Vorlesen

3. Heranführen an spezifische Gesprächssituationen


3.1. Erstgespräch

Der erste Kontakt mit einem anderen Menschen birgt die große Chance, sich einen ersten Eindruck zu verschaffen. Mit diesem Begriff ist das umfassende und im Einzelnen nicht zu erklärende Phänomen angesprochen, dass wir oft einen eindeutigen Eindruck vom Gegenüber haben, der weit über das hinaus geht, was wir an einzelnen Fakten von ihm wissen. Ein typisches klinisches Anwendungsbeispiel wird vor allem pädiatrischen Fachkräften vertraut sein: Dass ein Kind krank ist, kann spürbar sein, ohne dass sich dieser Eindruck so einfach wie in der Erwachsenenmedizin mit einem Laborbefund oder einem bildgebenden Verfahren verifizieren ließe.

In der tiefenpsychologischen Psychotherapie wird diesem ersten Eindruck große diagnostische Bedeutung beigemessen: Es gilt, dass im ersten Eindruck atmosphärisch und szenisch wie in der Ouvertüre eines Musikstücks bereits im Kleinen alle wichtigen Themen des Patienten / der Patientin dargestellt sind. Hierfür ist es aber notwendig, dass sich dieser erste Eindruck entfalten kann und dem Patienten / der Patientin zu Beginn des Gesprächs möglichst viel Raum gegeben wird.

Im idealtypischen Erstgespräch lassen sich zwei grundlegend verschiedene Modi unterscheiden:

  • Phasen, in denen Ärztinnen und Ärzte nicht wissen, worum es geht, in denen sie keine Hypothesen zur Art des Problems formulieren können, geschweige denn zur weiterführenden Diagnostik
  • Phasen, in denen sie Hypothesen haben, die sie durch gezieltes Explorieren überprüfen

Um Hypothesen zu generieren, sind gezielte Fragen sinnlos, denn das Ziel ist nicht bekannt. Hier ist es angebracht, dem Patienten / der Patientin einen Erzählraum zu öffnen, zum Beispiel mit der unter 2.2. beschriebenen Technik WWSZ. Um Hypothesen zu überprüfen, sind gezielte Fragen geeignet, die der Präzision oder Unschärfe der Arbeitshypothese angemessen sein sollten.

Beispiele:

  • Die Frage „Haben Sie in letzter Zeit vermehrt Probleme beim Atmen gehabt?“ zielt eher auf eine sich verschlechternde Herz- oder Lungenfunktion.
  • Die Frage „Haben Sie denn die Wassertabletten in letzter Zeit nicht mehr so regelmäßig genommen?“ zielt punktgenau auf vermutete Probleme mit der Therapietreue.

Ein besonderes Problem ergibt sich bei kontinuierlichen Kontakten bei Hausärztinnen und Hausärzten oder bei Visiten bei längerem stationärem Aufenthalt, weil Ärztinnen und Ärzte dazu neigen anzunehmen, sie wüssten, was sie bei einer Patientin oder einem Patienten erwarten können. Es wäre hilfreich, jedes Gespräch, in dem beispielsweise neue Befunde besprochen werden, wie ein Erstgespräch anzusehen, sodass sich die zu behandelnde Person von einer bisher nicht gekannten Seite zeigen kann – wenn sie denn die Möglichkeit dazu erhält und nicht innerhalb weniger Sekunden von der ärztlichen Fachperson daran gehindert wird.


3.2. Anamneseerhebung

Das nachfolgende Schema gilt in Situationen, in denen mindestens 15 Minuten für das Erheben einer Anamnese zur Verfügung stehen. Wenn dies nicht gewährleistet ist oder ein akutes Krankheitsbild vorliegt, gilt die Beschränkung auf „Jetziges Leiden“ und „Spezielle Anamnese“; ausgewählte Fragen zur Eigenanamnese oder zur Systemanamnese sind dann indiziert, wenn sie die Diagnostik oder die Notfalltherapie beeinflussen könnten (zum Beispiel Allergien, Unverträglichkeiten, aktuelle Medikation). Um die einzelnen Abschnitte einer typischen Anamnese zu charakterisieren, findet sich am Anfang jeweils eine Frage, die unter dem betreffenden Titel beantwortet wird.

