Ende März richtete die Ärztekammer Nordrhein den 6. Aachener Psychosomatik-Tag als Hybridveranstaltung mit gut 600 Teilnehmenden aus. Die Initiative Psychosomatik-Tage Aachen – AIX-PT, ein Zusammenschluss von psychotherapeutisch tätigen Ärztinnen und Ärzten aus Aachen, gestaltete das Programm.
von Ulrike Schaeben
Die Häufung von politischen, sozialen und ökologischen Krisen wird angesichts der aktuellen Weltgeschehnisse immer öfter beschrieben und beklagt. Wie reagieren wir auf diese Polykrise – kognitiv, emotional und im Handeln? Mit dem Psychiater und Philosophen Karl Jaspers (1883–1963) lassen sich Krisen auch als „Grenzsituationen“ auffassen, die unsere selbstverständliche Weltsicht in Frage stellen und uns mit unangenehmen Wahrheiten über unsere Existenz konfrontieren. Prof. Dr. Dr. Thomas Fuchs, Karl-Jaspers-Professor für Philosophische Grundlagen der Psychiatrie und Psychotherapie, Heidelberg, leitete in seinem Vortrag „Krisen als Grenzsituationen. Erlebnis – Reaktion – Bewältigung“ aus dem Geist der Überlegungen Jaspers‘ einen Weg ab, der sich in der Behandlung individueller Krisensituationen bewährt habe. Dieser beginne mit der unumschränkten Annahme der Grenzsituation und ihrer Implikationen und münde in einen existenziellen Entschluss des Abschieds von der Opferrolle und der Übernahme eigener Verantwortung für eine Selbstwahl und das „Ergreifen der Existenz“. In dem Bewusstsein des Verzichts auf andere Möglichkeiten eröffne sich aus der Grenzsituation ein Weg der persönlichen Reifung und des Wachstums. Damit verbunden sei die Einsicht des Menschen in seine Vulnerabilität und in die Unvermeidlichkeit von Verlusten. In dieser Einstellung werde der Schutz der verletzlichen Individuen, insbesondere von Menschen mit psychischen Erkrankungen, aber auch fragilen sozialen Einheiten zu einer zentralen gesellschaftlichen Aufgabe.
Superkraft Resilienz?
Prof. Dr. med. Dipl.-Psych. Franziska Geiser, Direktorin der Klinik und Poliklinik für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie am Universitätsklinikum Bonn, wagte einen interdisziplinären Blick auf das Konzept der Resilienz. Der Begriff habe enorm an Popularität gewonnen und sei zum „Sehnsuchts- und Wellnessbegriff“ avanciert, drohe jedoch reduziert zu werden auf ein Rezept für Zuversicht in allen Lebenslagen, so die Forscherin. Nach einem Überblick über Definitionen und Modelle der Resilienz in der psychosozialen, der Trauma- und der Stressforschung beleuchtete Geiser die „dunkle Seite des Resilienzkonzeptes“: Resilienz zur Aufgabe des Einzelnen zu machen, verschleiere die gesellschaftliche Verantwortung bei der Krisenbewältigung. Resilienz sei nicht einzig die Aufgabe des Individuums, sondern eine universelle menschliche Erfahrung und ein Prozess der Mobilisierung von Ressourcen, um in der Krise weitermachen zu können, Verbundenheit und vielleicht Sinn zu finden, einschließlich der Erfahrungen von Vulnerabilität, Hoffnung, Schmerz, und sozialer Interaktion.
Prof. Dr. med. Thomas Frodl, M.A., Direktor der Klinik für Psychiatrie, Psychotherapie und Psychosomatik an der Uniklinik RWTH Aachen, gab den Teilnehmenden einen Einblick in die aktuelle Traumaforschung und -therapie. Bei Kindern komme es infolge von Kriegen und gewaltsamen Krisen zu neuronalen Entwicklungsverzögerungen und Defiziten im kognitiven und emotional-sozialen Bereich, die spätestens nach zwei Jahren unaufholsam seien. Welche Effekte imaginative Techniken auf die Gehirnfunktion und insbesondere die neuronale Netzwerkintegration hätten, sei noch weitgehend unerforscht. Erste Studien gäben aber schon Aufschlüsse darüber. In der Bevölkerung der Ukraine sei mittlerweile eine erhöhte Prävalenz von Posttraumatischen Belastungsstörungen, Depressionen und Angststörungen zu beobachten. Zur Therapie stünden Techniken zur Auswahl, die sowohl bei Trauer als auch bei Trauma angewendet werden könnten. Die gemeinsame Verwendung von traumafokussierten und nicht traumafokussierten Therapien zeigten in der Praxis bessere Effekte.
Die individuellen Folgen innerer Bedrohungen, Krisen und Traumatisierungen sind oft ein eindrückliches Abbild gesellschaftlicher Veränderungen und Zustände, von Gewalt- und Kriegsbereitschaft sowie äußerer Bedrohung. Dr. med. (YU) M. san. Ljiljana Joksimovic, Chefärztin des LVR Zentrums für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie Niederrhein, illustrierte in ihrem Vortrag „Mentalisierungsbasierte Wege aus innerer und äußerer Bedrohung“ anhand klinischer Beispiele die Anwendungsmöglichkeiten des Mentalisierungskonzeptes im Umgang mit erlebter innerer und äußerer Bedrohung.
Dr. Ulrike Schaeben ist Referentin für die Koordination der Kreisstellen der Ärztekammer Nordrhein.