Vorlesen
Spezial

Mit mehr Daten zu mehr Wissen

16.06.2025 Seite 19
RAE Ausgabe 7/2025

Rheinisches Ärzteblatt

Heft 7/2025

Seite 19

  • Aus Datenschutzgründen haben die Forschenden keinen direkten Zugriff auf die Daten am Forschungsdatenzentrum Gesundheit. © Adobe Stock/Roman (KI-generiert)
  • Sie erhalten online Zugang zu einem virtuellen Analyseraum, in dem alle nötigen Tools für die Analyse pseudonymisierter Daten bereitgestellt sind, von dem aber keine Daten abgerufen werden können. © Adobe Stock/Igor (KI-generiert)
  • Das Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte in Bonn. © BfArM/Frank Rümmele

In diesem Sommer soll es so weit sein: Das Forschungsdatenzentrum Gesundheit geht an den Start. Die pseudonymisierten Daten von rund 73 Millionen GKV-Versicherten stehen dann für Analysen des Versorgungsgeschehens und damit auch als Grundlage für gesundheitspolitische Entscheidungen zur Verfügung.
 
von Thomas Gerst

Unter Hochdruck laufen beim Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte (BfArM) die letzten Vorbereitungen zum Start des Forschungsdatenzentrums (FDZ) Gesundheit. Nach aktuellem Stand geht man beim BfArM davon aus, dass noch im Sommer 2025 mit der Bearbeitung von Nutzungsanträgen begonnen werden kann. Ab dann sollen die Abrechnungsdaten der rund 73 Millionen gesetzlich Versicherten in Deutschland, das sind unter anderem die Daten zu Diagnosen, verschriebenen Medikamenten und zu stationären Behandlungen im Krankenhaus, unter Wahrung des Datenschutzes für die Beantwortung von Forschungsfragen zur Verfügung stehen. „Wir bauen das Forschungsdatenzentrum auf, um vor allem die Prävention, Diagnostik und insgesamt die medizinischen Behandlungsmethoden in Deutschland zu verbessern“, umriss der Leiter des Forschungsdatenzentrums beim BfArM, Dr. rer. nat. Steffen Heß, die Zielsetzung seiner Einrichtung. Auf Grundlage der pseudonymisierten GKV-Daten, die jährlich vom Spitzenverband Bund der Krankenkassen an das FDZ übermittelt werden, sollen die Voraussetzungen für eine Forschung geschaffen werden, die zu Fortschritten bei der medizinischen Versorgung führt.
 
Das Interesse der Versorgungsforschenden am neuen Datenpool ist groß. Das ist zumindest der Eindruck von Ingo Meyer, Leiter der PMV forschungsgruppe an der Uniklinik Köln. „Wir stehen definitiv Schlange. Das kann ein echter Game-Changer werden mit dem, was dann an Daten zur Verfügung steht.“ An zwei Webinaren, bei denen das BfArM kürzlich Prozesse und Zeitplanung am FDZ vorgestellt hat, hätten sehr viele Interessenten teilgenommen. „Die meisten von denen haben wahrscheinlich schon eine Antragsidee im Kopf“, vermutet Meyer. Auch beim BfArM geht man davon aus, dass viele Forschende bereits auf den Start des Forschungsdatenzentrums warten. Im Austausch mit potenziellen Nutzergruppen sei großes Interesse bekundet worden. Mit aktuell 20 Personalstellen glaubt man beim BfArM, auf die erste Antragswelle vorbereitet zu sein. Mit dem kontinuierlichen Aufbauprozess des FDZ werde das Team noch weiter wachsen.
 
Besserer Zugriff auf GKV-Routinedaten
Das FDZ Gesundheit ist als eigenständige und unabhängige Einrichtung organisatorisch beim BfArM angesiedelt. Das Zentrum ist eine Weiterentwicklung der Datenaufbereitungsstelle beim ehemaligen Deutschen Institut für Medizinische Dokumentation und Information (DIMDI), wo seit dem Jahr 2014 Krankenkassen-Routinedaten aus dem morbiditätsorientierten Risikostrukturausgleich, die das Bundesversicherungsamt (BVA) bereitstellte, aufbereitet wurden und für wissenschaftliche Analysen genutzt werden konnten. Die zeitliche Verzögerung von rund vier Jahren bis zur Bereitstellung dieser Daten im DIMDI und komplizierte Antragswege sorgten aber für eine eingeschränkte Nutzbarkeit für die Versorgungsforschung. Zudem standen für die Forschung die bei den Krankenkassen anfallenden Routinedaten nur eingeschränkt zur Verfügung. Mit dem Gesundheitsdatennutzungsgesetz, das im März 2024 in Kraft trat, und der Verordnung zur Verfahrensregelung vom Januar 2025 wird nun ein besserer Zugriff auf die GKV-Routinedaten beim neuen Forschungsdatenzentrum ermöglicht. Auch Versorgungsforscher Ingo Meyer geht von besseren Forschungsvoraussetzungen aus: „Ein großes Problem des ersten Forschungsdatenzentrums beim DIMDI war, dass die praktische Umsetzung schwierig und das Antragsverfahren sehr langwierig war. Beim neuen FDZ besteht jetzt die Hoffnung, dass man schneller und zuverlässiger an bessere Daten zum Versorgungsgeschehen herankommt.“
 
