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Wissenschaft und Fortbildung – Aus der Arbeit der Gutachterkommission – Folge 130

Vorsicht beim Absetzen der Sekundärprophylaxe mit ASS 100 vor einer geplanten Operation

22.02.2022 Seite 27
RAE Ausgabe 3/2022

Rheinisches Ärzteblatt

Heft 3/2022

Seite 27

Nach derzeitigem medizinischen Erkenntnisstand ist davon auszugehen, dass nach einer Hirndurchblutungsstörung die sofort eingeleitete langfristige Behandlung mit einem Thrombozytenaggregationshemmer das Risiko senkt, einen erneuten Hirninfarkt zu erleiden. Die verfügbaren Daten sprechen auch nicht dafür, dass ein Thrombozytenaggregationshemmer bei lang andauernder Anwendung wie der Sekundärprophylaxe bei einem Hirninfarkt seine Wirkung verliert. Deshalb muss die Therapie lebenslang erfolgen, sofern nicht schwerwiegende Nebenwirkungen ein Absetzen der Medikation erfordern [1]. Ein Absetzen sollte allenfalls in gut begründeten Ausnahmefällen erfolgen. Die Entscheidung dafür oder dagegen setzt eine sorgfältige Nutzen-Risiko-Abwägung voraus. Für die meisten Operationen wird derzeit eine Beibehaltung der Therapie mit Acetylsalicylsäure (ASS) 100 mg empfohlen [2].

von Hans Karbe, Hans-Joachim Braune, Rainer Rosenberger und Beate Weber

In einem in jüngster Zeit von der Gutachterkommission zu begutachtenden Fall hielten die Abwägung und die in der Konsequenz getroffene Entscheidung einer kritischen Überprüfung im Ergebnis nicht stand. Da diese Problematik in der Praxis häufig zu bewältigen ist, soll dieser Fall hier vorgestellt werden.

Die damals Anfang 80-jährige, stark übergewichtige Patientin (BMI >38) hatte sechs Jahre zuvor einen Hirninfarkt links erlitten. Infolgedessen bestanden bei ihr eine Hemiparese rechts mit fehlender Kontrolle des rechten Beines und Fußes beim Aufstehen und eine Schwäche der rechten Hand. Sie erhielt neben zahlreichen internistischen Medikamenten zur Sekundärprophylaxe weiterer Hirninfarkte 100 mg ASS täglich oral. Wegen Unterleibsschmerzen mit maximaler Intensität (NSR 10/10) und Brennens beim Wasserlassen wurde sie im Jahre 2019 aus einem Seniorenzentrum in die urologische Klinik des belasteten Krankenhauses eingewiesen. Es bestanden seit Tagen eine Dysurie und eine Pollakisurie trotz einer Behandlung mit dem Antibiotikum Ciprofloxacin. Bekannt waren bei der Patientin chronisch rezidivierende Harnwegsinfekte bei Verdacht auf eine neurogen bedingte Harnblasenentleerungsstörung, eine Harninkontinenz, eine Polyneuropathie, eine arterielle Hypertonie, eine Spinalkanalstenose und Osteoporose.
 
Bei stationärer Aufnahme berichtete die Tochter über einen grippalen Infekt mit Verschlechterung des Allgemeinzustands und eine motorische Aphasie mit verwaschener Sprache vor drei Tagen. An den Armen und Beinen zeigten sich Ödeme. Bei den relevanten Laborparametern fiel eine Erhöhung des Entzündungswertes CRP auf 15 mg/dl auf. Zur Harnableitung wurde ein Dauerkatheter eingelegt, ferner wurde eine probatorische intravenöse Antibiotikagabe mit Cefuroxim begonnen. Die Prophylaxe mit ASS 100 mg wurde am selben Tage abgesetzt, weil die Anlage eines suprapubischen Katheters in Betracht kam, worüber die Patientin und die Angehörigen informiert wurden.

