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Knochen zum Sprechen bringen

19.05.2025 Seite 16
RAE Ausgabe 6/2025

Rheinisches Ärzteblatt

Heft 6/2025

Seite 16

  • Das Doppelgrab 386/387 gehörte zu einem spätantiken Gräberfeld vor den Toren des römischen Legionslagers in Bonn und wurde 1999 im Bereich Irmintrudisstraße ergraben. Die Vorlage von Befunden und Funden von dort erfolgt im Rahmen des Akademienprojekts "Limes und Legion". © Peter Bürschel (†) LVR-Amt für Bodendenkmalpflege im Rheinland
  • Professorin Dr. phil. Alice Toso (links), Bioarchäologin am Bonn Center for ArchaeoSciences, und Dr. phil. Eva Rosenstock untersuchen einen Schädel aus dem Gräberfeld auf Auffälligkeiten. © Bettina Yehdou/Universität Bonn

Skelettfunde lassen Rückschlüsse zu auf Krankheiten, Ernährung oder Herkunft früherer Generationen. Forscherinnen in Bonn untersuchen die menschlichen Überreste aus zwei nordrheinischen Fundstätten. Zusätzliche medizinische Expertise könnte sie dabei unterstützen.

von Thomas Gerst
 
„Hier an der Innenseite des Ohres sieht man Porositäten, die normalerweise dort nicht sein dürften.“ Leonie Pathé, Doktorandin am Bonn Center für ArchaeoSciences (BoCAS), zeigt auf den betreffenden Teil eines Schädels. „Diese Frau hatte eine Ohrenentzündung, die zum Zeitpunkt des Todes noch aktiv war, anderenfalls hätten sich diese Porositäten schon geschlossen.“ Vor ihr auf dem Untersuchungstisch im Bonner Labor für Bioarchäologie liegt das Skelett einer Frau. Es entstammt einem mittelalterlichen Gräberfeld in der zwischen Düren und Jülich gelegenen Ortschaft Vilvenich, die 2017/18 dem Braunkohletagebau Inden weichen musste. In einer Notgrabung waren dort zuvor die Skelette aus dem Gräberfeld, das im Zeitraum vom 10. bis 12. Jahrhundert genutzt wurde, geborgen worden. Seitdem lagerten sie in einem Depot des Rheinischen Landesmuseums, ohne dass eine bioarchäologische Untersuchung erfolgte. Nun befasst sich Pathé im Rahmen ihrer von der Stiftung zur Förderung der Archäologie im rheinischen Braunkohlenrevier geförderten Dissertation am BoCAS mit den Skeletten aus dem Vilvenicher Gräberfeld. Aufgrund der Ausprägung der Schambeinfuge schätzt sie das Alter der Frau, deren Skelett vor ihr liegt, zum Zeitpunkt ihres Todes auf 35 bis 45 Jahre. „Bei Skeletten von Kindern ist die genauere Altersbestimmung einfacher, weil sich die Zähne noch entwickeln und weil die Epiphysen an den Langknochen noch zusammenwachsen müssen.“ Mit zunehmendem Alter werde die Bestimmung des Alters unpräziser. In einem Ellenbogengelenk erkennt Pathé einen Schaden, der bereits zu Lebzeiten entstanden sein müsse. „Was genau das war, ob eine Zyste oder ein Tumor, lässt sich nicht mehr bestimmen. Man sieht nur deutlich, dass hier schon vor dem Tod etwas begonnen hat, in den Knochen einzudringen“, erläutert die Anthropologin.

Professor Dr. phil. Alice Toso, die als Bioarchäologin am BoCAS das Forschungsprojekt zum Vilvenicher Gräberfeld betreut, sieht in den osteologischen Befunden, das heißt auf der Grundlage von Veränderungen an den Knochen, oft die einzige Möglichkeit, etwas über die Lebensbedingungen vergangener Generationen – hier im Speziellen der mittelalterlichen Gemeinschaft in Vilvenich – zu erfahren. Es gebe eine ganze Reihe von Pathologien, die ihre Spuren auf den Knochen hinterlassen – angeborene, metabolische, entzündliche und infektiöse Reaktionen, erzählt sie im Gespräch mit dem Rheinischen Ärzteblatt. „Für mich ist dies ein ganz wichtiger Aspekt: Die Person, deren Skelett einen entsprechenden Befund aufweist, hatte mit dieser Erkrankung eine längere Zeit zu leben.“
 
Auch die Untersuchung von DNA-haltigem Zahnmaterial ermögliche Aussagen über pathologische Veränderungen, die beispielsweise auf Tuberkulose oder Lepra zurückzuführen sind. Voraussetzung für eine solche Bestimmung sei, dass das untersuchte Material aus zu Lebzeiten durchbluteten Gewebestrukturen stammt. Dagegen ließen sich akute Entzündungen oder Infektionen, die zum Tode führten, mit den Methoden der Bioarchäologie nicht feststellen, betont Juniorprofessorin Toso, die derzeit gefördert von der VolkswagenStiftung bestrebt ist, erstmals in Nordrhein-Westfalen den Studiengang „Bioarchäologie“ im Rahmen der Bonner Archäologie und Kulturanthropologie einzurichten. 
 

