Wenn Jugendliche schwere Straftaten begehen und zum Tatzeitpunkt aufgrund einer psychischen Erkrankung für schuldunfähig befunden werden, können sie auf Anweisung des Gerichts im Maßregelvollzug untergebracht werden. Die forensischen Psychiater betreuen sie auf dem Weg zur Resozialisierung. Ein Besuch in der Jugendforensik in Viersen, eine von nur etwa zehn Einrichtungen in Deutschland.
von Marc Strohm
Es ist ein warmer Frühlingsmorgen und die Sonne spiegelt sich in den mit Widerhakensperrdraht befestigten Aluminiumzäunen, als Dr. David Strahl durch die Pforten der psychiatrischen Jugendforensik in Viersen tritt. Der Altbau aus der Kaiserzeit liegt eingebettet zwischen Grasflächen auf dem Gelände der LVR-Klinik im Viersener Stadtteil Süchteln. Der Gang durch die Sicherheitsschleuse aus schweren Stahltüren gehört für den erfahrenen Psychiater zum Alltag. Seit 15 Jahren arbeitet er bereits hinter den dicken Mauern des Maßregelvollzugs, seit 2017 ist er dort als Chefarzt tätig. Strahls Patienten sind jugendliche Straftäter, die aufgrund einer psychischen Erkrankung von den Gerichten als schuldunfähig befunden wurden. In der Forensik sollen sie sich einer Therapie unterziehen, damit sie später wieder ein Leben in Freiheit führen können.
„Die meisten Patienten im Jugendmaßregelvollzug leiden unter Persönlichkeitsstörungen, Intelligenzminderungen, Paraphilien wie Pädophilie sowie Verhaltensstörungen durch psychotrope Substanzen“, sagt Strahl im Gespräch mit dem Rheinischen Ärzteblatt. Verurteilt wurden seine Patienten unter anderem aufgrund von Körperverletzungsdelikten, Sexualstraftaten und Mord. Besonders heikel, aber zum Glück auch selten, sei der Umgang mit psychisch kranken Terroristen und Extremisten. In den letzten zehn Jahren habe er etwa 100 Patienten betreut, von denen drei Kontakt zu terroristischen Gruppen hatten. In solchen Fällen arbeite er eng mit der Polizei zusammen, um einschätzen zu können, wie gefährlich diese Patienten sind.

Breitgefächerte Therapieangebote
Zu den Bewohnern in der Jugendforensik hat Strahl durch seine herzliche und offene Art ein vertrauensvolles Verhältnis. „Herr Dr. Strahl, bester Mann! Ich habe heute mein Zimmer extra für Sie aufgeräumt“, ruft ein Teenager in hellblauer Fleecejacke, als der Psychiater den Gemeinschaftsraum betritt. Drei Jugendliche sitzen dort auf den schwarzbezogenen Sofas und reden miteinander. Insgesamt leben derzeit 24 junge Männer zwischen 14 und 21 Jahren in den Einzel- und Doppelzimmern der forensischen Psychiatrie, verteilt auf zwei Stockwerke. Das Zimmer des Teenagers mit der Fleecejacke besteht aus einem Bett und einer schwarzen Kommode, auf der ein Wecker mit digitaler Ziffernanzeige Platz findet. Blickt man durch das vergitterte Fenster nach draußen, fällt eine rote Tartanbahn mit zwei Basketballkörben ins Auge, die von einem hohen Maschendrahtzaun umgeben ist. Dort treiben die Jugendlichen Sport, insbesondere Mannschaftssport wird gefördert, um den Teamgeist zu wecken. Im Stacheldraht über dem Zaun hängen aufgerissene Lederbälle.