Jetziges Leiden
Angaben in diesem Abschnitt beantworten die Frage: Warum kommt der Patient / die Patientin jetzt zum Arzt / zur Ärztin?
Wenn das Problem unmittelbar ersichtlich ist (zum Beispiel blutende Wunde, akute Luftnot ecetera), erübrigt sich unter Umständen eine ausführliche Anamnese zum jetzigen Leiden. In allen anderen Fällen lassen sich die kommunikationstechnischen ärztlichen Aufgaben bei der Erhebung des jetzigen
Leidens in solche unterscheiden, die den Gesprächsraum für Patientinnen und Patienten eröffnen, und solche, die den Freiraum einschränken, indem der Arzt oder die Ärztin eindeutig die Gesprächsführung übernimmt. Diese Techniken sind im Folgenden noch einmal zusammengestellt (siehe auch Kap. 2.1. & 2.2.).

Freiraum schaffen für Patientinnen und Patienten

  • Gesprächstechniken einsetzen, die Patientinnen und Patienten den Raum verschaffen, ihre Probleme ausreichend deutlich darzustellen: Warten, Wiederholen
  • Mit Spiegeln, Zusammenfassen und Benennen von Emotionen den Patientinnen und Patienten zeigen beziehungsweise sicherstellen, dass ihre Ausführungen gehört und korrekt verstanden werden
    [Während die betroffene Person spricht, stellen sich zwei Aufgaben: einen ersten Eindruck bekommen und in ihren Aussagen ein diagnostisch oder therapeutisch verwertbares Muster entdecken.]

Freiraum einschränken und das Rederecht übernehmen
Wenn der Patient / die Patientin das Rederecht an die ärztliche Fachperson übergibt und diese weiß, worum es geht, wenn sie ein Muster in den Angaben des Patienten / der Patientin entdeckt hat und eine Arbeitshypothese formulieren kann, bringt die Fachperson ihre Sichtweise ein:

  • Übernahme der Gesprächsführung ankündigen (Struktur)
  • Gegebenenfalls Zusammenfassung mit einer ersten Information über die ärztlichen Hypothesen
  • Erweiterung der Symptombeschreibung mit Fragen nach:
    • Zeit: Wann das erste Mal aufgetreten, Dauer, Verlauf?
    • Ort: Wo am deutlichsten, Ausstrahlung?
    • Qualität: Wie lässt es sich beschreiben, wie intensiv ist es? Begleitsymptome?
    • Einflussfaktoren: Was macht es schlimmer, was macht es erträglicher?

Spezielle Anamnese
Angaben in diesem Abschnitt beantworten die Fragen:

  • Hat die betroffene Person so etwas (diese Erkrankung) schon einmal gehabt?
    Wie sah die Behandlung aus?
  • Bei Hinweis auf spezifisches Krankheitsgeschehen gezieltes Nachfragen
  • Gesprächstechniken einsetzen, bei denen Patientinnen und Patienten möglichst präzise Angaben machen können (fokussierende Fragen, geschlossene Fragen)

Eigenanamnese / persönliche Anamnese
Angaben in diesem Abschnitt beantworten die Fragen:

  • War diese Person in ihrem bisherigen Leben jemals krank? Wurde sie jemals operiert? Wie hat sie bestimmte Lebensabschnitte (Kindheit, Adoleszenz, bei Patientinnen Schwangerschaften, Geburten umd so weiter) bewältigt?
  • Je nach Interesse der Fachperson und verfügbarem Zeitrahmen wird erneut ein offener Gesprächsraum zur Verfügung gestellt mit patientenzentrierter Kommunikation,
    oder die Fachperson steuert den Gesprächsverlauf mit fokussierenden und geschlossenen Fragen

Systemanamnese / vegetative Anamnese
Angaben in diesem Abschnitt beantworten die Fragen:

  • Gibt es irgendwelche Hinweise darauf, dass in einem physiologischen System des Patienten beziehungsweise der Patientin (Atmung, Kreislauf, Ernährung und so weiter) Besonderheiten auftreten? Gibt es andere Symptome, die nicht spontan erwähnt wurden?
  • Normalerweise ist dies der Abschnitt der Anamnese, in dem der Arzt beziehungsweise die Ärztin eine Serie von geschlossenen oder fokussierenden Fragen stellt (siehe Listen auf den typischen Anamneseschemata; hier auch Fragen nach Medikamenten, Nebenwirkungen, Genussmitteln, gegebenenfalls Lebensgewohnheiten, Allergien ecetera)

Familienanamnese
Angaben in diesem Abschnitt beantworten die Fragen:

