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Wissenschaft und Fortbildung – Aus der Arbeit der Gutachterkommission – Folge 145

Fehlerhaftes Komplikationsmanagement nach Wirbelsäulenoperation bei sagittaler Imbalance

15.01.2025 Seite 26
RAE Ausgabe 2/2025

Rheinisches Ärzteblatt

Heft 2/2025

Seite 26

Bei Wirbelsäulenoperationen aufgrund einer sagittalen Imbalance gibt es – neben typischen Komplikationen – auch eine Reihe von Fehlermöglichkeiten. Bei diesen komplexen wirbelsäulenchirurgischen Eingriffen muss aufmerksam auf die Indikationsstellung, die Wahl der anzuwendenden Operationsmethode(n), die präoperative Aufklärung, aber insbesondere auch auf das Komplikationsmanagement geachtet werden.

von Andreas Krödel, Burkhard Gehle und Tina Wiesener 

Eine sagittale Imbalance der Wirbelsäule – als Abweichung von einem normalen, physiologischen Wirbelsäulenprofil – liegt vor, wenn sich die Krümmungen der Wirbelsäule (Lordose der Lenden- und Halswirbelsäule und Kyphose der Brustwirbelsäule) zum Beispiel infolge vorbestehender idiopathischer Skoliose, früherer Rückenoperationen, Traumata oder auch Degeneration beziehungsweise Muskelschwäche so verändern, dass die Wirbelsäule tendenziell nach vornüber kippt. Die aufrechte Körperhaltung beim Stehen und Gehen wird dabei durch unbewusst ablaufende muskuläre Kompensationsmechanismen wiederhergestellt, was eine Asymmetrie der lumbalen Bewegungselemente und zusätzlich eine Retroversion des Beckens nach sich ziehen kann.

Die kyphotische Haltung mit Zugbe­lastung der dorsalen Elemente und Druckbelastung der ventralen Elemente führt zu einer unökonomischen Haltung und schnelleren Ermüdung der Rückenmus­kulatur. 
Neben anderen Faktoren bewirken insbesondere die eintretende Fehlstellung der Nachbarsegmente und die unphysiologische Lastverteilung eine besondere Belastung ligamentärer, vertebragener und myogener Strukturen mit der Folge von Schmerzen und Funktionseinschränkungen bis hin zur Immobilität. Nachlassende Muskelkraft, individuelle Faktoren, aber auch ein höheres Lebensalter begünstigen diese Entwicklung.
Die häufigste Indikation zur Operation ist die deutliche Einschränkung der Lebensqualität, maßgeblich verursacht durch chronische Schmerzen. Mit der Operation wird eine Rebalancierung des sagittalen Profils der Wirbelsäule durch Verlängerung der ventralen und Verkürzung der dorsalen Säule unter ausreichender Dekompression der neuralen Strukturen angestrebt.
Die Gutachterkommission hatte sich im Fall einer operativen Behandlung einer schweren sagittalen Imbalance insbesondere mit der Bewertung des postoperativen Komplikationsmanagements auseinanderzusetzen.

Behandlungsfehlervorwurf

Den behandelnden Ärzten einer orthopädischen Klinik wurde von einem 58-jährigen Patienten vorgeworfen, bei der Operation einer ausgeprägten sagittalen Imbalance fehlerhaft vorgegangen zu sein. Der vereinbarte Operationsumfang, insbesondere die Pedikelsubtraktionsosteotomie (PSO), sei nicht durchgeführt worden. Postoperative Beschwerden, insbesondere Klagen über eine Fußheberschwäche rechts bereits ab dem ersten postoperativen Tag, seien unberücksichtigt geblieben. Es sei daraufhin zwar eine Computertomografie (CT) der Wirbelsäule angefertigt worden, der Operateur sei aber zu der unzutreffenden Auffassung gelangt, dass „alles in Ordnung“ sei, die Nerven wahrscheinlich „gereizt“ seien und die eingebrachten Schrauben „nicht an den Nerv stoßen“ würden. Bei der Nachuntersuchung durch den Operateur habe dieser acht Wochen später nochmals bekräftigt, dass die beiden Schrauben im Bereich des 5. Lendenwirbels (L5) nicht ursächlich für die Fußheberparese seien. Erst im Rahmen der hausärztlichen Weiterbehandlung mit Überweisung zur neurologischen und neurochirurgischen Abklärung sei die Fußheberschwäche ursächlich auf eine Schraubenfehllage L5 rechts zurückgeführt und anhand der nach der Operation erstellten Röntgen­bilder festgestellt worden, dass noch immer eine sagittale Imbalance bestehe. Es sei eine Korrektur der Schraubenfehllage empfohlen worden, ohne jedoch Hoffnung auf eine Erholung der geschädigten nervalen Strukturen machen zu können. Diese Einschätzung sei im weiteren Verlauf bestätigt worden. Der Patient leide nach wie vor an der Fußheberschwäche rechts und habe starke Schmerzen, sogar noch mehr als vor der Operation.