Ursprünglich waren zwei der Zimmer in der Jugendforensik als Mädchenzimmer konzipiert, doch der derzeitige Verteilungsschlüssel sieht nicht vor, dass Mädchen hier untergebracht werden, bedauert Strahl. Denn vielen jugendlichen Straftätern würde der Kontakt zu gleichaltrigen Mädchen guttun, ist der Psychiater überzeugt. So erinnert er sich an einen besonders vorlauten Patienten, der sich in eine Mitpatientin verliebte und sie auf einem Grillfest der Forensik ganz schüchtern und verlegen fragte, ob sie sich einen Teller Kartoffelsalat teilen. „In solchen Fällen bekräftigen wir eine gesunde Beziehungsbildung und geben den Jugendlichen Tipps an die Hand, wie sie ihre Gefühle einordnen können.“
Der Maßregelvollzug hat zum Ziel, die Jugendlichen auf ein selbstständiges, straffreies Leben außerhalb der Einrichtung vorzubereiten. „Es geht immer um Resozialisierung“, betont Strahl. Dazu gebe es innerhalb der imposanten Zäune der Forensik ein breitgefächertes Therapieangebot. Neben Gesprächstherapien griffen die Psychologen und Psychiater in der Einrichtung unter anderem auf kreativtherapeutische Optionen zurück. In einem sonnigen Raum mit Staffeleien und Leinwänden findet die Kunsttherapie statt. Hier bringen die Jugendlichen Emotionen zu Papier, für die ihnen die Worte fehlen. Viele entscheiden sich für farbenfrohe Motive. Die Bilder zeigen blühende Obstbäume oder bunte Muster. Die Werke hängen überall in den ansonsten sterilen Fluren der Forensik. Aus dem Nebenzimmer schallt laute Popmusik durch den Korridor, ein junger Mann sitzt mit seiner Therapeutin hinter einer Glastür und arbeitet an einem selbstgeschriebenen Song. „Auch Musik ist für die Patienten ein Mittel, um ihre Gefühle auszudrücken,“ sagt Strahl. Es gebe sogar eine eigene Forensik-Band, die einmal im Jahr auf dem Sommerfest der Viersener LVR-Klinik auftrete. Begleitend zu den Therapien erlernten die Jugendlichen auch allgemeine Umgangsformen. Die „Hausregeln“ hängen an der hölzernen Tür des Gemeinschaftsraumes: „Wir hören einander zu. Wir lassen uns aussprechen“, steht unter anderem darauf. Thema in den Therapiesitzungen ist auch, wie man Konflikte ohne Gewaltanwendung lösen kann. Der Tag der Patienten sei straff strukturiert, es werde auf Körperpflege geachtet und es würden alltägliche Herausforderungen geübt, wie der Wocheneinkauf oder das Kaufen einer Busfahrkarte.
Ein wesentlicher Teil ihres Alltags ist für die Jugendlichen der Schulunterricht, den zwei Lehrerinnen abhalten. Das Klassenzimmer befindet sich im zweiten Stockwerk des Gebäudes und sieht – bis auf die vergitterten Fenster – aus wie ein gewöhnlicher Klassenraum. Die Stuhlreihen sind U-förmig angeordnet, auf dem Whiteboard stehen in blauer Permanentmarkerschrift die binomischen Formeln. Im Deutschunterricht lesen die Patienten aktuell den Jugendroman „Tschick“, die Figurenkonstellation aus dem Buch klebt als buntes Plakat an der weißen Wand. „In der Forensik werden die Jugendlichen auf die Zentrale Abschlussprüfung am Ende der zehnten Klasse vorbereitet“, betont Strahl, manchen gelinge auch das Abitur. „Einer meiner Patienten war im letzten Jahr sogar einer der Jahrgangsbesten in Nordrhein-Westfalen“, sagt Strahl stolz. Ein Teil des Lehrplans sieht auch Medienkompetenz vor. Dazu erhalten die Schüler in der Unterrichtsstunde Tablets. Die Nutzung des Internets erfolgt dabei unter Aufsicht der Lehrerinnen und mit einer Kindersicherung, denn das Risiko ist groß, dass die Jugendlichen unbeaufsichtigt nach verbotenen Inhalten wie Kinderpornografie suchen würden.
Wachsamkeit im Alltag
Als Arzt ist Strahl in erster Linie für die Arzneimitteltherapie der Patienten verantwortlich. Insbesondere bei Schizophrenie sei eine begleitende Pharmakotherapie notwendig. Daneben versorge er alle auftretenden Erkrankungen bei den Patienten, darunter beispielsweise grippale Infekte oder Bauchschmerzen. Stoße er an seine Grenzen, überweise er die Patienten zu anderen Fachärzten, die auf dem weitläufigen Gelände der LVR-Klinik arbeiteten. Auf diesen Stationen würden die Jugendlichen dann unter besonderen Sicherheitsvorkehrungen behandelt. Zwar verlaufe der Alltag in der Jugendforensik zumeist harmonisch, doch im Umgang mit seinen Patienten sei er stets wachsam, so Strahl. Von vielen Patienten gehe große Gefahr aus, nicht wenige Jugendliche bastelten provisorische Waffen, zum Beispiel aus den Klingen eines Anspitzers. Mehrmals sei er bereits in gefährliche Situationen geraten, die er jedoch deeskalieren konnte. Um in solchen Situationen angemessen reagieren zu können, absolviere er regelmäßig Trainings, auch in Kooperation mit der Polizei. Im letzten Schritt helfe nur noch die Isolation des Patienten in einem dafür vorgesehenen Raum mit einer schweren, durch zwei dicke Riegel geschützten Tür. Für diese freiheitsentziehende Maßnahme sei allerdings eine richterliche Anordnung sowie die dauerhafte Überwachung des Patienten durch einen Mitarbeiter notwendig. „Auch nach vielen Arbeitsjahren geht es nicht spurlos an mir vorbei, wenn ein Jugendlicher plötzlich ausrastet und mit Stühlen nach mir wirft“, sagt Strahl. Einen Ausgleich findet der Arzt in seiner Freizeit unter anderem bei der Gartenarbeit auf seiner Streuobstwiese und beim Schmieden.
