbreitete detaillierte Vorschläge zur Bestrafung nach Ordnungsverstößen. Ärztlich empfohlen wurden beispielsweise Entzug von Zuwendung, Isolation, Verächtlichmachen vor den anderen Kindern, Wasser und Brot statt einer Mahlzeit, Schläge nur ausnahmsweise (dann aber nicht ins Gesicht). Es habe in der Konzeption der Kinderkuren gelegen, „den verschickten Kindern die gesellschaftliche Ordnung in Körper und Seele einzuschreiben“, formuliert es Schmuhl.

Langzeitfolgen bei Erwachsenen
Ehemalige Verschickungskinder, die auf Internet-Plattformen über ihren Kuraufenthalt berichten, sehen in den traumatischen Erfahrungen in diesen Wochen die Ursache für gesundheitliche Langzeitfolgen, insbesondere Depressionen, Ess- und Schlafstörungen. Für viele bedeutet die Wiederbefassung mit diesem Thema eine schwere psychische Belastung. Welche gesundheitlichen Folgen Kindheitstraumata im Erwachsenenalter haben können, zeigen die Ergebnisse der im vergangenen Jahr im Deutschen Ärzteblatt veröffentlichten NAKO-Gesundheitsstudie. Auf der Grundlage der Daten von rund 157.000 Teilnehmenden wurde der Zusammenhang zwischen Kindheitstraumata und unterschiedlichen somatischen und psychischen Erkrankungen untersucht. Hierbei zeigte sich, dass die Personen, die über Kindheitstraumata berichteten, nicht nur eine erhöhte Diagnosewahrscheinlichkeit für Depression und Angsterkrankungen (Odds Ratios: 2,36 und 2,08) aufwiesen, sondern auch für somatische Erkrankungen, wie beispielsweise Schlaganfall (OR: 1,35) oder chronisch obstruktive Lungenerkrankung (OR: 1,45).
Vor dem Familienausschuss des Deutschen Bundestages berichtete die Psychologin Professor Dr. Ilona Yim über ihre Forschungen zu den Spätfolgen solcher Aufenthalte. Ihre Online-Befragung einer Betroffenengruppe habe für das Vorliegen depressiver Symptome einen Wert von 55,5 Prozent ergeben und liege damit um ein Mehrfaches über dem Durchschnittswert von zehn bis 15 Prozent für die deutsche Gesamtbevölkerung. Aus der Befragung gehe auch hervor, dass die ehemaligen Verschickungskinder eher aus bildungsferneren Familien stammten, deutlich höhere Scheidungsraten aufwiesen als die nichtbetroffene Vergleichsgruppe und weniger Nähe zu ihren Eltern empfanden.
Der Kinder- und Jugendpsychotherapeut Arne Burchartz sieht in der Art und Weise, wie mit Verschickungskindern umgegangen wurde, ein hohes Risiko der kumulativen Traumatisierung. Für viele von ihnen, vor allem für die Kinder im Vorschulalter, habe bereits die Trennung von den Bezugspersonen über einen relativ langen Zeitraum eine traumatische Erfahrung bedeutet. Dies sei auch nicht durch einen liebevollen Umgang in den Kurheimen aufgefangen worden, habe das pädagogische Personal doch eher auf eine gefühlsarme disziplinierende Betreuung gesetzt. Auf den ersten Schock der Trennung seien dann weitere Traumatisierungen durch demütigende Strafen bei Verstößen etwa gegen die Essens- oder Toilettenvorschriften gefolgt. Viele Kinder seien dann in ihrer Verzweiflung einfach verstummt, oft auch als gebrochene und depressive Kinder nach Hause gekommen.