Sachverhalt

Laut den Behandlungsunterlagen der belasteten Klinik wurden bei der Erstvorstellung im Oktober 2022 eine schwere ­sagittale Imbalance bei lumbaler Kyphosierung und eine zervikale Myelopathie bei Spinalkanalstenose diagnostiziert. Anamnestisch bestand seit einem Jahr eine ausgeprägte Gangstörung mit deutlicher Kraftlosigkeit in den Beinen, am ehesten als Zeichen einer Dekompensation. 
Die kernspintomografische Untersuchung der Lendenwirbelsäule (LWS) von August 2022 zeigte erhebliche multisegmentale degenerative Veränderungen mit neuroforaminalen Stenosierungen, insbesondere bei L4/5 und L5/S1 beidseits, ohne Vorliegen einer zentralen Spinalkanalstenose höheren Ausmaßes. Eine Magnetresonanztomografie (MRT) der Brustwirbelsäule aus dem März des gleichen Jahres ergab einen medianen thorakalen Bandscheibenvorfall T7/8 ohne Zeichen der Myelopathie; ein zusätzliches MRT der Halswirbelsäule zeigte eine relative Stenosierung bei C5/6 und C6/7 im Sinne einer Spinalkanalste­nose der Halswirbelsäule. 
Es wurde eine komplexe multifaktorielle Erkrankung der Wirbelsäule mit im Vordergrund stehender sagittaler Imbalance festgestellt; vorgeschlagen wurde eine operative Versorgung über eine PSO L4 und eine dorsale Instrumentierung L1-S2 mit Ala-Ilium-Schrauben. Der Patient wurde darauf hingewiesen, dass es sich um einen sehr großen Eingriff handele, und es wurde die Einholung einer Zweitmeinung empfohlen.  
Im März des Folgejahres wurde der Patient in der beklagten Klinik aufgenommen. Drei Tage vor dem Eingriff wurde ein schriftlich dokumentiertes Aufklärungsgespräch mithilfe des Aufklärungsbogens „Stabilisierende Operationen bei Verschleiß/Fehlstellung (Lendenwirbelsäule, Übergang Brust-Lendenwirbelsäule)“ (Thieme Compliance) geführt. Dieser beschreibt die geplanten Operationsschritte sowie die Risiken, Komplikationsmöglichkeiten und Erfolgsaussichten und bein­haltet unter „weitere Maßnahmen“ die ­Einträge „PSO“ und „dynamische Fixa­tion“. 

Gemäß Operationsbericht über den drei Tage später erfolgten Eingriff wurden eine komplexe „Re-Lordosierungsspondy­lodese T10-S1 mit spinopelviner Verbindung“ und eine „TLIF L2-S1“ (Transforaminale Lumbar Interbody Fusion) zur Ver­steifung der Wirbelsäule, jedoch keine PSO und auch keine dynamische Fixation durchgeführt.

