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Mail aus Bonn

17.10.2025 Seite 10
RAE Ausgabe 11/2025

Rheinisches Ärzteblatt

Heft 11/2025

Seite 10

Lüko Fischer © privat

Der Chirurg schiebt mir ein Blatt auf dem Prüfungstisch zu. Ich erkenne sechs pathologische After. Die Prüferinnen und Prüfer, die mir gegenübersitzen, sind die liebsten Menschen der Welt und doch dreht sich mir in jeder mündlichen Prüfung seit dem mündlichen Physikum die Kehle um 180 Grad. Am liebsten würde ich irgendwo am Meer stehen und sechsmal After in die Wellen schreien. Doch die Pathologien fließen sanft über meine Lippen, während ich mit meinem zitternden Finger die Bilder durchgehe: Hämorrhoiden, Analkarzinom, Analprolaps, Analabszess, Analfissur und Analvenenthrombose. „Top! Super! Alles richtig erkannt, Herr Fischer!“ Der Chirurg ist besonders davon beeindruckt, dass ich die Analvenenthrombose erkannt habe. Diese würden nämlich sogar manche Hausärzte übersehen, so der Prüfer. Ich bin mir nicht sicher, ob er das ernst meint oder ob das nur die Einleitung für weitere Fragen zur Analvenenthrombose sein sollte. Meine Kehle dreht sich um weitere 180 Grad, weil ich die meisten Fragen nicht beantworten kann. Noch aus der anatomischen Propädeutik in der Vorklinik weiß ich, dass Stimmlippen bei einer 360 Graddrehung keine Töne mehr hervorbringen. Also sitze ich da mit dem größten Kloß der Geschichte im Hals und warte darauf, dass der Chirurg mich aus meiner Unwissenheit erlöst. Die Prüferinnen und Prüfer aus der Orthopädie, Anästhesie und Urologie hören mich den Kloß schlucken, während ich mehr oder weniger zielstrebig durch deren Fragenflut schwimme. Am Ende dieser Prüfung des fächerübergreifenden Lernens wirft der Chirurg mir zu meiner Verwunderung und Erleichterung eine 1,0 hinterher. Offenbar hat die Analvenenthrombose mich gerettet.

Ich weiß jetzt mehr denn je, dass ich mich auf einer Reise befinde. Ich bin noch nicht da, wo ich mich selbst sehe und wo ich als Arzt sein will. Ich werde noch viel schwimmen müssen und mir wird noch häufig der Hintern gerettet. Und irgendwie kann ich mich trotzdem darauf freuen.

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