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Künstlich. Intelligent. Und besser?

09.05.2019 Seite 18
RAE Ausgabe 6/2019

Rheinisches Ärzteblatt

Heft 6/2019

Seite 18

  • Referenz ist die ärztliche Diagnose Bei allem technologischen Fortschritt benötigen KI-Programme Referenzen für die von ihnen zu automatisierenden Analysen, also validierte ärztliche Daten von Befunden und Diagnosen oder Bildgebung. Diese Informationen müssen für die Programme aufbereitet vorliegen und operationalisierbar sein, zum Beispiel durch die sogenannte Annotation von Diagnosen. Notwendig sind immer ausreichend große und vielfältige Datenmengen, um ein Overfitting zu vermeiden. Bislang haben sich etliche Prognosen überlebt, bis wann die KI den Menschen als intelligenteste Lebensform auf dem Planeten ablöst – vom „Bauchgefühl“ der Ärztin oder des Arztes ganz zu schweigen. © maciek905/Fotolia
  • © JIRAROJ PRADITCHAROENKUL/iStock
Die Radiologen gehörten mit ihren Datenmengen zu den Pionieren bei der Entwicklung und Integration Intelligenter Systeme. Doch die Künstliche Intelligenz, oder was dafür gehalten wird, dringt in weitere Anwendungsfelder vor.

von Bülent Erdogan

Algorithmen erhöhen die Genauigkeit von Diagnosen, Facebook verhindert Suizide, und die Smart Watch schützt vor dem Schlaganfall. Die aktuelle Gesundheits-Revolution führt zu besseren Ärzten und kompetenteren Patienten. – Was, Sie glauben nicht daran? In der Tat gebietet der gesunde Menschenverstand eine grundlegende Skepsis bezüglich reißerischer Ankündigungen wie der obigen Aufzählung, die Kurt-Martin Mayer kürzlich im Magazin Focus ­tätigte („Keine Angst vor Dr. Data!“ vom 2. März 2019). Auch ein prächtiger Hefe-Zopf kann kurz vor Ultimo in sich zusammenfallen. Und doch gewinnt man mitunter den Eindruck, als kämpfe Homo Sapiens im Jahr 78 nach Konrad Zuses Computer „Z3“  sein letztes Gefecht, ehe er von Frankensteins Erben endgültig zur Nummer zwei auf dem Planeten Erde degradiert wird.

Welcher Sichtweise man auch zuneigt, in der ­Medizin drängt das Thema Künstliche Intelligenz (KI) mit immer größerer Wucht auf die Bühne. Die Kulisse bilden bundespolitische Maßnahmen zur Einführung einer Telematikinfrastruktur (elektronische Gesundheitsakte) und zur Erhaltung der Wettbewerbsfähigkeit des Standorts Deutschland (KI-Strategie für Deutschland der Bundesregierung). Und dann wären da noch die offen kommerziellen Interessen von Unternehmen wie jenem mit dem Apfel-Logo.

Der US-amerikanische Unterhaltungselektronik­Gigant Apple hat seine „smarte“ Uhr (ab Series 4) mit einem 1-Kanal-EKG ausgestattet und wirbt damit, auf diese Weise Herzrhythmusstörungen detektieren und dokumentieren zu können. Die Deutsche Gesellschaft für Kardiologie sieht darin im Grundsatz ein „wertvolles Monitoring-Tool zur Etablierung wichtiger Informationen für Patienten und deren Ärzte“ – und warnt gleichzeitig davor, in ihr einen Ersatz für den Arzt zu sehen. In der Tat ist der Standard in der Arztpraxis das 12-Kanal-EKG. Alles also nur heiße Luft?

Der Arzt und Medizinjournalist Philipp Grätzel von Grätz mahnt zur Vorsicht. Er sieht neben der reinen Anwendung, „die so simpel ist, dass sie jeder hinbekommt“, einen Einstieg in die Triagierung durch „künstliche Intelligenz“. Das EKG wird in der Health App abgespeichert und grafisch aufbereitet. Und hier liegt für Grätzel von Grätz der eigentliche Clou: Mit seiner Health-App könnte Apple in „stille Konkurrenz“ zur elektronischen Patientenakte (ePA) nach § 291a SGB V treten. „Was passiert denn“, fragt er in seinem Leitartikel (Ärzte Zeitung Online: „Der Fingerzeig aus dem Silicon Valley“, 28. März 2019), „wenn der Patient den Notfalldatensatz, den elektronischen Arztbrief oder den bundeseinheitlichen Medikationsplan nicht in eine kompliziert zu nutzende, BSI-zertifizierte Gematik-ePA exportiert haben möchte, sondern in die Health-App von Apple – wo ja eh schon das EKG und wer weiß, was künftig noch alles liegt? Kann man ihm das verwehren? Schwierig.“

