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„Wir dürfen den Patienten nicht aus dem Blick verlieren“


Die Lebenswissenschaften sind im Begriff, die Naturwissenschaften als Grundlage des ärztlichen Handelns abzulösen, sagte der Düsseldorfer Medizinhistoriker Professor Dr. Alfons Labisch Ende März bei der Begrüßungsveranstaltung der Ärztekammer Nordr

von Horst Schumacher

„Sie gehören dazu und sind jetzt ein Teil von uns“, sagte Kammer-Vizepräsident Bernd Zimmer, der die neuen Mitglieder im Düsseldorfer Haus der Ärzteschaft willkommen hieß. Zimmer erläuterte Aufgaben und Funk-
tion der Ärztekammer Nordrhein: Als öffentlich-rechtliche Selbstverwaltungskörperschaft nimmt sie nach dem Heilberufsgesetz des Landes die beruflichen Belange aller rund 56.000 Ärztinnen und Ärzte im Landesteil wahr, etwa durch Kontakte mit der Landesregierung, dem Landtag und den Medien.

Die Ärztekammer ist jedoch keine rein ärztliche Interessenvertretung wie die ärztlichen Verbände, sondern gesetzlich auf die Wahrnehmung öffentlicher Aufgaben verpflichtet. Zunehmend versteht sie sich auch als Service-Institution, die ihre Mitglieder in allen Belangen rund um die ärztliche Berufsausübung informiert, berät und unterstützt. „Sagen Sie uns und schreiben Sie uns, was wir besser machen können“, sagte Bernd Zimmer.

Ihre Aufgaben erledigt die Kammer ganz überwiegend in Selbstverwaltung.

In kleinerem Umfang erfüllt sie, dann weisungsgebunden, auch staatliche Aufgaben. Wesentliche Selbstverwaltungsaufgaben sind beispielsweise die ärztliche Weiterbildung, die ärztliche Fortbildung und die ärztliche Qualitätssicherung. Zu den Kernaufgaben der Selbstverwaltung gehört auch die Berufsaufsicht. Die Kammer definiert in der Berufsordnung die ethischen Anforderungen an das ärztliche Handeln und sanktioniert Verstöße gegen das Berufsrecht. „Das ist die unangenehme Seite“, so der Vizepräsident.

Bei Behandlungsfehler-Vorwürfen schlichtet die bei der Kammer eingerichtete unabhängige Gutachterkommission. Auch bei Streitigkeiten über privatärztliche Honorarforderungen bietet die Ärztekammer eine Schlichtung an. Die Patientenberatung und die Kooperationsstelle für Selbsthilfegruppen und Ärzte stehen mit Auskünften zur Verfügung. Zur Alterssicherung ihrer Ärztinnen und ­Ärzte hat die Kammer die Nordrheinische Ärzteversorgung eingerichtet.
Die Pflichtmitgliedschaft in der Kammer ist verbunden mit - nach Einkommen gestaffelten - Pflichtbeiträgen. Die Mitglieder ihrerseits können die Entscheidungen der Kammer auf demokratischem Wege mitgestalten, etwa mit ihrer Stimme bei den alle fünf Jahre stattfindenden Wahlen zur Kammerversammlung. Dieses ärztliche „Landesparlament“, dem 121 Mitglieder angehören, hat beispielsweise bei der Weiterbildungsordnung oder der Berufsordnung das letzte Wort. „Dieses Jahr ist Wahljahr“, sagte Zimmer, „bitte beteiligen Sie sich an den Wahlen.“

Die Kammerversammlung als höchstes Organ der Kammer wählt den ehrenamtlich tätigen 18-köpfigen Vorstand, der die Geschäfte der Kammer führt, einschließlich des Präsidenten, der ebenfalls ein gesetzliches Organ ist, sowie des Vizeprä­sidenten als dessen Vertreter. Auch die 27 Kreisstellenvorstände und die acht Bezirksstellenausschüsse werden ab Anfang Mai bis zum 13. Juni 2014 per Briefwahl neu gewählt. Darüber hinaus gestalten die Mitglieder in zahlreichen Ausschüssen und Kommissionen die Arbeit ihrer Kammer mit.

Zwischen Dogmatismus und Empirismus

„Naturwissenschaften, Lebenswissenschaften und die Medizin“ hatte Professor Dr. Alfons Labisch, Direktor des Instituts für Geschichte der Medizin der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf, seinen Festvortrag überschrieben. Er ging der Frage nach, was ärztliches Handeln im Wandel unterschiedlicher medizinischer Konzepte eigentlich ausmacht.

