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Gesünder aufwachsen

17.09.2025 Seite 12
RAE Ausgabe 10/2025

Rheinisches Ärzteblatt

Heft 10/2025

Seite 12

© FreshSplash / istockphoto.com

Knapp 631 Millionen Euro jährlich haben die gesetzlichen Krankenkassen zuletzt für Prävention und Gesundheitsförderung ausgegeben – angesichts der GKV-Gesamtausgaben von rund 320 Milliarden Euro ein bescheidener Betrag. Dabei fordern Ärzteschaft und Gesundheitswissenschaft seit Jahren, Verhaltens- und Verhältnisprävention auszubauen. Aktuell im Fokus: der problematische Medienkonsum von Kindern und Jugendlichen und dessen negative Folgen für die Gesundheit
von Heike Korzilius

Neun Zeilen widmen Union und SPD in ihrem Koalitionsvertrag der Prävention. „Krankheitsvermeidung, Gesundheitsförderung und Prävention spielen für uns eine wichtige Rolle“, heißt es dort. Den Schwerpunkt legen die Koalitionäre auf die Erweiterung der U-Untersuchungen für Kinder, freiwillige kommunale Angebote für vulnerable Gruppen sowie die gesundheitlichen Folgen von Einsamkeit. Geprüft werden soll zudem, wie der Öffentliche Gesundheitsdienst nachhaltig gestärkt werden kann. Das ist kein ambitioniertes Programm angesichts einer alternden Gesellschaft, eines sich verschärfenden Fachkräftemangels in den Gesundheitsberufen und explodierender Krankenkassenbeiträge. Die Bundesärztekammer (BÄK) hatte diese Gemengelage Ende 2024 zu der Forderung motiviert, die Themen Prävention, Gesundheitskompetenz und Gesundheit in allen Politikfeldern (Health in All Policies) ganz oben auf die Agenda einer neuen Bundesregierung zu setzen. Ziel müsse es sein, den Menschen eine gesunde Lebensführung nahezubringen und dadurch die Zahl der „Volkskrankheiten“ zu senken.

Es fehlt eine Gesamtstrategie

Auch die Gesundheitsministerkonferenz der Länder sprach sich bei ihrer jüngsten Sitzung im Juni dafür aus, Prävention und Gesundheitsförderung als zentrale Säulen des Gesundheitssystems auszubauen und das Präventionsgesetz von 2015 weiterzuentwickeln. Damals hatte der Gesetzgeber das Ziel formuliert, gesunde Lebenswelten zu stärken. Prävention und Gesundheitsförderung sollten in jedem Lebensalter und in allen Lebensbereichen als gemeinsame Aufgabe von Sozialversicherungsträgern, Ländern und Kommunen gestaltet, die Früherkennungsuntersuchungen fortentwickelt und das Impfwesen gefördert werden. 
Seither hat es in einigen dieser Bereiche Verbesserungen gegeben, und die Ausgaben für Präventionsmaßnahmen haben sich fast verdoppelt. Dennoch beklagen Experten auch zehn Jahre nach Inkrafttreten des Präventionsgesetzes eine fehlende Gesamtstrategie. Anlässlich des Jahrestages forderte der Verband der Privaten Krankenversicherung einen „Neustart“, während die BÄK die fehlende strukturelle Vernetzung der medizinischen Präventionsangebote mit Maßnahmen in den Lebenswelten kritisierte und beklagte, dass insbesondere die Gesundheitskompetenz von Kindern und Jugendlichen in Kita und Schule nicht ausreichend gestärkt werde.
 
Ähnlich beurteilen das die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler, die von deutscher Seite an der jüngsten Kinder- und Jugendgesundheitsstudie „Health Behaviour in School-aged Children“ der Weltgesundheitsorganisation beteiligt waren, die seit mehr als 40 Jahren Daten zur Kindergesundheit erhebt. „Im Kindes- und Jugendalter wird der Grundstein für die Gesundheit im Erwachsenenalter gelegt“, schreiben die Autoren im Journal of Health Monitoring anlässlich der Veröffentlichung ihrer Studienergebnisse im März 2024. Demnach haben sich die Belastungen der Kinder und Jugendlichen im Laufe der Zeit verändert. Während in den 1990er- und 2000er-Jahren vor allem der Substanzkonsum besorgniserregend gewesen sei, seien die Kinder und Jugendlichen heutzutage insbesondere mental belastet – unter anderem infolge der Coronapandemie. Auch der Umgang mit Krisen, der Klimawandel, die steigende soziale und gesundheitliche Ungleichheit sowie der Einfluss sozialer Medien seien „Herausforderungen“ für die Kinder- und Jugendgesundheit.
 
Letzterer steht zurzeit besonders im Fokus der Öffentlichkeit. Den risikoreichen oder pathologischen Medienkonsum von Kindern und Jugendlichen untersucht seit 2019 in regelmäßigen Abständen das Deutsche Zentrum für Suchtfragen des Kindes- und Jugendalters (DZSKJ) am Universitätsklinikum Hamburg Eppendorf. Finanziell gefördert wird die Längsschnittstudie von der Krankenkasse DAK. Der jüngsten Erhebung zufolge zeigen mehr als 25 Prozent aller Zehn- bis 17-Jährigen eine riskante Nutzung sozialer Medien, 4,7 Prozent gelten als abhängig. Insgesamt sind dem DZSKJ zufolge rund 1,3 Millionen Kinder und Jugendliche betroffen. Zum Vergleich: Im Jahr 2019 lag der Anteil der problematischen Social-Media-Nutzung nur bei 11,4 Prozent. Mediensucht bei Kindern und Jugendlichen sei zu einem dauerhaften und ernsten Problem geworden, folgerte die DAK.