Am Abend nach der Operation beklagte der Patient zunächst eine Armhebeschwäche links und am Folgetag ein neu aufgetretenes Taubheitsgefühl im Bereich der rechten Finger D1 bis D3, aber vor allem eine Fuß- und Großzehenheberschwäche rechts, die Anlass für eine CT am ersten postoperativen Tag war. Dabei zeigte sich bei L5 eine Tangierung des Recessus beidseits durch den Schraubenverlauf, der Reserveraum für die intraforaminalen Wurzeln wurde allerdings als ausreichend beurteilt und der Schraubenverlauf im späteren Entlassungsbrief als „ohne klinische Relevanz“ bewertet. Die beklagte Fußheberparese rechts mit einem dokumentierten Kraftgrad II/V und die Großzehen­heberschwäche rechts, Kraftgrad I/V, wurden vom Operateur auf die durchgeführte Lordosierung der LWS bei gleichzeitig vorhandener zervikaler Myelopathie zurückgeführt und als Neuropraxie gewertet. 
Bei einer Kontrolluntersuchung zwei Monate nach der Operation wurde vom Operateur ein zeitgerechter Heilungsverlauf attestiert, für die Fußhebeschwäche allerdings keine Besserung festgestellt. Im Arztbrief wurde auf die Aussage des Patienten verwiesen, er komme mit der Fußheberschwäche gut zurecht. Der Patient bestritt, diese Aussage gemacht zu haben. Er stellte sich in einer anderen orthopädischen Klinik zur Einholung einer Zweitmeinung vor. 
Dort wurde eine Schraubenfehllage L5 rechts, mit Fußheberschwäche rechts und positivem Trendelenburgzeichen rechts, bei weiterhin bestehender sagittaler Fehlstellung und vorliegenden tiefen lumbalen Rückenschmerzen festgestellt. Zur Verbesserung der Situation wurde eine Umpositionierung der Pedikelschrauben L5 und L4 sowie eine PSO L4 vorgeschlagen. Bei einer ergänzend hierzu eingeholten neurochirurgischen Einschätzung vom gleichen Tag wurde die Fußheberschwäche rechts auf die Pedikelschraubenfehllage L5 zurückgeführt und ebenfalls eine erneute Operation mit Schraubenkorrektur und Osteotomie der Wirbelsäule zur sagittalen Balancierung empfohlen. In der schließlich konsultierten orthopädischen Universitätsklinik wurde gleichlautend zu den vorangegangenen Einschätzungen eine Dekompression der Nervenwurzel L5 rechts und eine Korrekturosteotomie in Betracht gezogen, allerdings erst nach Scheitern einer vorangestellten konservativen Therapie. Zur Linderung der Schmerzen wurde eine Thermokoagulation des Iliosakralgelenks beidseits empfohlen. Elektromyografisch bestand knapp vier Monate nach der Operation eine floride Denervierung der Wurzel L5 rechts und Mm. tibialis anterior und posterior rechts. 

Begutachtung 

Der Sachverständige stellte fest, dass zum Zeitpunkt der ersten Vorstellung des Antragstellers in der orthopädischen Klinik klinisch und radiologisch eine eindeutige sagittale Dekompensation der Wirbelsäule aufgrund eines multisegmentalen Bandscheibenschadens, vorwiegend in der LWS, bestanden habe. Unter anderem hätten die Störungen des sagittalen Profils der Wirbelsäule zu einer Verschiebung des Körperschwerpunkts nach ventral und somit zu einer Erhöhung der Sturzgefahr geführt, sodass es dem fachärztlichen Standard entsprochen habe, dem Patienten eine komplexe Korrekturoperation vorzuschlagen. Sowohl die Indikationsstellung als auch die Vorbereitung der dann nach umfassender Aufklärung drei Tage später durchgeführten Korrekturoperation hätten fachärztlichem Standard entsprochen.
Gemäß Operationsbericht wurden nach dem Freilegen des Operationsbereichs die geplanten Pedikelschrauben in Freihandtechnik appliziert und intraoperativ kon­trolliert. Zur Korrektur der Deformität und Dekompression der spinalen Stenosierungen seien mehrsegmentale Smith-Petersen-Osteotomien mit ventraler Abstützung in vier Segmenten erfolgt, sodass eine ­Gesamtkorrektur von etwa 40 Grad erreicht werden konnte. Unter Berücksichtigung der pelvinen Parameter hätte eine Kor­rektur der Lordose von insgesamt etwa 50–60 Grad erreicht werden müssen, um die Wirbelsäule insgesamt zu balancieren. Dies hätte allerdings eine deutliche Er­weiterung des Eingriffs und Erhöhung der Belastung des Patienten bedeutet, sodass auf eine ergänzende PSO verzichtet worden sei. 