Meyer wartet gespannt auf die Freischaltung der FDZ-Antragsseiten beim BfArM; denn auch seine PMV forschungsgruppe steht bereits in den Startlöchern, um den neuen Datenpool für zwei vom Bundesgesundheitsministerium geförderte Projekte zu Post- und Long-COVID bei Erwachsenen sowie bei Kindern und Jugendlichen nutzen zu können. Bisher hätten sich die Forscher für Projekte wie diese an verschiedene Krankenkassen wenden müssen, die Daten zusammenziehen und verknüpfen müssen. „Die Harmonisierung über verschiedene Kassen hinweg ist aber ein sehr aufwendiger Zwischenschritt; das ist im Forschungsdatenzentrum am BfArM quasi schon vollzogen“, betont der Leiter der PMV forschungsgruppe. Auch beim BfArM weist man auf die Vorteile hin, die sich mit der neuen Forschungsstelle bieten würden. Forschende könnten nicht nur den größeren Datenumfang nutzen, sondern auch anders als bisher ortsungebunden von ihrem eigenen Rechner auf einen gesicherten Arbeitsbereich zugreifen.
 
Die forschenden Arzneimittelhersteller blicken skeptischer auf die Nutzungsmöglichkeiten, die das Forschungsdatenzentrum künftig bieten soll. Grundsätzlich sei mit dem FDZ Gesundheit ein institutionelles Fundament für eine moderne Gesundheitsdateninfrastruktur geschaffen worden, heißt es vom Verband Forschender Arzneimittelhersteller (VFA), und man sehe darin „eine echte Chance für die datenbasierte Forschung und für medizinische Innovationen zum Nutzen von Patientinnen und Patienten“. Erste praktische Vorbereitungen zu Forschungsanträgen zeigten allerdings einen hohen Komplexitätsgrad im Vergleich zu anderen Forschungsplattformen, was aufseiten der Antragsteller zu sehr hohem Ressourcenaufwand führe. Zudem befürchtet der VFA, dass das FDZ Gesundheit derzeit personell und ressourcentechnisch deutlich zu sparsam ausgestattet ist, sodass bei der zu erwartenden Vielzahl von Nutzungsanträgen Engpässe im Antrags- und Bewertungsprozess zu erwarten seien. Der VFA verweist in diesem Zusammenhang auf das Nachbarland Frankreich, wo mit dem im Dezember 2019 gestarteten „Health Data Hub“ eine vergleichbare Gesundheitsdatenbank mit deutlich größeren Kapazitäten an den Start gegangen ist. 
Um die Daten des FDZ nutzen zu können, müssen sich Interessierte über dessen Antragsportal mit einer ausführlichen Beschreibung ihres Forschungsprojekts und Angabe des Nutzungszwecks (siehe Kasten) anmelden. Angesichts der zu erwartenden Inanspruchnahme des neuen Forschungszentrums gibt es Priorisierungskriterien, nach denen die Bearbeitung der Anträge erfolgt. Ganz oben auf der entsprechenden Punktewert-Skala stehen Anträge, deren schnelle Bearbeitung zur Sicherstellung der Funktionsfähigkeit der Gesundheitsversorgung notwendig ist. Gemäß Priorisierungsliste werden zudem Anträge aus Behörden und Organen der Selbstverwaltung vorrangig bearbeitet, wenn der Zugriff auf die Daten beim FDZ für die Erfüllung gesetzlich übertragener Aufgaben erforderlich ist. Entscheidend für alle weiteren Nutzer ist das Prioritätskriterium Zeit. Hier ist dem FDZ mit der Verordnung zur Verfahrensregelung vorgegeben worden, innerhalb von drei Monaten über einen Antrag zu entscheiden.
 
Für die Nutzung des Forschungsdatenzentrums sind auf den ersten Blick recht hohe Gebühren fällig. Die Grundgebühr für die Bearbeitung eines Antrags beträgt 4.000 Euro; dazu kommen noch Tagessätze für die Auswertung und Bereitstellung von Daten in Höhe von 1.000 Euro sowie von Umfang und Komplexität einer Anfrage abhängige Beratungsgebühren. Diese Gebühren können aber auf Antrag für wissenschaftliche Forschungseinrichtungen sowie für Organisationen und Einrichtungen der Selbstverwaltung im Gesundheitswesen auf ein Zehntel reduziert werden.