Methoden der Bioarchäologie
Um bei der bioarchäologischen Untersuchung menschlicher Skelette Rückschlüsse auf die Gesundheit und die Lebensbedingungen vergangener Generationen ziehen zu können, kommen insbesondere die folgenden Methoden zum Einsatz:
  • osteologische Analyse zur Bestimmung von Alter und Geschlecht, ­Körpergröße, Pathologien sowie Arbeits- und Belastungsspuren
  • Zahnanalyse für Hinweise auf Ernährung und Gesundheitszustand in der Kindheit sowie Stressphasen
  • Analyse stabiler Isotope (Kohlenstoff, Stickstoff, Sauerstoff, Strontium) ermöglicht Aussagen zu Ernährung, geografischer Herkunft und Mobilität. 
  • Extraktion alter DNA aus Knochen oder Zähnen zur Bestimmung von ­genetischen Merkmalen der beprobten Individuen selbst sowie zum ­Nachweis bestimmter Krankheitserreger (zum Beispiel Mycobacterium ­leprae oder Hepatitis-B-Virus)
     

Fehlstellungen der Beine
Neben den Veränderungen am Skelett lassen sich mithilfe von Isotopenanalysen des Knochenkollagens beispielsweise Feststellungen zu Ernährungsgewohnheiten treffen. Die Ergebnisse zeigen etwa, ob die untersuchte Person oder Gemeinschaft mehr tierisches oder pflanzliches Protein zu sich genommen hat. Eine 2021 im American Journal of Physical Anthropology publizierte Studie, mit Alice Toso als Erstautorin, dokumentierte etwa den Ernährungswandel, der sich im Verlauf der Reconquista in Portugal vollzogen hatte. Die Untersuchungen von spätmittelalterlichen Skeletten belegen den Wandel von einer vorwiegend auf Land- und Viehwirtschaft beruhenden islamischen Gesellschaft zu einer christlich dominierten Gesellschaft, die sich vorzugsweise mariner Ressourcen bediente und so auch eine der wesentlichen Voraussetzungen der späteren globalen Expansion schuf.
 
Doch zurück zum rheinischen Fundort Vilvenich, der dem Braunkohletagebau weichen musste. Der Erhaltungszustand der aus den rund 120 Gräbern geborgenen Skelette sei sehr gut, sagt Alice Toso. Sie wiesen Auffälligkeiten auf, deren Genese bisher nicht eindeutig erklärbar sei. „Die Skelette zeigen solch merkwürdige Pathologien, dass wir darüber gerne mit Medizinern sprechen würden.“ Bei rund 90 Prozent der Skelette hätten sich Fehlstellungen der Beine in der Ausprägung als Genu varum oder valgum gefunden. Als Ursache habe man zunächst an einen Vitamin-D-Mangel gedacht, doch bei der Vielzahl der betroffenen Skelette halte man es mittlerweile für wahrscheinlicher, dass es sich um eine angeborene Fehlstellung in einer isolierten Gemeinschaft gehandelt habe. Möglich sei aber auch, betont die Bioarchäologin, dass die gefundenen Auffälligkeiten am Skelett im Zusammenhang mit einer bestimmten Aktivität gestanden hätten; denn die bisher untersuchten Skelette von Kindern zeigten bis zum zehnten Lebensjahr keine solchen Verkrümmungen. Allerdings habe man bisher keine Vorstellung davon, welche Gewohnheiten zu dieser Veränderung geführt haben könnten. Die Skelette aus dem Vilvenicher Gräberfeld würden zudem Verformungen an den Füßen aufweisen, erklärt Toso – das sogenannte Müller-Weiss-Syndrom, bei dem äußere Knochenanteile des Kahnbeins absterben. Viele der Skelette zeigten ein fortgeschrittenes Stadium der Erkrankung. Die Schädigung könnte die Folge einer dauerhaften Fehl- oder Überbelastung der Füße sein, sagt Toso, letztlich sei aber noch ungeklärt, wie es dazu gekommen ist. Landwirtschaft sei die vorherrschende Wirtschaftsform in Vilvenich im Mittelalter gewesen, einen Zusammenhang mit der Schädigung könne man aber darin nicht erkennen. Bezüglich der Ernährung der Bewohner Vilvenichs im Mittelalter wiesen erste Isotopen-Ergebnisse auf Unterschiede zwischen den Geschlechtern hin, was nicht ungewöhnlich für diese Zeit sei, erklärt Toso. Üblicherweise hätten Frauen eine insgesamt weniger proteinreiche pflanzliche Ernährung zu sich genommen, Männer hätten mehr tierisches Protein verzehrt.
 

