Im Jahr 1999 rief Ärzte ohne Grenzen die Kampagne „Zugang zu unentbehrlichen Medikamenten“ ins Leben und hob damit das aus Sicht der Hilfsorganisation verheerende Ungleichgewicht beim Zugang zu lebensnotwendigen Arzneimitteln auf die politische Agenda. Doch auch heute, über 25 Jahre später, erhalten Menschen in Entwicklungs- und Schwellenländern notwendige Medikamente und Impfstoffe oft nicht, weil sie sie schlicht nicht bezahlen können.
von Jocelyne Naujoks
„Noch immer sterben Menschen, weil sie sich die medikamentöse Behandlung, die sie brauchen, nicht leisten können“, sagt Nathalie Ernoult, Leiterin für Kommunikation und politische Arbeit von MSF Access, der vor gut 25 Jahren gegründeten Medikamentenkampagne von Ärzte ohne Grenzen (Médecins Sans Frontières, MSF). „Unseren Teams fehlen Tests und Medikamente, um Krankheiten zu diagnostizieren und zu behandeln.“ Noch immer haben laut Ärzte ohne Grenzen ein Drittel aller Menschen weltweit keinen Zugang zu dringend benötigten Medikamenten, in den ärmsten Regionen Afrikas und Asiens ist es sogar die Hälfte aller Menschen. Es fehlten grundlegende Medikamente zur Behandlung von Infektionskrankheiten wie zum Beispiel Tuberkulose oder HIV, die insbesondere in Afrika und Asien verbreitet sind, berichtet die Hilfsorganisation, die den medizinischen Notstand aus eigener Erfahrung kennt. Arzneimittel seien häufig nicht nur zu teuer. Einige Medikamente würden nicht mehr produziert, weil sie den Pharmaunternehmen keinen Gewinn mehr erbringen würden. Hohe Forschungsinvestitionen in neue Arzneimittel, Impfstoffe oder Diagnostika für Krankheiten, die vor allem in ärmeren Ländern verbreitet sind, seien für die Arzneimittelhersteller schlicht nicht profitabel. „Viele der Herausforderungen, vor denen wir vor über 25 Jahren standen, gibt es noch heute – auch wenn wir über die Jahre einige Erfolge erzielen konnten“, sagt Ernoult. Bis heute kämpfe MSF Access gegen rechtliche und politische Hindernisse, die Menschen in ärmeren Ländern den Zugang zu einer medizinischen Behandlung verwehrten.
Einen Schritt vor, zwei zurück
So sei es noch immer schwierig, medizinische Innovationen Menschen in ärmeren Regionen der Welt zur Verfügung zu stellen. „Die Maßgaben für die Forschung und Entwicklung neuer Arzneimittel sowie die Produktion, Lieferung, Lagerung und Verteilung sind nicht auf die medizinischen Bedürfnisse der Menschen ausgerichtet, die sie brauchen“, kritisiert Ernoult. Ein gutes Beispiel dafür sei die Entwicklung des ersten wirksamen Medikaments gegen Ebola, dessen Forschung und Entwicklung auch Ärzte ohne Grenzen unterstützt hat. „Obwohl das Medikament in den von Ebola betroffenen Ländern insbesondere in Zentralafrika viele Leben retten könnte, lagern diese Medikamente in Ländern, die nicht von der Krankheit betroffen sind“, kritisiert Ernoult. Die Entscheidung darüber, wer wann Zugang zu dem Medikament bekommt und zu welchem Preis liege allein bei den Pharmaunternehmen, die über das Patent verfügen und letztendlich auch bei den Regierungen der Länder, in denen die Unternehmen ihren Sitz haben. Dabei würden, so MSF, nationale Interessen oft als wichtiger erachtet als die globale Gesundheit. „Nach wie vor weiß niemand, wie man jetzt an das Medikament herankommt und wie das Arzneimittel auch langfristig schnell und zuverlässig zu den Patientinnen und Patienten gelangt, die es dringend brauchen“, sagt Ernoult.
Forschungsprioritäten überdenken
„Wir dürfen uns bei der Entwicklung neuer Medikamente nicht zu sehr auf die Freiwilligkeit der Unternehmen verlassen“, fordert die Sprecherin von MSF Access. „Die Logik des globalen Marktes entspricht nicht den Bedürfnissen der globalen Gesundheit“, moniert sie. Das zeige sich auch am Beispiel von Tropenkrankheiten oder Antibiotikaresistenzen immer wieder. Stattdessen fordert MSF, die Prioritätensetzung bei der Forschung und Entwicklung neuer Medikamente zu überdenken. So habe das Pharmaunternehmen Gilead mit Lenacapavir zur HIV-Prophylaxe einen entscheidenden therapeutischen Durchbruch erreicht. Doch obwohl das Unternehmen mit einer freiwilligen Lizenzvereinbarung Lenacapavir in 120 Ländern mit niedrigem und mittlerem Einkommen verfügbar machen soll, verhindern zahlreiche Einschränkungen, Restriktionen und Lücken in den Lizenzvereinbarungen den breiten Zugang zu dem Arzneimittel. So seien viele Länder, darunter viele mit einer hohen HIV-Inzidenz, von der Verteilung ausgeschlossen, der Import bestimmter Ausgangsstoffe zur Herstellung der Generika eingeschränkt oder Zulassungen in Zielstaaten und Preisgenehmigungen so komplex, dass sie den Zugang verzögerten, kritisiert Ernoult.