Apple ist in doppelter Hinsicht ein prägnantes Beispiel für Innovation und Disruption: Erstens gelang es der Firma 2007, ein in Massen herstellbares Handy zu entwickeln und vorzustellen, dessen Multi-Touch-Bildschirm so gut funktionierte, dass man es im Alltag mit den Fingern bedienen konnte. Damit war der Weg geebnet für den phänomenalen Siegeszug des Smartphones und der auf ihnen verwendeten Apps (und der hinter ihnen liegenden Algorithmen). Zweitens konnten, zumindest in den USA, Anbieter auf den Plan treten und mit ihren Apps implizit das Versprechen vermarkten, dass ihre Anwendung die „teure Arztstunde“ in diesem oder jenem Fall überflüssig machen könnte.

In Deutschland entwickelt worden ist die App „Ada – Deine Gesundheitshelferin“. Der Anbieter ­(Werbespruch: „Die Zukunft für deine Gesundheit“) bezeichnet sein 2016 gelaunchtes Programm selbst als Nummer eins „der medizinischen Apps“  in mehr als 130 Ländern (Zahl der Downloads: sechs Millionen; Zahl der „Symptomanalysen“: zehn Millionen, Stand: März 2019). Use Case 1: Patienten sollen mit der App und einem dahinterliegenden KI-gesteuertem Fragenkatalog Beschwerden auf einen möglichen Erkrankungswert checken. Use Case 2: Ada Dx wendet sich an Ärzte und soll anhand eines Entscheidungsbaumes auch darlegen, wie es zu seinem Ergebnis gekommen ist. Die Kassen­ärztliche Bundesvereinigung (KBV) nahm die Software 2018 im Rahmen ihres Wettbewerbs „KBV-Zukunfts­praxis“ in ihr Evaluationsprogramm auf. In teilnehmenden Praxen sollen Patienten die App im Wartezimmer mit ihren Beschwerden füttern. Das Tool gibt dann eine „Vordiagnose“ aus, die der Doktor im Kontakt mit dem Patienten in seine Überlegungen einbeziehen kann.

Essener Mitgliederversammlung im Zeichen der Künstlichen Intelligenz

Ärztliche Realität sind Intelligente Systeme zur Auswertung von Langzeit-EKGs in der Kardiologie oder der quantitativen Bildanalyse in der Radiologie. Denn welcher Mensch kann schon terabyteweise Bilddaten bis auf das letzte Pixel fehlerfrei mit hoher Spezifität und Sensitivität analysieren? Gefüttert werden müssen diese Systeme aber mit Referenzen, die von Ärztinnen und Ärzten stammen. Über diese Grundbedingung berichtete kürzlich Dr. Johannes Haubold vom Institut für Diagnostische und Interventionelle Radiologie am Universitätsklinikum Essen auf der Mitgliederversammlung der Kreisstelle Essen der Ärztekammer Nordrhein.

Haubold stellte Radiomics vor, ein Teilgebiet der medizinischen Bildverarbeitung und radiologischen Grundlagenforschung, welche sich mit der Analyse von quantitativen Bildmerkmalen in großen medizinischen Bilddatenbanken beschäftigt. Damit Radiomics-Systeme funktionieren, seien neben einem Goldstandard eine automatisierte Bildsegmentierung, eine Generalisierbarkeit durch eine Vielfalt von Daten und eine große Datenmenge notwendig, um Overfitting (Überanpassung des Modells durch eine zu kleine oder homogene Datenmenge) zu vermeiden. Letztlich laufe bei der Validierung solcher Systeme alles auf Multi-Center­Studien hinaus, die allerdings in der Medizin kaum stattfänden, so Haubold. Er setzt sich für eine ärztlich begleitete Validierung und Regulierung von KI ein.

Intelligente Systeme werden den Arzt nicht ersetzen, sondern als eine Art Co-Pilot fungieren.

Zielsetzung am UK Essen sind laut Haubold Anwendungen, die die Versorgung der Patienten verbessern und die Arbeit für Ärzte erleichtern sollen. Entwickelt wird in Essen derzeit eine automatisierte Knochen­alterbestimmung. Sie soll den Zeitaufwand im Vergleich zu bisherigen Bestimmung durch den Arzt um 90 Prozent senken helfen. Haubold betrachtet KI-Anwendungen als Teil der Antwort auf die doppelte Herausforderung der Demografie (zurück­gehende Arztzeit/höheres Patientenaufkommen). „Intelligente Systeme werden den Arzt nicht ersetzen, sondern als eine Art Co-Pilot fungieren.“