Wenn Labisch Medizinstudierende fragt „Warum machen Sie das eigentlich?“, dann lautet nach seinen Worten die Standard-Antwort: „Ich möchte Menschen helfen.“ Wenn der Professor dann einwendet, dass doch auch andere Ausbildungen zur Hilfe befähigen, fällt häufig der Satz: „Ich möchte etwas wissen.“

Handeln auf wissenschaftlicher Basis, und dies bezogen auf die individuellen ­Bedürfnisse des Patienten – das ist nach Labischs Worten die besondere ärztliche Aufgabe. Die Medizin als „reine“ Wissenschaft zu begreifen führe in die Irre, nämlich in den Dogmatismus. Für den Arzt ebenso wenig zielführend sei jedoch ein reiner Empirismus, also ein vor allem auf persönliche Erfahrung und weniger auf Wissen und Theorie gestütztes Handeln: „Dann sind wir bei der uralten Krankenschwester, die den ärztlichen Berufsanfängern haushoch überlegen ist.“

Nach Labischs Worten kommt es darauf an, Wissen und Erfahrung mit Blick auf den Patienten zu kombinieren. Die Wissenschaft soll die Sicherheit im ärztlichen Handeln vermitteln. Der Patient hat erst dann einen Nutzen, wenn der Arzt sein Wissen pragmatisch und auf den einzelnen Patienten und dessen Lebenswelt bezogen anzuwenden vermag.
Die jeweils gültigen medizinischen Konzepte wechseln mit den Zeiten - und damit auch die theoretischen Vorgaben für das ärztliche Handeln, wie Labisch darlegte. So begriff die stark von den Naturwissenschaften geprägte Medizin, die sich ab Mitte des 19. Jahrhunderts durchzusetzen begann, den Menschen quasi als ­physikalisch-chemische Fabrik. Symptome wurden als Prozessstörungen angesehen, die durch gezielte Eingriffe behoben werden sollten. Es wurden Krankheiten behandelt, nicht Menschen. Labisch: „Der Patient als Mensch war für eine OP völlig belanglos.“

Ganz anders dagegen der Genetiker und Biophysiker Max Delbrück, der bereits im Jahr 1945 schrieb: „Die komplexe Gestalt jeder lebenden Zelle ist ein Ausdruck der Tatsache, dass jede von ihnen mehr ein ­historisches als ein physikalisches Ereignis ist. Solche komplexen Dinge entstehen nicht jeden Tag durch Spontanerzeugung aus nicht belebter Materie …“

Ein regelrechter Paradigmenwechsel in der Medizin entwickelt sich laut Alfons Labisch seit Beginn der 1990er Jahre: Die Naturwissenschaften verlieren an Bedeutung als wissenschaftliche Grundlage für die Medizin, die sich zunehmend auf die „Lebenswissenschaften“ (Life Scenes) stützt. Diese begreifen den Menschen als äußerst komplexes biologisches System, das in einer fortwährenden molekularen Kooperation und Kommunikation nach innen und außen steht.

Solche lebenden Systeme unterliegen laut Labisch zwar den Gesetzen der Physik und der Chemie, ihr Verhalten ist aber nicht Folge einer jeweiligen physika­lischen oder chemischen Ursache, sondern ein Ergebnis entsprechender Kommunikatoren auf der Ebene der Nukleinsäuren, der Proteine und ihrer Rezeptoren und ­Liganden, der Oberflächenrezeptoren der Zellen und der Sinnessysteme als Verbindung zur Lebenswelt. Labisch: „Umwelt und Innenwelt gehören auf irgend­eine Weise zusammen.“

Das neue Konzept der „molekularen Medizin“ wird dazu führen, dass sich das ärztliche Handlungsspektrum auf der Grundlage biologischer Kriterien individualisieren wird und Prophylaxe und ­Lebensbegleitung im Vergleich zur Therapie wichtiger werden, glaubt Labisch. Seiner Auffassung nach bedarf es zunehmend einer zum Beispiel hausärztlichen Lebensbegleitung der Menschen, die zu „Selbstorganisatoren ihres genomischen Potenzials“ werden. „Wir dürfen den ­Patienten nicht aus dem Blick verlieren. Nach biologischen Kriterien personalisierte Medizin ist nicht per se auf den ­Patienten ausgerichtet“, mahnte Labisch. 


Ein Höhepunkt der Begrüßungsveranstaltung war das Ärztliche Gelöbnis, das die jungen Ärztinnen und Ärzte ablegten. Anschließend konnten sie mit ihren Unterschriften bekräftigen, dass sie sich auf die Grundwerte ihres Berufes verpflichten.

Gelöbnis