Vor diesem Hintergrund hat sich die Nationale Akademie der Wissenschaften Leopoldina in einem Diskussionspapier Mitte August für wirksame Altersgrenzen bei der Social Media-Nutzung und für die Einschränkung suchterzeugender Funktionen auf TikTok, Instagram und Co. ausgesprochen. Zwar räumen die Wissenschaftler ein, dass die Nutzung sozialer Medien für Heranwachsende durchaus positive Effekte haben könne, zum Beispiel die Pflege sozialer Kontakte oder die Eigendarstellung. Bei intensiver Nutzung könnten jedoch negative Auswirkungen auf das psychische, emotionale und soziale Wohlbefinden auftreten.
 
Altersgrenze für Social Media

Die Wissenschaftler sehen angesichts dieser Gefahren politischen Handlungsbedarf und fordern, Kindern unter 13 Jahren die Einrichtung eines Social-Media-Accounts zu verbieten. Für 13- bis 15-jährige Jugendliche sollten soziale Medien nur nach gesetzlich vorgeschriebener elterlicher Zustimmung nutzbar sein. Für 13- bis 17-Jährige sollten soziale Netzwerke darüber hinaus altersgerecht gestaltet werden, beispielsweise bei den algorithmischen Vorschlägen, durch ein Verbot von personalisierter Werbung oder durch die Unterbindung suchterzeugender Funktionen wie Push-Nachrichten und endloses Scrollen. Hier sehen die Wissenschaftler vor allem auf EU-Ebene Möglichkeiten der Regulierung, inklusive eines datenschutzkonformen digitalen Altersnachweises. Außerdem empfiehlt die Leopoldina, die Nutzung von Smartphones in Kitas und Schulen bis einschließlich Klasse 10 zu verbieten. Um einen reflektierten Umgang mit sozialen Medien zu fördern, solle ein „digitaler Bildungskanon“ in Kitas und Schulen verankert werden.
 
Die Politik hat einige dieser Themen bereits aufgegriffen. So hat Bundesbildungsministerin Karin Prien Anfang September eine Expertenkommission eingesetzt, die Empfehlungen für einen besseren Jugendschutz im Internet erarbeiten soll. Erörtert werden soll dort auch ein mögliches Mindestalter für die Nutzung von Social Media. Dabei sind Nutzungsbeschränkungen politisch nicht unumstritten. Schließlich, so die Kritiker einer Beschränkung, hätten Kinder und Jugendliche ein Recht auf Teilhabe. Sie fordern stattdessen mehr Medienkompetenz.

Handyverbot an Schulen

Konkrete Schritte gegen eine übermäßige Mediennutzung hat NRW-Schulministerin Dorothee Feller eingeleitet. Bis zu den Herbstferien müssen sich die Schulen im Land eigene altersgerechte Regeln für die private Handynutzung geben und diese verbindlich in die Schulordnung aufnehmen. Eine „exemplarische Handyordnung“ soll die Schulen dabei unterstützen. Darin empfiehlt das Ministerium beispielsweise, in den Grundschulen die Nutzung von Handys und Smartwatches auf dem Schulgelände nicht zu erlauben. Viele Schulen hätten sich bereits Regeln gegeben, auf denen man aufbauen könne, so die Ministerin. Denn klar sei: „Ein zu hoher Medienkonsum beeinträchtigt die Konzentration im Unterricht und das soziale Miteinander in den Pausen.“

Neben den Schulen sind insbesondere die Eltern gefordert, die Medienkompetenz von Kindern und Jugendlichen zu fördern und sie vor schädlichen Inhalten oder übermäßigem Konsum zu schützen. Deren Handeln passt allerdings der DAK-Suchtstudie zufolge häufig nicht zum eigentlichen Erziehungsanspruch. Etwa 40 Prozent der Eltern legten den zeitlichen Umfang der Mediennutzung nicht hinreichend fest. Ein Viertel moderiere die Inhalte nicht. Zugleich wünschten sich Eltern häufig zusätzliche Informationen oder gar Hilfe.
 
Hier setzt ein Modul des Präventionsprogramms Gesund macht Schule an, das die Ärztekammer Nordrhein und die AOK Rheinland/Hamburg seit mehr als 20 Jahren erfolgreich in den Grundschulen im Rheinland umsetzen, um die Gesundheitskompetenz der Schülerinnen und Schüler zu fördern. Mit Zahlen, Daten und Fakten zum Medienkonsum von Kindern und Jugendlichen unterstützt das Programm die etwa 320 teilnehmenden Schulen bei der Elternarbeit. Begleitet wird das Programm Gesund macht Schule vom Ausschuss Prävention und Gesundheitsförderung der Ärztekammer Nordrhein. Auch deren Präsident Dr. Sven Dreyer ist die Förderung der Medien- und Gesundheitskompetenz der Kinder und Jugendlichen ein besonderes Anliegen. „Medienkompetente Kinder können beispielsweise Falschinformationen im Gesundheitsbereich frühzeitig erkennen und sie werden befähigt, ‚Nein‘ zu gesundheitsgefährdenden Challenges zu sagen, die sich über soziale Medien wie TikTok, YouTube und WhatsApp verbreiten und oft zu Verletzungen, bleibenden Schäden oder sogar zum Tod führen können.“