Die Patientin wurde für ein neurologisches Konsil mit folgenden Angaben angemeldet, das am dritten Behandlungstag stattfand: „stationäre Aufnahme mit fieberhaftem Infekt, Verdacht auf Harnwegsinfekt seit ein paar Tagen, Zustand nach Hirninfarkt“. Neu aufgetreten sei bei der Patientin eine verwaschene Sprache. Bei vorbekanntem Apoplex werde um neurologische Mitbeurteilung/Therapie gebeten. Der neurologische Befund ergab eine fehlende Nackensteifigkeit, normale Gesichtsfelder, aber eine Mundastschwäche rechts. Es wurde die Diagnose „Zustand nach transitorischer ischämischer Attacke vor drei Tagen“ und „Zustand nach Apoplex links“ gestellt. Es wurde eine CCT zum Ausschluss einer intrazerebralen Blutung angeregt sowie, falls eine Blutung ausgeschlossen sei, 500mg Aspirin® i. v. einmalig zu verabreichen. Auf die Notwendigkeit der Fortführung der ASS 100-Prophylaxe ging der Konsiliarius im schriftlichen Befund nicht ein. Die zerebrale Computertomografie vom gleichen Tag ergab keinen Anhaltspunkt für eine frische intrakranielle Blutung oder frische ischämische Infarktareale. Die empfohlene Einmalgabe von 500 mg Acetylsalicylsäure, aber auch die regelmäßige ASS-Prophylaxe unterblieben aus nicht nachvollziehbaren Gründen.

Gemäß der Pflegeaufzeichnungen zeigten sich bei der Patientin am vierten Behandlungstag keine Auffälligkeiten. Am fünften Behandlungstag wurde beim Wecken eine hochgradige Armparese links und eine schwere Vigilanzstörung festgestellt. Unter dem Verdacht auf ein neurologisches Ereignis wurde sogleich eine neurologische Konsiluntersuchung anberaumt, die die Vermutung eines Hirninfarktes rechts im Bereich der A. cerebri media ergab. Veranlasst wurde die sofortige Übernahme auf die IMC. Die weitere Diagnostik ergab einen mehrere Stunden alten Infarkt rechtshirnig bei Verschluss eines Astes der A. cerebri media bei mittelgradiger Makroangiopathie und Thetawellenherd im EEG. Der weitere Verlauf war durch einen symptomatischen generalisierten epileptischen Anfall sowie eine Aspirationspneumonie kompliziert, sodass die Patientin zuletzt unter palliativmedizinischen Aspekten behandelt wurde. Sie verstarb am 21. Behandlungstag.

Die Tochter der Patientin wandte sich an die Gutachterkommission, um die Behandlung zu überprüfen, insbesondere mit der Frage, ob durch früheres Erkennen der Hirndurchblutungsstörung der weitere Verlauf positiv hätte beeinflusst werden können. Der Neurologe habe anlässlich der Untersuchung am dritten Behandlungstag nachmittags sein Unverständnis darüber geäußert, dass die Gabe von ASS 100 mg abgesetzt worden sei.

Bewertung durch die Gutachter

Da die Behandlung initial zwar in der Urologischen Klinik stattgefunden hat, aber unzweifelhaft auch neurologische Aspekte zur Beurteilung anstanden, hat die Gutachterkommission entsprechende Begutachtungen veranlasst.
 
Der urologische Fachsachverständige hat dargelegt, dass auf die urologische Problematik bei der Patientin fachgerecht reagiert worden sei. Hinweise auf ein fehlerhaftes ärztliches Vorgehen fänden sich aus urologischer Sicht nicht. Zu den aufgeworfenen Fragen zum aufgetretenen Hirninfarkt, dessen Erkennen und Behandeln solle aus neurologischer Sicht Stellung bezogen werden.

