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Gesundheits- und Sozialpolitik

Demenz ist kein Schicksal

25.08.2021 Seite 20
RAE Ausgabe 9/2021

Rheinisches Ärzteblatt

Heft 9/2021

Seite 20

Zukünftig wird die Gesamtzahl der Demenzerkrankten steigen, obgleich das individuelle Risiko sinkt. Denn es gibt einiges, was jeder vorbeugend tun kann, um der kognitiven Degeneration im Alter zu entgehen.

von Jürgen Brenn

Rund 1,6 Millionen Menschen in Deutschland leben mit einer demenziellen Erkrankung, Tendenz steigend. Die Erkrankung wird sich Experten zufolge in naher Zukunft zu einer gesundheitlichen und gesellschaftlichen Herausforderung entwickeln, die alle Lebensbereiche betreffen wird. Das hat auch die Bundesregierung erkannt und Anfang 2019 das Projekt der „Nationalen Demenzstrategie“ ins Leben gerufen. An diesem vom Bundesgesundheitsministerium und dem Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend getragenen Projekt sind 74 Akteure beteiligt. Dazu zählen medizinische Fachgesellschaften und die Kassenärztliche Bundesvereinigung. Die Initiative habe auf vier Handlungsfeldern 27 Ziele und insgesamt 162 Maßnahmen formuliert, erklärte Astrid Lärm, Leiterin der Geschäftsstelle Nationale Demenzstrategie am Deutschen Zentrum für Altersfragen in Berlin. Lärm stellte die Nationale Demenzstrategie auf einer Online-Fortbildung der Ärztekammer Nordrhein in der Reihe „Der ältere Mensch“ vor.

Vernetzung der Angebote

Auf den vier Handlungsfeldern hätten sich die Beteiligten das Ziel gesetzt, die Strukturen zur gesellschaftlichen Teilhabe von Menschen mit Demenz an ihrem Lebensort aus- und aufzubauen, die Patienten und ihre Angehörigen zu unterstützen, die Grundlagen- und Versorgungsforschung zu der Krankheit zu fördern sowie die medizinische und pflegerische Versorgung weiterzuentwickeln. Bei der Versorgung der Demenzpatienten sei die Vernetzung ein wichtiger Aspekt der Weiterentwicklung der bestehenden Angebote, so Lärm. Auch müsse mit Blick auf die Erhaltung der Selbstständigkeit und Selbstbestimmtheit der Menschen unbedingt auf „Niedrigschwelligkeit“ und sektorübergreifende Angebote geachtet werden. Um die Versorgungsnetze zu stärken, solle bis Ende 2024 ein sogenannter Versorgungspfad entwickelt werden, um Schnittstellen zwischen den Sektoren zu erkennen und Aufgaben neu zu definieren.

Da die Demenzerkrankung ein Prozess ist, müssten die Unterstützungsangebote im Verlauf der Erkrankung immer wieder an das Demenzstadium angepasst und neue Wege beschritten werden, so Lärm. Eine mögliche Komponente, die als Ziel in der Nationalen Demenzstrategie benannt wurde, sei der Aufbau von „Komplexzentren“ für die multiprofessionelle Versorgung der Menschen mit Demenz im ambulanten Bereich. In diesen Zentren sollen Patienten mit neurologischen und auch psychiatrischen Erkrankungen ambulant und wohnortnah von einem interdisziplinären und multiprofessionellen Team versorgt werden. Bis Ende 2022 solle das Konzept erarbeitet und geprüft werden, wie sich dieses in die bestehenden Versorgungsangebote integrieren lasse, erläuterte Lärm die mittelfristige Planung, an der auch die Kassenärztliche Bundesvereinigung beteiligt ist.

Risikofaktoren können minimiert werden

Besser als jede medizinische oder pflegerische Versorgung ist jedoch die Prävention. Jeder könne für sich dazu beitragen, die Erkrankung so lange wie möglich zu verhindern oder zumindest hinauszuzögern, erklärte Universitäts-Professor Dr. Frank Jessen. Der Direktor der Klinik und Poliklinik für Psychiatrie und Psychotherapie an der Universitätsklinik Köln erläuterte, dass zwölf Risiken, die die Wahrscheinlichkeit erhöhen, an Demenz zu erkranken, individuell oder gesellschaftlich beeinflusst werden können. Diese machten immerhin 40 Prozent des Gesamtrisikos aus. Jessen zählte zu den Risiken unter anderem einen niedrigen Bildungsstand, Schwerhörigkeit, Kopfverletzungen, Bluthochdruck, Adipositas, einen zu hohen Alkoholkonsum, Diabetes Mellitus, Rauchen, Depression, soziale Isolation, Luftverschmutzung und körperliche Inaktivität.

Die durch die Coronapandemie aufgezwungene Isolation habe es insbesondere betagten und hochbetagten Menschen erschwert, diese Risikofaktoren zu minieren. Die Überwindung des „inneren Schweinehundes“ sei vielen Menschen in den vergangenen Monaten noch schwerer gefallen als üblich, sagte Sabine Lattek von der Marie-Luise und Ernst Becker Stiftung für ein selbstbestimmtes und sinnerfülltes Leben im Alter. Um sich Beweglichkeit und Mobilität und damit ein Stück Selbstständigkeit zu bewahren, empfahl die Sportwissenschaftlerin, 150 bis 300 Minuten pro Woche körperlich aktiv zu sein. Auch sollten mindestens an zwei Tagen die großen Muskelgruppen trainiert werden. Menschen ab einem Alter von 65 Jahren empfiehlt sie zusätzlich drei Mal die Woche Gleichgewichts- und Koordinationsübungen. Auch Menschen mit Behinderungen oder chronischen Erkrankungen sollten die Bewegungseinheiten in angepasster Form machen, so Lattek: Ob Wandern, Gymnastik oder Gartenarbeit – welche Art der Bewegung die Menschen wählten, stehe nicht im Vordergrund. „Wichtig ist vor allem, dass sich die Menschen regelmäßig bewegen“, so Lattek. Ärztinnen und Ärzte sollten ihre älteren Patientinnen und Patienten zur körperlichen Bewegung ermuntern.

Neben der körperlichen Mobilität zur Prävention einer Demenz ist die mentale Beweglichkeit ein wichtiger Faktor. Janina Stiel von der Servicestelle „Digitalisierung und Bildung für ältere Menschen“ sagte, dass Bildungsangebote für ältere Menschen anders gestaltet werden müssten als für Kinder oder Menschen im berufsfähigen Alter. So sei die Motivation, sich Wissen anzueignen, im Alter eine andere als bei Jüngeren. Wenn sich Lerngruppen fänden, blieben diese länger zusammen, so Stiehl. Mit Blick auf die hohe Zahl von betagten und hochbetagten Menschen, die mit digitalen Medien nicht umgehen können, beklagte sie, dass es keine Strategie gebe, wie ältere Menschen an die moderne Technik herangeführt werden könnten. Hier herrsche ein „bunter Teppich“, so Stiel. Am erfolgreichsten seien derzeit die rund 400 Freiwilligeninitiativen, in denen technikaffine Senioren anderen alten Menschen zeigen, wie sie mit Tablet, Handy und Computer arbeiten können.

Die meisten Bildungs- und Bewegungsangebote heben ganz nebenbei die soziale Isolation im Alter auf. Sie tragen so in zweifacher Hinsicht zur Vorbeugung gegen Demenz bei.
 

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