3,95 Dollar pro Insulin-Pen sind zuviel
Die jahrelange Lobbyarbeit der Medikamentenkampagne zeige allerdings zweifelsohne auch Erfolge. Ernoult erinnert an die Preissenkungen für antiretrovirale Medikamente zur Behandlung von Menschen mit HIV, für die Ärzte ohne Grenzen sich zu Beginn der Kampagne einsetzte. Oder die Förderung alternativer Produzenten für einen Impfstoff gegen Pneumokokken, der es globalen Partnern wie dem Global Fund oder Gavi ermöglichte, die Zahl der Menschen, die behandelt werden konnten, zu erhöhen. Ergebnisse, die sich sehen lassen können. Seit 2019 setzt sich MSF Access zudem dafür ein, mehr Menschen den Zugang zu Hepatitis-C-Medikamenten zu ermöglichen. Gemeinsam mit anderen zivilgesellschaftlichen Organisationen konnte die Hilfsorganisation Pharmaunternehmen darüber hinaus dazu bewegen, den Preis von Tuberkulose-Tests und Medikamenten zu senken. So sank der Preis für die Behandlung einer multiresistenten Tuberkulose von 6.000 US-Dollar pro Behandlungszyklus im Jahr 2013 auf mittlerweile 300 US-Dollar. Einen weiteren großen Erfolg, erzählt Ernoult, habe MSF in Verhandlungen mit dem Pharmaunternehmen Novo Nordisk erreicht. Der weltweit größte Insulinhersteller und Südafrikas wichtigster Lieferant von Humaninsulin-Pens kündigte 2024 an, die Produktion dieser leicht zu bedienenden Pens vollständig einzustellen. „Gemeinsam mit anderen Partnerorganisationen konnten wir erreichen, dass Novo Nordisk die Lieferung von analogen Insulin-Pens nach Südafrika wiederaufgenommen hat. Auch wenn der Preis mit 3,95 US-Dollar noch zu hoch ist,“ sagt Ernoult. Hier geht der Kampf weiter: Im Juni dieses Jahres forderte MSF Novo Nordisk und weitere Unternehmen auf, Insulin-Pens zu einem Preis von einem Dollar zur Verfügung zu stellen – ein Preis, der laut Angaben von Ärzte ohne Grenzen die Produktionskosten inklusive Gewinn abdeckt.
Rückzug auf nationale Interessen
Wie blickt man bei MSF Access in die Zukunft? „Wir beobachten in Ländern mit hohem Einkommen eine Politisierung der globalen Gesundheitsagenda, insbesondere nach dem politischen Umbruch in den USA“, berichtet Ernoult. Viele Länder hätten ihre Hilfsetats gekürzt und konzentrierten sich stattdessen auf nationale Interessen. Dies habe vor allem kurzfristig auch Einfluss auf die Verteilung von Medikamenten, die zum Beispiel über Gavi, den Global Fund oder andere subventionierte Systeme zur Verfügung gestellt würden.
Langfristig können diese Veränderungen laut Ernoult jedoch auch Chancen eröffnen: „Wir müssen hinterfragen, wie effektiv die Institutionen der globalen Gesundheitsversorgung sind und was wir ändern müssen, damit der Zugang zu Medikamenten gerechter wird und nicht mehr ausschließlich auf einem Modell der Wohltätigkeit basiert.“ Es zeige sich, dass Länder mit geringen und mittleren Einkommen immer mehr dazu tendierten, selbst die Verantwortung für Forschung, Entwicklung und Produktion benötigter Medikamente und die Versorgung der eigenen Bevölkerung zu übernehmen, um den Gesundheitsbedarf zu decken und eine gerechte Verteilung zu gewährleisten. Dies sei unter anderem eine Folge der Coronapandemie, die nochmals gezeigt habe, wie gravierend die Ungleichheit in der Verteilung von Tests, Medikamenten und Impfstoffen noch immer ist.
Ärztekammer Nordrhein

Gesundheits- und Sozialpolitik
Der weltweite Zugang zu Medikamenten bleibt ungleich
Ärztekammer Nordrhein