Der neurologische Fachsachverständige hat beanstandet, dass am Aufnahmetag in der urologischen Klinik die vorher regelmäßig zur Sekundärprophylaxe gegebene Acetylsalicylsäure abgesetzt worden sei, ohne dass die hierfür zugrunde liegenden Argumente oder die damit einhergehenden Risiken festgehalten oder besprochen worden seien. Eine Risikobewertung finde sich in den Krankenunterlagen nicht. Das kommentarlose Absetzen der Prophylaxe bei vorbekanntem Hirninfarkt mit erheblicher verbliebener Behinderung ohne erkennbare Nutzen-Risiko-Abwägung stelle einen erheblichen Fehler dar. Selbst unter der Annahme, dass das Legen eines suprapubischen Blasenverweilkatheters nach fünf Jahren Harninkontinenz nach dem ersten Hirninfarkt nunmehr zwingend geboten und nur nach Absetzen der Thrombozytenaggregationshemmer möglich gewesen sei, wofür sich nach den Leitlinien und eigener langjähriger Erfahrung auf diesem Gebiet kein zwingender Grund erschließe, wäre eine möglicherweise eintretende lokale Hämatombildung im Rahmen eines solchen Eingriffs in Abwägung zum erhöhten Risiko eines erneuten Hirninfarkts vertretbar erschienen. Dass im Rahmen der neurologischen Konsiluntersuchung nur einmalig erneut die Gabe von 500 mg Acetylsalicylsäure empfohlen worden sei, erscheine inkonsequent und damit fragwürdig, hätte aber das Risiko für eine weitere Hirndurchblutungsstörung wieder senken können. Das Unterlassen sei nicht nachvollziehbar und stelle ein erhebliches therapeutisches Versäumnis dar. Somit sei die Vermutung schwerlich zu entkräften, dass durch konsequenteres ärztlich-therapeutisches Handeln die schwerwiegende Verschlechterung des Zustands der Patientin, der schließlich zum Tod geführt habe, hätte vermindert oder gelindert werden können.

Einwände der Behandler

Die mangelnde Dokumentation einer Nutzen-Risiko-Abwägung heiße nicht, dass diese nicht stattgefunden habe, was tatsächlich auch der Fall gewesen sei, argumentierten die Behandler. Die perkutane Einlage eines suprapubischen Katheters mit einem Punktions-Trokar mit 18 Char. Innendurchmesser bei einer adipösen Patientin mit einer chronisch entzündlich veränderten Harnblase könne nicht nur zu ausgedehnten Blutungen in der Bauchdecke führen, sondern vielmehr diffuse, endoskopisch schwer beherrschbare endovesikale Blutungen verursachen. Hierüber sei die Patientin aufgeklärt worden. Ein kausaler Zusammenhang zwischen der Nichtgabe von ASS 100 mg und den aufgetretenen Komplikationen sei spekulativ.

Abschließende Begutachtung 

Die Einwände der belasteten Urologen sind als Antrag auf ein abschließendes Gutachten gemäß § 10 Abs. 2 der Verfahrensordnung der Gutachterkommission auszulegen, das von einem ärztlichen und einem juristischen Kommissionsmitglied gemeinsam erstattet wird. Aus juristischer Sicht ist zunächst zu bemerken, dass für die Beurteilung maßgebend die Dokumentation ist, weil die Gutachterkommission keine Partei- oder Zeugenvernehmung durchführt und demzufolge die Richtigkeit von Behauptungen nicht überprüfen kann, die von der Dokumentation abweichen oder dort nicht aufgezeichnet sind. Nach § 630h Abs. 3 BGB sind dokumentationspflichtige ärztliche Maßnahmen als nicht geschehen zu behandeln, wenn sie nicht aufgezeichnet worden sind. Davon ist hier die Nutzen-Risiko-Abwägung betroffen, auch wenn es darauf im Streitfall im Ergebnis nicht ankommt.

Ferner ist darauf hinzuweisen, dass das Abweichen von einer validen Leitlinie nicht stets und per se immer ein Behandlungsfehler ist. Maßgebend ist der Einzelfall, wonach ein Abweichen sogar geboten sein kann. Allerdings muss der Behandler beim Abweichen von einer S3-Leitlinie überzeugende Gründe dafür vorbringen können.

