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Begrüßung neuer Kammermitglieder im Frühjahr 2013


„Priorisierung ist der heimlichen Rationierung ethisch überlegen“

Rund 100 junge Ärztinnen und Ärzte folgten Mitte März der Einladung der Ärztekammer Nordrhein zur sechsten Begrüßungsveranstaltung für neue Mitglieder. In seinem Festvortrag stellte Professor Dr. Dominik Groß von der RWTH Aachen ethische Überlegungen zur Leistungsbegrenzung im Gesundheitswesen an.

von Horst Schumacher

Kammerpräsident Rudolf Henke erläuterte den neuen Mitgliedern Aufgaben und Funktion der Kammer: Als öffentlich-rechtliche Selbstverwaltungskörperschaft nimmt die Ärztekammer Nordrhein nach dem Heilberufs­gesetz des Landes die beruflichen Belange aller rund 54.000 Ärztinnen und Ärzte im Landesteil wahr, etwa durch Kontakte mit der Landesregierung, dem Landtag und den Medien. Sie nimmt regelmäßig Stellung beispielsweise zu Gesetzen und ­Verordnungen oder auch zu internen Richtlinien der Landesverwaltung, etwa aktuell zum neuen nordrhein-westfälischen Kranken­hausrahmenplan.

Ihre Aufgaben erledigt die Kammer ganz überwiegend in Selbstverwaltung. In kleinerem Umfang erfüllt sie, dann weisungsgebunden, auch staatliche Aufgaben. Wesentliche Selbstverwaltungsaufgaben sind beispielsweise die ärztliche Weiterbildung, die ärztliche Fortbildung und die ärztliche Qualitätssicherung. Zu den Kernaufgaben der Selbstverwaltung gehört auch die Berufsaufsicht. Die Kammer definiert in der Berufsordnung die ethischen Anforderungen an das ärztliche Handeln und sanktioniert Verstöße gegen das Berufsrecht. „In der Berufsordnung steht, was man als Arzt bei vernünftiger Überlegung an ordentlicher Berufsausübung schuldet“, sagte Henke.
Nordrhein-Westfalen ist das einzige Bundesland mit zwei Ärztekammern, neben der Ärztekammer Nordrhein gibt es die Ärztekammer Westfalen-Lippe in Münster. Die rheinische Ärztekammer ist die drittgrößte bundesweit. Die Ärztekammer ist keine rein ärztliche Interessenvertretung wie die ärztlichen Verbände, sondern gesetzlich auf die Wahrnehmung öffentlicher Aufgaben verpflichtet und versteht sich auch als Partner von Bürgern und Patienten. „Insofern haben wir auch einen sozialmedizinischen Auftrag“, so der Präsident.

Die bei der Kammer eingerichtete unabhängige Gutachterkommission schlichtet bei Behandlungsfehler-Vorwürfen. Auch bei Streitigkeiten über privatärztliche Honorarforderungen bietet die Ärztekammer eine Schlichtung an. Die Patientenberatung und die Kooperationsstelle für Selbsthilfegruppen und Ärzte stehen mit Auskünften zur Verfügung. Zur Alterssicherung ihrer Ärztinnen und Ärzte hat die Kammer die Nordrheinische Ärzteversorgung eingerichtet. Die Ärztekammer Nordrhein versteht sich zunehmend auch als Service-Institution, die ihre Mitglieder in allen Belangen rund um die ärztliche Berufsausübung informiert, berät und unterstützt.

Die Pflichtmitgliedschaft in der Kammer ist verbunden mit - nach Einkommen gestaffelten - Pflichtbeiträgen. Die Mitglieder ihrerseits können die Entscheidungen der Kammer auf demokratischem Wege mitgestalten, zum Beispiel mit ihrer Stimme bei den alle fünf Jahre stattfindenden Wahlen zur Kammerversammlung. Diese ist das höchste Organ der Kammer, nach Rudolf Henkes Worten das „Parlament der rheinischen Ärztinnen und Ärzte“, dem 121 Mitglieder angehören. Sie haben beispielsweise bei der Weiterbildungsordnung oder der Berufsordnung das letzte Wort.
Die Kammerversammlung wählt den 18-köpfigen Vorstand, der die Geschäfte der Kammer führt, und den Präsidenten, der ebenfalls ein gesetzliches Organ der Kammer ist, sowie den Vizepräsidenten als dessen Vertreter. Auch die 27 Kreisstellenvorstände und die acht Bezirksstellenausschüsse werden alle fünf Jahre gewählt. Darüber hinaus gestalten die Mitglieder in zahlreichen Ausschüssen und Kommissionen die Arbeit ihrer Kammer mit. „Uns eint das Selbstverständnis, dass wir unseren Beruf als Profession verstehen, die zentrale gesellschaftliche Werte wie Gesundheit und Recht wahrt“, sagte Henke.