Pseudonymisierte Stichprobe
Aus Datenschutzgründen haben die Forschenden keinen direkten Zugriff auf die Daten am FDZ Gesundheit. Nach erfolgreicher Antragstellung erhalten sie Zugang zu einem virtuellen Analyseraum, der über Internet erreichbar ist und in dem alle nötigen Tools für die Durchführung einer Analyse bereitgestellt sind, von dem aber keine Daten abgerufen werden können. In diesem virtuellen Analyseraum erhalten die Nutzer Zugang zu einer pseudonymisierten Stichprobe von Versichertendaten für die beantragten Jahre, der genau auf ihre Forschungsfrage und den angegebenen Nutzungszweck abgestimmt ist. Anhand dieses Datenzuschnitts kann im virtuellen Analyseraum ein Auswertungsskript erstellt und abschließend davon ausgehend die Ergebnismenge in Form aggregierter statistischer Daten auf der Grundlage der pseudonymisierten Gesamtdaten angefordert werden. Dieses Vorgehen erfordert eine präzise Vorbereitung aufseiten der Nutzer, will man vermeiden, durch eine Serie von Anträgen beim FDZ gehen zu müssen.
 
Wie eine Nutzung der Daten des Forschungsdatenzentrums für die vorgegebenen Zwecke aussehen könnte, wird auf den Infoseiten des BfArM im Internet beispielhaft beschrieben. So lasse sich zur Analyse des Leistungsgeschehens der Verlauf chronischer Erkrankungen verfolgen, beispielsweise bei Arthrose, um die Wirksamkeit verschiedener Therapien, wie Physiotherapie oder Arzneimittel gegen Schmerzen, und den Bedarf an Operationen über einen längeren Zeitraum zu untersuchen. Zur Planung von Leistungskapazitäten ermöglichten die Daten am FDZ genauere Aussagen darüber, wie viele Patientinnen und Patienten mit welcher Erkrankung wie lange in einem Krankenhaus aufgenommen wurden. Mithilfe der FDZ-Daten könnten regionale Unterschiede bei der Verschreibung von Arzneimitteln erkannt werden oder auch bei der Versorgung von Personen mit Diabetes. Beispielhaft genannt wird auch die Möglichkeit, über einen längeren Zeitraum hinweg einen Zusammenhang von Arzneimittelverordnungen mit späteren Diagnosen aufzuspüren, die einen Hinweis auf Nebenwirkungen geben.

Bald auch Daten aus der ePA
Demnächst sollen auch Daten aus der elektronischen Patientenakte (ePA) über das FDZ für Forschung und Versorgungssteuerung zur Verfügung stehen. Der Zugewinn bei deren Nutzung hängt nach Einschätzung von Versorgungsforscher Ingo Meyer davon ab, in wie vielen Versorgungsbereichen die ePA außer bei Arzneimittelverordnungen wirklich Einzug hält und mit welchen anderen Daten, etwa aus Gesundheits-Apps, sie schließlich gefüllt sein wird. Mit den Dosierungsanweisungen zu verordneten Arzneimitteln gehe der Inhalt der ePA allerdings heute bereits über das hinaus, was in den GKV-Abrechnungsdaten zu Arzneiverordnungen zu finden ist.

Bei aller Zufriedenheit über die Forschungsmöglichkeiten am FDZ Gesundheit sieht Meyer bei den Zugriffsmöglichkeiten auf Gesundheitsdaten in Deutschland noch viel Luft nach oben. Er wünscht sich eine weitergehende Verknüpfbarkeit der Daten, etwa mit Registerdaten, was aktuell über das FDZ Gesundheit bereits konkret in der Planung sei, aber auch mit klinischen Forschungsdaten oder Krankenhausinformationssystemen. Hierfür müssten noch die rechtlichen und technischen Voraussetzungen geschaffen werden. 
 

Die Daten am Forschungsdatenzentrum können gemäß § 303d SGB 5 unter anderem für die folgenden Zwecke genutzt werden:

  • Wahrnehmung von Steuerungsaufgaben durch die Kollektivvertragspartner
  • wissenschaftliche Forschung zu Fragestellungen aus den Bereichen Gesundheit und Pflege
  • Analysen des Versorgungsgeschehens sowie Grundlagenforschung im Bereich der Lebenswissenschaften
  • Unterstützung politischer Entscheidungsprozesse zur Weiterentwicklung der gesetzlichen Kranken- und Pflegeversicherung
  • Analysen zur Wirksamkeit sektorenübergreifender Versorgungsformen sowie zur Wirksamkeit von Einzelverträgen der Kranken- und Pflegekassen
  • Entwicklung, Weiterentwicklung und Überwachung der Sicherheit von Arzneimitteln, Medizinprodukten, Untersuchungs- und Behandlungsmethoden, Hilfs- und Heilmitteln    
  • Nutzenbewertung von Arzneimitteln, Medizinprodukten, Untersuchungs- und Behandlungsmethoden, Hilfs- und Heilmitteln