Aschaffenburg, Mannheim, Hamburg: Eine Reihe von Angriffen mutmaßlich psychisch kranker Täterinnen und Täter gegen arglose Passanten hat in der Öffentlichkeit für massive Verunsicherung gesorgt. Schnell wurden Forderungen nach Strafverschärfungen oder einem Register für psychisch kranke Gewalttäter laut. In NRW versucht man, die Diskussion zu versachlichen.
von Heike Korzilius
Aschaffenburg, Park Schöntal: Im Januar 2025 attackiert ein 28-jähriger Afghane eine Kindergartengruppe mit dem Messer, tötet ein Kleinkind und einen zu Hilfe eilenden Mann. Er verletzt drei weitere Menschen zum Teil schwer. Mannheim, Innenstadt: Anfang März tötet ein 40-jähriger Deutscher bei einer Amokfahrt zwei Menschen und verletzt elf weitere zum Teil schwer. Hamburg, Hauptbahnhof: Ende Mai sticht eine 39-jährige Deutsche wahllos mit dem Messer auf Reisende ein. Sie verletzt dabei 18 Menschen, vier von ihnen lebensgefährlich. Täter und Täterin gelten als schwer psychisch krank.
Ihre Taten sorgten bundesweit für Schlagzeilen, die Öffentlichkeit reagierte verunsichert, die sozialen Medien liefen heiß. Schnell wurden Rufe laut nach einer Verschärfung der Psychisch-Kranken-(Hilfe)-Gesetze, die auf Landesebene bei akuter Selbst- oder Fremdgefährdung die zwangsweise Unterbringung psychisch Kranker in der Psychiatrie regeln. Der Generalsekretär der CDU, Carsten Linnemann, hatte bereits Ende 2024 im Deutschlandfunk gefordert, ein Register für psychisch kranke Gewalttäter einzurichten. Zugleich sprach er sich für einen besseren Austausch der Sicherheitsbehörden untereinander sowie mit Psychiatern und Psychotherapeuten aus, um derartige Taten möglichst zu verhindern. Anlass für Linnemanns Vorstoß war der Anschlag auf den Magdeburger Weihnachtsmarkt, bei dem ein aus Saudi-Arabien stammender, psychisch auffälliger Arzt Ende Dezember vorigen Jahres sechs Menschen getötet und 300 verletzt hatte.
Angesichts der Häufung solcher Taten herrsche eine große Verunsicherung unter den Fachleuten, aber auch in der öffentlichen Debatte, stellte Matthias Heidmeier fest. Der Staatssekretär im NRW-Gesundheitsministerium forderte bei einer Tagung zum Gewaltrisiko bei psychischen Erkrankungen am 19. November im Haus der Ärzteschaft in Düsseldorf zugleich: „Wir müssen die Diskussion über den Umgang mit psychisch kranken Gewalttätern mit Maß und Mitte führen.“ Das Ministerium hatte gemeinsam mit den beiden Ärztekammern des Landes zu der Veranstaltung geladen. Die hohe Zahl von gut 300 Teilnehmerinnen und Teilnehmern belegte, dass man mit dem Thema offenbar einen Nerv getroffen hatte.
Vertrauen ins Fachpersonal
Dr. Sven Dreyer, Präsident der Ärztekammer Nordrhein, fasste die Herausforderung in seiner Begrüßung zusammen: „Wir stehen vor der höchst anspruchsvollen Aufgabe, die berechtigten Sicherheitsbedürfnisse der Allgemeinheit nach Schutz mit dem Anspruch auf Selbstbestimmung und Antistigmatisierung von Menschen mit schweren psychischen Erkrankungen und deren Schutz vor Diskriminierung in Einklang zu bringen“. Diese Aufgabe, so der Kammerpräsident, könne nur in Zusammenarbeit von Medizin, Recht, Verwaltung, Politik und Betroffenen angegangen werden.