Ethischer Diskurs über Leistungsgrenzen

Mit dem Thema „Gesundheit und Ökonomie in der Medizin – die ethische Perspektive“ befasste sich der Festvortrag von Professor Dr. Dominik Groß, dem Direktor des Instituts für Geschichte, Theorie und Ethik der Medizin am Universitäts­klinikum Aachen. Nach seinen Worten gehört Deutschland – neben den USA, Frankreich und der Schweiz - seit vielen Jahren zu den Ländern, die am meisten für das Gesundheitswesen ausgeben. Die Nachfrage nach Gesundheitsleistungen steige weiter an, zum Beispiel wegen des medizinisch-technischen Fortschritts, der alternden Bevölkerung und einer steigenden Zahl älterer, chronisch kranker und multimorbider Patienten sowie wachsender ­Ansprüche an das Gesundheitswesen.

Der Anteil der Gesundheitsausgaben am Bruttoinlandsprodukt sei jedoch angesichts begrenzter finanzieller Ressourcen nicht sehr viel weiter zu steigern, zumal das Gesundheitswesen mit anderen Sektoren wie Bildung, Bekämpfung von Armut und Arbeitslosigkeit oder Innere Sicherheit konkurriert, so Groß. Daraus ergibt sich nach seinen Worten, dass über ethisch vertretbare Begrenzungen nachgedacht werden muss. Die Rationalisierung – etwa Vermeidung von Doppeluntersuchungen und Schnittstellenproblemen – sei ethisch kaum umstritten, zur Lösung des Problems jedoch nicht hinreichend. Daher werde auch über Rationierung und Priorisierung diskutiert.

Letztlich gehe es um Abwägungen in einem ethischen Dilemma: einerseits sei es ethisch unumstritten, dass menschliches Leben nicht in Geldwerten zu bemessen ist. Auf der anderen Seite seien wegen der begrenzten Mittel auch finanzielle Gesichtspunkte zu berücksichtigen. Nur in einer Kombination verschiedener Gesichtspunkte lässt sich nach Groß’ Auffassung eine gerechte, ethisch einigermaßen vertretbare Lösung finden. So solle der Diskurs über Begrenzungen offen in einer Form stattfinden, „die jeder mitverfolgen und nachvollziehen kann“. Die Betroffenen – etwa Patientenvertreter oder Selbsthilfegruppen – sollen maßgeblich in die Diskussion einbezogen werden.

Das Verfahren der Priorisierung ist nach Meinung von Groß der Rationierung - insbesondere dem verborgenen, vom Patienten nicht zu erkennenden Vorenthalten von Leistungen - ethisch überlegen. Priorisierung bedeutet die Bildung einer Rangreihe von Indikationen, Patientengruppen oder Verfahren, an deren Spitze sich unverzichtbare und an deren Ende sich wirkungslose oder gar schädliche Maßnahmen finden. Der Medizinethiker plädierte auch für ein Festhalten am Prinzip der Solidarität, zumindest einer Basisversorgung nach dem Egalitätsprinzip. ­Eine streng utilitaristische Orientierung dagegen, die zum Beispiel Leistungsausschlüsse für unheilbar Kranke oder sehr alte Menschen nach sich ziehen könnte, lehnt er wie die Mehrheit der Bevölkerung als mit der Menschenwürde nicht vereinbar ab.

Referat: Gesundheit und Ökonomie in der Medizin - die (medizin)ethische Perspektive (1,74 MB)

Ein Höhepunkt der Begrüßungsveranstaltung war das Ärztliche Gelöbnis, das die jungen Ärztinnen und Ärzte ablegten. Anschließend konnten sie mit ihren Unterschriften bekräftigen, dass sie sich auf die Grundwerte ihres Berufes verpflichten.

Gelöbnis

Für jede Ärztin und jeden Arzt gilt folgendes Gelöbnis:

„Bei meiner Aufnahme in den ärztlichen Berufsstand gelobe ich, mein Leben in den Dienst der Menschlichkeit zu stellen. Ich werde meinen Beruf mit Gewissenhaftigkeit und Würde ausüben.Die Erhaltung und Wiederherstellung der Gesundheit meiner Patientinnen und Patienten soll oberstes Gebot meines Handelns sein. Ich werde alle mir anvertrauten Geheimnisse auch über den Tod meiner Patientinnen und Patienten hinaus wahren. Ich werde mit allen meinen Kräften die Ehre und die edle Überlieferung des ärztlichen Berufes aufrechterhalten und bei der Ausübung meiner ärztlichen Pflichten keinen Unterschied machen weder nach Geschlecht, Religion, Nationalität, Rasse noch nach Parteizugehörigkeit oder sozialer Stellung. Ich werde jedem Menschenleben von der
Empfängnis an Ehrfurcht entgegenbringen und selbst unter Bedrohung meine ärztliche Kunst nicht in Widerspruch zu den Geboten der Menschlichkeit anwenden. Ich werde allen, die mich den ärztlichen Beruf gelehrt haben, sowie Kolleginnen und Kollegen die schuldige Achtung erweisen.

Dies alles verspreche ich auf meine Ehre.“