Schließlich war die Umkehr der Beweislast in den Blick zu nehmen, weil die Schadensursächlichkeit des Behandlungsfehlers nicht mit praktischer Gewissheit (§ 286 ZPO) feststand. Nach § 630h Abs. 5 BGB wird bei einem groben Behandlungsfehler die Schadensursächlichkeit vermutet, wenn der Fehler grundsätzlich geeignet ist, den Gesundheitsschaden herbeizuführen. Dann hat der Behandler zu beweisen, dass der Fehler tatsächlich nicht kausal war, was in der Praxis nur schwerlich gelingt.

Die Gutachterkommission hat in ihrem abschließenden Gutachten festgestellt, es sei möglich, dass dem Pausieren der Prophylaxe mittels ASS 100 mg eine Risiko-Nutzen-Abwägung zugrunde lag, wie es die Urologen behaupten. Dokumentiert sei dies jedoch nicht, sodass eine solche Abwägung der Beurteilung durch die Gutachterkommission nicht zugrunde gelegt werden kann. Aber auch wenn sie erfolgt sein sollte, muss das Ergebnis als fehlerhaft bezeichnet werden: Die ASS 100-Gabe diente vorliegend der Prävention. Der Erstgutachter hat mit Recht unter Verweis auf die einschlägige S3-Leitlinie ausgeführt, dass ein Absetzen allenfalls in gut begründeten Ausnahmefällen erfolgen darf. Ein solcher Ausnahmefall lag hier nicht vor, denn es ging lediglich um das Legen eines suprapubischen Blasenverweilkatheters bei einer Patientin mit hoher Co-Morbidität. Die damit unter Gabe von ASS 100 mg verbundenen Risiken hätten in Kauf genommen werden können. Damit ist von einem einfachen Behandlungsfehler auszugehen.

Zur Schadensursächlichkeit des Absetzens im Hinblick auf das spätere thrombo-embolische Ereignis ist zu bemerken, dass eine Kausalität weder im medizinischen Sinne noch im Rechtssinne festgestellt werden kann. Es hat lediglich eine Risikoerhöhung stattgefunden. Von einer praktischen Gewissheit, dass das Absetzen das Ereignis verursacht hat, kann keine Rede sein.
 
Dass die Behandler entgegen der neurologischen Empfehlung die intravenöse Gabe von 500 mg Acetylsalicylsäure unterlassen haben, ist als erhebliches therapeutisches Versäumnis zu bewerten. Das wird von den Behandlern nach ihrer Einlassung im Begutachtungsverfahren auch nicht bestritten. Ob die schwerwiegende Zustandsverschlechterung der Patientin durch Verabreichung des Medikaments hätte verhindert werden können, muss trotz genereller Geeignetheit offen bleiben. 
Die Gutachterkommission vertritt allerdings die Auffassung, dass es sich um einen groben Behandlungsfehler im Rechtssinne handelt, denn das Versäumnis ist unverständlich, weil es den Behandlern in der konkreten Situation unter Berücksichtigung aller Umstände schlechterdings nicht hätte unterlaufen dürfen. Somit wird nach § 630h Abs. 5 Satz 1 BGB vermutet, dass die ab dem fünften Behandlungstag eingetretene Verschlechterung auf dem Versäumnis beruht. 

Professor Dr. Hans Karbe und Professor Dr. Hans-Joachim Braune sind stellvertretende geschäftsführende Kommissionsmitglieder, Rainer Rosenberger ist erster stellvertretender Vorsitzender und Dr. Beate Weber ist die für die Dokumentation und Auswertung zuständige Referentin in der Geschäftsstelle der Gutachterkommission Nordrhein.


Literatur
[1]    AWMF S3-Leitlinie Sekundärprophylaxe ischämischer Schlaganfall und transitorische ischämische Attacke, Registernummer 030-133. Stand:31.01.2015, S. 24
[2]    Wie vor, S. 25