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„Halt und Orientierung durch Selbsthilfe“

17.09.2025 Seite 24
RAE Ausgabe 10/2025

Rheinisches Ärzteblatt

Heft 10/2025

Seite 24

In Nordrhein-Westfalen gibt es mehr als 10.000 Selbsthilfegruppen. Sie können Betroffenen und Angehörigen wertvolle Unterstützung im Umgang mit Erkrankungen bieten. Auch Ärztinnen und Ärzte können vom Austausch profitieren. Über Möglichkeiten und Grenzen der Selbsthilfe.

von Marc Strohm

Der Austausch mit anderen Betroffenen: Für die Gynäkologin Hülya Topak war dies vor über zwanzig Jahren ein wichtiger Grund, sich selbst in verschiedenen Selbsthilfegruppen zu engagieren. Als Angehörige nimmt sie unter anderem an den Treffen der „Herzkinder“ in Oberhausen sowie einer Skoliose-Selbsthilfegruppe teil. „Die Betroffenen sprechen dort offen über ihre Erkrankungen, teilen praxiserprobte Alltagstipps und geben hilfreiche Hinweise zur Orientierung im Sozialwesen – etwa zu Leistungsansprüchen oder Hilfsmitteln“, berichtet sie im Gespräch mit dem Rheinischen Ärzteblatt. Auch von den speziell auf die jeweiligen Erkrankungen zugeschnittenen Informationsmaterialien der Selbsthilfegruppen profitiere sie. „Ich sehe in der Selbsthilfe eine wertvolle Ergänzung zur ärztlichen Therapie“, sagt Topak. Im Praxisalltag fehle Ärztinnen und Ärzten oft die Zeit, um ausführlich auf die Auswirkungen einer Diagnose auf den Familienalltag oder das Berufsleben einzugehen. Genau hier setzten Selbsthilfegruppen an: Sie ermöglichten einen Erfahrungsaustausch über alltagstaugliche Bewältigungsstrategien, vermittelten ein Gefühl von Handlungsfähigkeit und böten emotionale Unterstützung. „Gerade der Kontakt zu Menschen in ähnlicher Lage gibt Betroffenen und Angehörigen das Gefühl, nicht allein zu sein“, so Topak.

Gleichzeitig betont sie: Selbsthilfegruppen können und wollen keine ärztliche Therapie ersetzen. Ihre Stärke liege im Austausch unter Betroffenen, ohne fachlich-professionelle Anleitung. Für akute Hilfe seien sie weniger geeignet; eine gewisse Stabilität der Erkrankung werde in der Regel vorausgesetzt.

Das Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf hat in der SHILD-Studie den Einfluss von Selbsthilfegruppen auf den Krankheitsverlauf untersucht. Das Ergebnis: 90 Prozent der Teilnehmenden gaben an, von den Erfahrungen anderer profitiert zu haben. 80 Prozent berichteten von einer gesteigerten Zuversicht und Motivation im Umgang mit ihrer Erkrankung.

Wenige Angebote für Junge

In Nordrhein-Westfalen gibt es aktuell rund 10.000 Selbsthilfegruppen. Wie der Paritätische NRW, der Dachverband von 70 Landesverbänden der Gesundheitsselbsthilfe im Land mitteilt, betreffen die meisten Anfragen in den Selbsthilfe-Kontaktstellen psychische Erkrankungen. Auch zu weit verbreiteten chronischen Erkrankungen wie Multiple Sklerose, Rheuma oder Parkinson existiere ein breites Angebot. Daneben gebe es ein zunehmendes Interesse an Selbsthilfegruppen zu seltenen Erkrankungen, bei denen der Leidensdruck oft besonders hoch sei, nicht zuletzt aufgrund meist langer Diagnosewege. Ausbaubedarf sieht der Paritätische insbesondere bei Angeboten für junge Menschen, die mit klassischen Gruppenformaten häufig schwer zu erreichen seien. Auch für Menschen mit Migrationshintergrund fehlten passende Formate. Neben sprachlichen Hürden seien bestehende Gruppen nicht immer auf die kulturellen Hintergründe dieser Zielgruppe ausgerichtet.
Doch nicht nur Betroffene und Angehörige profitieren von Selbsthilfegruppen. Auch Ärztinnen und Ärzte können durch die Zusammenarbeit wertvolle Impulse erhalten. „Als Ärztin kenne ich zwar die Erkrankung, aber meist nicht aus eigener Betroffenheit. Durch den Kontakt mit Patienten in Selbsthilfegruppen erfahre ich ganz konkret, was sie bewegt“, betont Gynäkologin Topak. Denn in Selbsthilfegruppen stehen Alltagsfragen im Mittelpunkt: Wie motiviere ich ein Kind mit Skoliose, ein Korsett zu tragen? Was kann bei Druckstellen helfen? Diese Erweiterung der eigenen Perspektive ermögliche es, Patienten individueller und lebensnäher zu begleiten. Zudem böten Selbsthilfegruppen Ärzten die Möglichkeit, als Referenten bei Veranstaltungen gezielt große Patientengruppen zu erreichen. Dennoch beobachtet Topak, dass viele niedergelassene Kolleginnen und Kollegen wenig über das lokale Selbsthilfeangebot wissen.
 
Bessere Vernetzung mit Ärzten


Auch der Paritätische NRW plädiert für eine stärkere Vernetzung zwischen Ärzteschaft und Selbsthilfe. Es fehlten strukturelle Kooperationen. In den Kliniken habe sich beispielsweise das Modell „Selbsthilfefreundliches Krankenhaus“ etabliert. Zwischen Krankenhäusern und Selbsthilfegruppen werde dabei eine verlässliche Kooperation ausgestaltet, die beispielsweise eine Teilnahme der Selbsthilfegruppen in Qualitätszirkeln beinhalte. Außerdem würden Patienten sowie deren Angehörige regelhaft über Angebote der Selbsthilfe informiert. Ähnliches gebe es auch für andere Gesundheitseinrichtungen (siehe Kasten). 
 


Die Kooperationsstelle für Selbsthilfegruppen und Ärzte der Ärztekammer Nordrhein unterstützt den Informationsaustausch und ermöglicht es Ärzten, ihr Expertenwissen in die Selbsthilfearbeit einzubringen: www.aekno.de/selbsthilfe

Die Kooperationsberatung für Selbsthilfegruppen, Ärzte und Psychotherapeuten (KOSA) ist eine Einrichtung der KV Nordrhein zur Förderung der Zusammenarbeit, etwa durch gemeinsame interdisziplinäre Veranstaltungen von Ärzten, Psychotherapeuten und Selbsthilfevertretern. https://www.kvno.de/praxis/beratung/kosa-selbsthilfe

Das Selbsthilfenetz NRW ist ein landesweites Verzeichnis von Selbsthilfegruppen, sortierbar per Stichwortsuche nach Thema und Ort. www.selbsthilfenetz.de
 
Krankenhäuser, Praxen und andere Gesundheitseinrichtungen können sich als „selbsthilfefreundlich“ zertifizieren lassen: www.selbsthilfefreundlichkeit.de