Staatssekretär Heidmeier verwies auf Fortschritte bei der Behandlung psychisch Kranker seit der Psychiatrie-Enquete vor 50 Jahren. Das gesellschaftliche Mindset habe sich seither deutlich zum Positiven verändert, Tabus seien aufgebrochen worden. Das dürfe man wegen eines allgemeinen Bedrohungsgefühls nicht grundsätzlich infrage stellen. „Es braucht bei diesem Thema das Vertrauen der Gesellschaft in das Fachpersonal. Dazu gehört auch, dass wir Probleme offen benennen und artikulieren, dass wir verdeutlichen, dass wir großen Wert auf den Schutz der Allgemeinheit legen, aber andererseits keine Stigmatisierung, keine Register oder einfaches Wegsperren wollen“ sagte Heidmeier. „Wir wollen die richtigen Antworten geben.“
Experten sehen diese in einer fachgerechten, niedrigschwelligen und vor allem kontinuierlichen psychiatrisch-psychotherapeutischen Behandlung. „Das ist das beste Mittel der Gewaltprävention bei Menschen mit psychischen Erkrankungen“, sagte Professor Dr. Euphrosyne Gouzoulis-Mayfrank, Präsidentin der Deutschen Gesellschaft für Psychiatrie und Psychotherapie, Psychosomatik und Nervenheilkunde (DGPPN), in Düsseldorf. Eine konsequente Therapie senke nachweislich das Risiko für Gewalttaten. Zusätzlich seien Maßnahmen zur Förderung der sozialen Integration und Teilhabe essenziell. Denn das Risiko, dass ein Mensch mit einer psychischen Erkrankung gewalttätig werde, entstehe aus der Wechselwirkung mit weiteren Belastungs- und Risikofaktoren für Aggression und Gewalttätigkeit, wie zum Beispiel junges Alter, männliches Geschlecht, Konsum von Drogen oder Alkohol, eigene Gewalterfahrungen, soziale Isolation, Armut oder Wohnungslosigkeit, gab Gouzoulis-Mayfrank zu bedenken.
In einem Positionspapier habe die DGPPN deshalb den Ausbau geeigneter Behandlungsstrukturen für Menschen mit schweren psychischen Störungen gefordert, so die Psychiaterin. Gerade schwer psychisch Kranke würden durch die ambulante psychiatrische Regelversorgung und Psychotherapien häufig nicht erreicht. Es müssten deshalb Möglichkeiten geschaffen werden, die Betroffenen flächendeckend und niederschwellig, gegebenenfalls auch aufsuchend in ihrem Wohnumfeld zu behandeln. Notwendig sei zudem ein Ausbau des sozialpsychiatrischen Dienstes.
Register verhindern keine Gewalt
Die Diskussion um eine Verschärfung der Unterbringungsgesetze oder ein Register für psychisch Kranke hält Gouzoulis-Mayfrank nicht nur für nicht zielführend, sondern sogar für stigmatisierend und gefährlich. „Psychische Erkrankungen sind generell nicht mit einem erhöhten Gewaltrisiko verknüpft“, betonte die Psychiaterin. Ein höheres Risiko bestehe nur bei bestimmten Erkrankungen wie Schizophrenien und anderen Psychosen oder schweren Persönlichkeitsstörungen und das meist auch nur, wenn weitere Risikofaktoren wie Alkohol- oder Drogenkonsum dazukämen und die Betroffenen unbehandelt blieben. „Eine zentrale Erfassung aller Menschen mit einer psychischen Diagnose würde Gewalttaten nicht verhindern“, sagte Gouzoulis-Mayfrank. Etwa ein Drittel der Bevölkerung leide jedes Jahr unter einer psychischen Störung. Da dürfte allein die Fülle der Personendaten eine Herausforderung für die Sicherheitsbehörden sein. Zumal das Mittel der „klassischen“ Gefährderansprache bei psychisch Kranken in der Regel ins Leere laufe. Sie benötigten eine kontinuierliche Therapie, keinen einmaligen Besuch. Eine Meldung von Patientinnen und Patienten an ein behördliches Register unterminiere zudem das Vertrauensverhältnis zu den Therapeuten – das Fundament für eine erfolgreiche Behandlung – und führe im schlimmsten Fall dazu, dass Patienten keine Hilfe mehr suchten.