Weit verbreitete Tuberkulose
Ein deutlicher Zeitsprung zurück führt in ein weiteres regionales Forschungsprojekt der Bonner Bioarchäologie, das sich mit den menschlichen Überresten des römischen Legionslagers Bonna im heutigen Stadtteil Bonn-Castell befasst. Ein Großteil der baulichen Grundstrukturen des Lagers – „eines der am besten erhaltenen Legionslager nördlich der Alpen“ – ist bis heute unter der bebauten Oberfläche erhalten und wird im Zuge von Neubaumaßnahmen kontinuierlich neu erfasst. Auf dem vor den Toren das Lagers gelegenen spätantiken Friedhof wurden insbesondere Angehörige des Militärlagers bestattet. Die dort im Jahr 1999 geborgenen Skelette aus römischer Zeit werden nun im Rahmen einer weiteren Dissertation von Alessia Bareggi am BoCAS mit den Methoden der Bioarchäologie untersucht. Wenig überraschend ergaben die Untersuchungen, dass zwar beide Geschlechter und alle Altersstufen vertreten waren, es sich in der Mehrzahl aber um 30- bis 40-jährige Männer handelte, wie es bei einem Militärlager zu erwarten gewesen sei. „Als ein überraschendes Ergebnis der paläopathologischen Untersuchungen zeigte sich, dass die Tuberkulose weit verbreitet war“, erläutert Alice Toso. Im mittelalterlichen Gräberfeld in Vilvenich sei man lediglich auf einen Fall von Rindertuberkulose gestoßen. Die Verbreitung von Tuberkulose sei in der Regel mit städtischen Lebensbedingungen verbunden, das heißt mit dem Zusammenleben vieler Menschen auf engstem Raum. Toso sieht darin eine Bestätigung für die überlieferten römischen Quellen, nach denen es sich in Bonn um ein sehr großes Militärlager gehandelt habe. Die Isotopenanalyse der Zähne der im römischen Gräberfeld im Bonner Norden Bestatteten, die aktuell noch nicht abgeschlossen ist, deute darauf hin, dass diese aus allen Teilen des römischen Imperiums stammten. So gibt die Untersuchung der Zähne auf Strontiumisotope, die während des Zahnwachstums absorbiert werden, Hinweise auf die geografische Herkunft. Diese Untersuchungsmethode liefert allerdings nur verlässliche Ergebnisse, solange Erzeugnisse aus regionaler Produktion konsumiert wurden. Kohlenstoff- und Stickstoffisotope im Zahn- und Knochenmaterial geben Hinweise auf die Art der Ernährung.
 
Bioarchäologen können auf der Grundlage von Veränderungen am Knochen erkennen, dass dort Krankheiten wie Arthrose, Tuberkulose oder Tumorerkrankungen ihre Spuren hinterließen; bei der Einschätzung, wie sich diese Veränderungen auf die Lebensbedingungen auswirkten oder umgekehrt, setzen die Bonner Archäologinnen auf den Austausch mit Ärztinnen und Ärzten. Welche Rückschlüsse lassen die Knochenbefunde zum Beispiel auf schmerzhafte Bewegungseinschränkungen zu? Fragen wie diese hofft man, in Zusammenarbeit mit Ärztinnen und Ärzten klären zu können.  
 

BoCAS sucht medizinische Expertise
Das BoCAS sucht Ärztinnen und Ärzte, die sich ehrenamtlich an einem Konsil zu archäologischen Fällen beteiligen wollen. Unterstützung erhofft sich das Institut bei der Stellung von Diagnosen und Differentialdiagnosen und bei der Einschätzung gesundheitlicher Einschränkungen bei den „archäologischen Patienten“. Ärztinnen und Ärzte, die Interesse an interdisziplinären Diskussionen haben – je nach Fall per E-Mail, Zoom oder in Präsenz, zeitlich flexibel und ohne regelmäßige Verpflichtung – , können sich per E-Mail wenden an: e.rosenstock(at)uni-bonn.de