Dr. Ludger Wollring, Vorsitzender der Essener Kreis­stelle, berichtete von einer Analyse von mehr als 300.000 validierten Datensätzen von Augenhintergründen verschiedener Patienten mittels einer speziellen Software. „Wir haben festgestellt, dass das System uns mit einer sehr, sehr hohen Treffsicherheit das Geschlecht des Patienten mitteilen konnte. Das hat uns alle überrascht. Wir können uns das nicht erklären“, sagte der Gastgeber des Abends. Zudem habe die Software mit einer Genauig­keit von 10 mmHg Aussagen zum Blutdruck gemacht und auch eine hohe Treffsicherheit beim Alter gezeigt. Wollring erwartet einen „brutalen Umbruch“ in der konservativen Ophtalmologie und bei den bildgebenden Verfahren. „Das wird die Industrie anbieten und es wird seinen Weg in den Markt finden.“

Die Digitalisierung habe in der Radiologie etwa 20 Jahre in Anspruch genommen, sagte Professor Dr. ­Jochen A. Werner, Ärztlicher Direktor und Vorstandsvorsitzender des Universitätsklinikums Essen. Diese Entwicklung sei nun auch für weitere Fachbereiche zu erwarten. „Es kommt nur viel schneller, als es die Radiologie durchlebt hat.“ Werner erwartet, dass die Entwicklung so rasant sein wird, dass nicht mehr alle Institutionen und Interessenvertretungen zu ihrer ­Meinung oder Akzeptanz gefragt werden. Werner: „Wir brauchen nicht darüber diskutieren, ob die Künstliche Intelligenz kommt oder nicht. Natürlich kommt sie.“ Schon 2030 werde man mit der KI in puncto Diagnostik „nicht mehr mithalten können“. Den ganz großen Unterschied zwischen natürlicher und künstlicher Intelligenz mache allerdings noch das „Bauchgefühl“ aus. Dieser Unterschied treibe ihn um.

Werner rief die Kollegen dazu auf, die Entwicklung im Interesse der nachrückenden Generationen aktiv mitzugestalten. Er spricht sich dafür aus, dass die ­Ärzteschaft sich auch intensiver als bisher den Themen Prävention und Lifestyle widmet, damit dieses Feld eines Tages nicht nur von Nicht-Ärzten besetzt ist.

„Ich glaube daran, dass wir als Ärzte mit unserer Empathie immer noch das Hauptkommunikationsmittel in der Hand haben für eine ordentliche Versorgung der Patienten“, sagte Dr. Christiane Groß M.A. Ärzte sollten offen mit ihren Patienten besprechen, wenn sie skeptisch gegenüber einer Anwendung sind oder wenn sie ein KI-Tool für sinnvoll erachten und ihren Einsatz befürworten.

Sie wünsche sich eine um sinnvolle KI-Anwendungen bereicherte Präzisionsmedizin, eine personalisierte Medizin für die Menschen, sagte Dr. Anke Diehl M.A., Digital Change Managerin am UK Essen. KI werde in zunehmenden Maße Einzug in die Versorgung halten. „Wir müssen an jeder Stelle in der Versorgung Bescheid wissen, dass wir KI nutzen und welche Implikationen sich daraus ergeben.“ Leider stelle sich die Situation dar, dass manche System-Entwicklung trotz extrem aufwendiger Verifizierung und Validierung daran scheitere, dass die benötigten Daten in unterschiedlichsten Formaten abgespeichert seien.

Auf Symposien und Kongressen kommt es mitunter vor, dass der interessierte Zuhörer nacheinander sowohl Skeptiker als auch Protagonisten der Digital­Health-Szene hört und die Argumentation beider Seiten als stichhaltig empfindet. Eine Erklärung hierfür könnte der Hype-Zyklus des US-amerikanischen Marktforschungsunternehmens Gartner liefern: Danach durchlaufen disruptive Innovationen (nicht weniger sollte im engeren Sinne als Künstliche Intelligenz durchgehen) typische Phasen, in denen sich Beobachter eine Zeit lang in ihren divergierenden Ansichten durchaus bestätigt fühlen können: „ein technologischer Auslöser“ führt (angefeuert durch Marketing/PR und Medien) zu einem „Gipfel überzogener Erwartungen“, von welchem es sodann steil bergab geht in ein „Tal der Enttäuschungen“. Doch die Technologie und ihre Unterstützer rappeln sich auf, sehen die richtigen Anwendungsfelder („Pfad der Erleuchtung“) und heben die Innovation auf ein „Plateau der Produktivität“. 

Spätestens hier liegt der Hase im Pfeffer: Während Krankenkassen oder Klinikmanager die Produktivität zu einem Maßstab erheben können, kann für Ärztinnen und Ärzte in allererster Linie nur das Wohl des Patienten bestimmend sein, getreu dem Leitspruch: primum nihil nocere, secundum cavere, tertium sanare.