Bestehende Gesetze anwenden
Eine besondere Herausforderung stellen Gouzoulis-Mayfrank zufolge diejenigen Patientinnen und Patienten dar, die in der Vergangenheit durch Aggressivität und Gewaltbereitschaft aufgefallen seien, eine Behandlung jedoch verweigerten. Hier müsse im Einzelfall geprüft werden, ob die Voraussetzungen für eine unfreiwillige Behandlung vorliegen. Allerdings sei es aktuell so, dass eine Unterbringung wegen Selbst- oder Fremdgefährdung unmittelbar beendet werde, wenn die akute Symptomatik abgeklungen sei, auch wenn sich der Gesamtzustand des Patienten noch nicht ausreichend stabilisiert habe. „Damit ist mittel- und langfristig weder den Betroffenen noch der Gesellschaft geholfen“, so die DGPPN-Präsidentin. Diese Praxis müsse man unbedingt überdenken. Nach Ansicht von Gouzoulis-Mayfrank braucht es dafür keine neuen gesetzlichen Regelungen. „Wir müssen die bestehenden Möglichkeiten besser anwenden und zum Beispiel auch nachsorgende Hilfen nutzen.“ Wichtig ist der Psychiaterin aber ein zentraler Punkt: „Die meisten schweren Gewalttaten werden von Menschen verübt, die nicht psychisch krank sind und die volle strafrechtliche Verantwortung für ihre Taten tragen.“
Vorbilder im Süden
Als „Modell gelebter interprofessioneller Verantwortung“ beschrieb Professor Dr. Elmar Habermeyer, Direktor Forensische Psychiatrie und Psychotherapie der Psychiatrischen Universitätsklinik Zürich, die dort angesiedelte Fachstelle Forensic Assessment & Risk Management (FFA). Die FFA unterstütze die Zürcher Polizeibehörden und die Staatsanwaltschaft mit forensischem Fachwissen bei der Risikoeinschätzung und im Fallmanagement von psychisch kranken Gewalttätern. Für Habermeyer ist die FFA, die direkt an die polizeilichen Gewaltschutzstellen angebunden sei, ein gelungenes Beispiel für die institutionelle Verknüpfung von forensisch-psychiatrisch/psychologischer Fachkompetenz und operativem Bedrohungsmanagement, wie er im Düsseldorfer Haus der Ärzteschaft erläuterte. Dabei betonte Habermeyer, dass es bei dem Modell nicht um präventive Eingriffe in Freiheitsrechte gehe, die zu Vertrauensverlusten führen könnten. Im Rahmen des Kantonalen Bedrohungsmanagements Zürich habe die FFA im Jahr 2024 an 74 Gefährderansprachen teilgenommen. In der Regel sei der Kontakt zum Gefährder gut, betonte Habermeyer. Über 80 Prozent der Gefährder hätten einem (freiwilligen) Gespräch zugestimmt. Die frühzeitigen Gespräche mit Betroffenen zielten auf De-Eskalation und Kooperation, nicht auf Sanktion.
Die Versorgungslücke zwischen ambulanter psychiatrischer Versorgung und Forensik will die Präventionsstelle der Kliniken des Bezirks Oberbayern schließen. Die ambulante Versorgung sei symptomorientiert, erklärte Dr. Islem Ganzoui, Leitende Oberärztin der Präventionsstelle am Isar-Amper-Klinikum in München. Dort finde kaum eine systematische Risikodiagnostik für potenziell gewalttätige schwer psychisch kranke Menschen statt. Die forensische Versorgung wiederum greife erst nach einer schweren Straftat. „Dazwischen liegt ein Niemandsland ohne klare Zuständigkeit“, sagte Ganzoui. Das Angebot der Präventionsstelle richte sich an Menschen mit Erkrankungen aus dem schizophrenen Formenkreis oder mit einer schweren Persönlichkeitsstörung, die in ihrer Krankheitsgeschichte ein Risiko für gewalttätiges Verhalten aufwiesen und die die üblichen Behandlungs- und Hilfeangebote ablehnten. Ziel sei es, Straftaten zu verhindern, potenzielle Opfer zu schützen, aber auch den Betroffenen zu ermöglichen, ein möglichst normales Leben führen zu können. Die Behandlung in der Präventionsstelle erfolge freiwillig und ohne Zwang. Motivation und Beziehungsgestaltung stünden im Mittelpunkt. Das Modell sei niederschwellig und bei Bedarf aufsuchend gestaltet. Es gelte das „No-Drop-Out-Prinzip“: „Wir bleiben dran, auch bei Krisen oder Rückzug des Patienten“, betont Ganzoui. Man setze an, bevor es zu einer Unterbringung im Maßregelvollzug komme. Ihre zentrale Botschaft: „Nicht die Erkrankung macht gefährlich, sondern fehlender Halt, fehlende Struktur und fehlende Einbindung.