Die Abweichung von der im Aufklärungsformular erwähnten PSO und dynamischen Fixation berührt die Frage nach dem Inhalt des Behandlungsvertrags, den ärztlichen Informationspflichten aus § 630c Abs. 2 S. 1 BGB, den Aufklärungspflichten nach § 630e Abs. 1 BGB und der Einwilligung des Patienten in den Eingriff nach § 630d Abs. 1 BGB. Nach den Umständen der vorbereitenden Gespräche hätten die Eintragungen in das Formular aus der verständigen Sicht des Patienten dahin verstanden werden müssen, dass es sich bei den erwähnten Maßnahmen lediglich um Möglichkeiten des operativen Vorgehens handelte, deren sachliche Rechtfertigung sich erst im Zuge des Eingriffs selbst klären ließ, sodass der Verzicht des Chirurgen hierauf weder eine Abweichung vom Behandlungsvertrag noch von den Voraussetzungen der Einwilligung darstellte.

Der Gutachter betonte, dass insoweit ein vorwerfbarer Behandlungsfehler nicht vorliege. 

Auch die intraoperative radiologische Kontrolle der Lage der Pedikelschrauben habe während der Operation keine eindeutige Fehllage der Schrauben gezeigt. 
Ausweislich des Verlegungsberichts von der Intensivstation bestanden allerdings mit Beginn des ersten postoperativen Tages neurologische Symptome im Bereich der unteren Extremität, zunächst als starke Schmerzen in der rechten Wade, später als eine Fuß- und Großzehenheberparese rechts, sodass die Indikation zur CT-Untersuchung zutreffend gestellt wurde. Hierbei wurde eine Fehllage der Pedikelschrauben L5 beidseits mit Tangierung des Rezessus und damit des Nervenwurzelkanals festgestellt. 

Dieser Befund sei, so der Sachverständige, von den behandelnden Ärzten jedoch nicht als Auslöser für die bestehende neuro­logische Symptomatik interpretiert worden, da der Reserveraum für die Nervenwurzel gegenüber dem präoperativen Befund in der Bildgebung erweitert gewesen sei. Stattdessen sei der neurologische Schaden auf eine korrekturbedingte Neuro­praxie der Nervenwurzel L5 rechts zurückgeführt worden. Auf eine entsprechende Information des Patienten und das Angebot der operativen Korrektur der Pedikelschrauben L5 sei verzichtet worden. 

Vom Sachverständigen wurde hierzu festgestellt, dass mit überwiegender Wahrscheinlichkeit die eingetretene neurologische Symptomatik mit der Fehllage der Pedikelschraube L5 rechts verbunden gewesen sei. Dementsprechend hätte die Korrektur der Pedikelschraubenlage oder die Entfernung der Pedikelschraube im Rahmen des initialen stationären Aufenthalts die Möglichkeit der Minderung des neurologischen Schadens geboten. 
Die Dokumentation enthält allerdings keinen Hinweis darauf, dass diese Möglichkeit überhaupt in Erwägung gezogen oder gar mit dem Patienten erörtert wurde. Der Gutachter schloss hieraus auf ein behandlungsfehlerhaftes Unterlassen. Da seitens der Behandelnden insoweit keine Einwände erhoben wurden, war von einem unstrei­tigen und damit eindeutigen Sachverhalt auszugehen. Die gesetzliche Vermutung des § 630h Abs. 3 BGB, nach der eine medizinisch gebotene, dokumentationspflichtige aber dennoch nicht dokumentierte Maßnahme als nicht getroffen anzusehen ist, kam damit erst gar nicht zum Zuge. Sie ist nur dann von Bedeutung, wenn seitens der Behandelnden die tatsächlich erfolgte Vornahme der Maßnahme behauptet wird. 

Dann allerdings kann man auch gegen die Vermutung vorgehen und zum Beispiel mithilfe von Zeugen die ordnungsgemäße Durchführung der nicht dokumentierten Behandlung nachweisen. Der Erfolg solcher Bemühungen hängt sehr stark von den Gegebenheiten des Einzelfalls ab. 

Ordnungsgemäße Dokumentation ist der sichere Weg!

Zusammenfassend wurde festgestellt, dass die Persistenz des neurologischen Schadens in Form der Fußheberparese rechts auf den beschriebenen Behandlungsfehler zurückzuführen war.

Professor Dr. med. Andreas Krödel ist Stellvertretendes Geschäftsführendes Kommissionsmitglied, 
Dr. jur. Burkhard Gehle ist Stellvertretender Vorsitzender und Dr. med. Tina Wiesener ist Leiterin der Geschäftsstelle der Gutachterkommission für ärztliche Behandlungsfehler bei der Ärztekammer Nordrhein.