Erschütternde Schicksale
Doch es gibt auch Fälle, die den erfahrenen Psychiater auch nach Jahren nicht loslassen, so wie der von Marvin (Name geändert). Er wuchs im Alkohol- und Drogenmilieu auf und wurde seit frühester Kindheit von seiner Mutter misshandelt und sexuell missbraucht. In der Folge entwickelte er einen tiefsitzenden Hass auf Frauen und vergewaltigte seine Opfer später besonders brutal. Aber es gebe auch Fälle, in denen Jugendliche ein gewöhnliches Leben führten, bis sie sich aufgrund einer psychischen Erkrankung immer weiter von ihrem sozialen Umfeld abkapselten und schließlich Körperverletzungen, Sexualstraftaten oder Morde begingen. Insbesondere der Umgang mit Jugendlichen, die nach außen hin höflich und zuvorkommend auftreten, doch für Mord oder sexuelle Übergriffe an Kindern verurteilt wurden, geht dem Psychiater nahe. „Da ist einfach die Diskrepanz so groß“, sagt Strahl. Treffe ihn ein Fall zu sehr, übernehme ein Kollege die Therapie des Patienten.
Im Schnitt verbringen die Jugendlichen dreieinhalb Jahre im Maßregelvollzug, bis sie als therapiert entlassen werden können. Machten die Jugendlichen gute Therapiefortschritte, könne ein Gericht sukzessiv Lockerungen anordnen. Dies sehe unter anderem den Umzug in eine weniger streng bewachte Einrichtung vor — ohne vergitterte Fenster und hohen Maschendrahtzaun. Im letzten Schritt lebten die Jugendlichen in eigenen Wohnungen oder Heimen, wo sie regelmäßig durch Therapeuten Kontrollbesuche erhielten, die die Fortschritte dokumentierten. Viele der Jugendlichen hätten bei einem Leben in Freiheit eine gute Prognose, nur etwa 20 Prozent der Jugendlichen begingen in Freiheit erneut Straftaten. Im gewöhnlichen Justizvollzug werde mehr als die Hälfte der Delinquenten wieder straffällig. Nicht zuletzt liegt das Strahl zufolge an der engmaschigen Betreuung der Jugendlichen in der Forensik: Insgesamt 25 Angestellte kümmerten sich interprofessionell um die Jugendlichen, darunter Pflegende, psychologische Psychotherapeuten und drei Psychiater, sagt Strahl. Doch der Fachkräftemangel wirke sich auch zunehmend auf die forensische Psychiatrie aus: Pfleger seien immer schwerer zu finden, Ärztinnen und Ärzte mit der Schwerpunktweiterbildung „Forensische Psychiatrie“ seien eine Seltenheit. Gleichzeitig beobachtet Strahl mit Sorge, dass die Zahlen der Patienten steigen. Im Jahr 2012 startete die Jugendforensik mit zwölf Plätzen. Innerhalb von 13 Jahren habe sich die Zahl der Patienten auf 24 verdoppelt, aktuell herrsche Überbelegung. Eine größere Einrichtung mit zehn weiteren Plätzen sei daher bereits im Bau. Für die steigenden Zahlen macht Strahl unter anderem die Folgen der Coronapandemie verantwortlich, die auch zu einem Anstieg psychischer Erkrankungen führte. Zudem würden viele Jugendliche durch die sozialen Medien zunehmend mit brutalen Gewaltdarstellungen konfrontiert, die zu einer stärkeren Verrohung beitrügen. Oft fehlten auch geeignete Versorgungsstrukturen für psychisch auffällige Jugendliche, die Tiere quälten, „zündelten“, Amokläufe androhten oder Klassenkameraden mit Messern bedrohten. „Viele Patienten weisen bereits ein beachtliches Vorstrafenregister auf, bevor sie als letzte Möglichkeit in der Forensik untergebracht werden“, erklärt Strahl. Eltern, Schulen und Jugendämter zeigten sich häufig ratlos im Umgang mit solchen „Systemsprengern“ und die Anbindung an entsprechende Hilfseinrichtungen funktioniere oftmals nicht richtig. Um psychisch auffällige Jugendliche aufzufangen, bevor es zu einer Unterbringung in der Forensik kommt, bietet der engagierte Psychiater eine „jugendforensische Präventionsambulanz“ an. In seiner Sprechstunde erstellt er unter anderem Risikoeinschätzungen für delinquente Patienten und gibt notwendige Interventionsmöglichkeiten an die Hand, um die Gefährlichkeit zu reduzieren und Straftaten zu verhindern. „Mit Blick auf die steigenden Zahlen im Bereich der Jugendkriminalität bin ich froh, Maßnahmen anbieten zu können,“ sagt Strahl. Die Jugendforensik könne delinquenten Jugendlichen eine neue Lebensperspektive schaffen, doch besser sei es, diese Jugendlichen aufzufangen, bevor sie in die Forensik kommen.
Einblicke in die Forensik
Die LVR-Klinik Viersen bietet für alle interessierten Ärztinnen und Ärzte Hospitationen in der Forensik und Jugendforensik an.
Interessierte können sich dazu wenden an:
Dr. David Strahl, Tel: +49 (0)2162 96-4801, E-Mail: david.strahl(at)lvr.de