  • Gibt es ähnliche Krankheitsbilder in der Familie?
  • Gibt es Erkrankungen mit Vererbungstendenz in der Familie (zum Beispeil Hochdruck, Depression, Typ-II-Diabetes, bestimmte Tumorerkrankungen)?
  • In diesem Abschnitt ist explizites Strukturieren wichtig: Die betroffene Person sollte wissen, warum der Arzt beziehungsweise die Ärztin sich für die Familiengeschichte interessiert und wie detailliert sie informiert werden möchte
  • Es überwiegen fokussierende und geschlossene Fragen

Sozialanamnese
Angaben in diesem Abschnitt beantworten die Fragen:

  • Unter welchen sozialen Bedingungen lebt diese Person?
  • Wie geht sie mit der Erkrankung im Alltag um?
  • Welche eigene Vorstellung hat der Patient beziehungsweise die Patientin von der Erkrankung?
  • Wenn es keine spezifischen Hinweise beispielsweise auf berufsbedingte Erkrankungen gibt (zum Beispiel Kontaktallergien, Schlafstörungen bei Schichtarbeit), Gesprächsraum öffnen für die betroffene Person mit patientenzentrierter Kommunikation; sonst fokussierende Fragen
  • Nach Abschluss der vollständigen Anamnese zusammenfassen und informieren über die Arbeitshypothesen und die nächsten Schritte in Diagnostik und Therapie

Besonderheiten in den einzelnen Fächern
Gerade in der vegetativen Anamnese wird deutlich, dass die einzelnen Fächer unterschiedlich genaue Angaben zu einzelnen Organsystemen oder funktionellen Systemen fordern (zum Beispiel in der Gynäkologie: Menarche, Regelanamnese, Art der Geburten, Menopause und so weiter).

Für einzelne Krankheitsbilder gibt es spezielle Fragen, mit denen in der speziellen Anamnese der Schweregrad einer Erkrankung eingeschätzt wird (zum Beispiel schmerzfreie Gehstrecke bei der PAVK oder Barthel-Index zur Erfassung grundlegender Alltagsfunktionen).

Literatur

 

3.3. Arzneimittelanamnese

Die meisten Patientinnen und Patienten glauben, dass ihre Ärztinnen und Ärzte ihre aktuelle Therapie gut kennen, was tatsächlich nur ausnahmsweise der Fall ist (Serper et al. 2013). Zudem können viele Patientinnen und Patienten nicht mit Sicherheit einschätzen, was in der Medizin als Arzneimittel gilt (Send et al. 2018). Eine gute Arzneimittelanamnese braucht Zeit und wird umfassender, wenn sie mehrzeitig durchgeführt wird (Rieger et al. 2004); die Verwendung mehrerer Quellen (Patientin bzw. Patient, behandelnde Ärztinnen und Ärzte, Stammapotheke, Angehörige, Pflegedienst, Medikationsplan, Arztberichte, elektronische Akten, Durchsicht aller zu Hause vorhandenen Arzneimittelpackungen [Brown-Bag-Methode]) kann helfen, wichtige und oft risikoreiche Informationslücken zu schließen (ÄzQ 2013).

Die vier Hauptziele der Arzneimittelanamnese sind,

  • die aktuelle Exposition des Patienten bzw. der Patientin mit verordneten und mit nicht verschreibungspflichtigen Arzneistoffen umfassend zu kennen
    (um sie mit dem aktuellen Krankheitszustand [Therapieerfolg, Nonresponse, unerwünschte Arzneimittelwirkungen] in Beziehung zu setzen, ihre Qualität zu prüfen [Dosierungen, Wechselwirkungen, Gegenanzeigen, potenziell inadäquate oder fehlende Medikamente] und neu zu verordnende Arzneistoffe darauf abzustimmen),
  • wichtige frühere Erlebnisse und Ereignisse mit Arzneistoffen zu erfahren
    (Beurteilung der Ergebnisqualität des Medikationsprozesses: gutes/schlechtes Ansprechen, Allergie, Unverträglichkeit),
  • die aktuelle Prozess- und Strukturqualität der Arzneimittelverabreichung sowie Möglichkeiten und Grenzen des Patienten beziehungsweise der Patientin zu (er)kennen
    (Handhabung von Verpackung [Blistern], schwierigen Arzneiformen [Pflaster] und Hilfsmitteln [Inhalatoren, Spritzen, Augentropfen-Applikatoren], Zubereitung [Tabletten teilen, mörsern, suspendieren], Schluckbarkeit [Kapseln, Tabletten], Abhängigkeit von der Hilfe Dritter) und
  • die Grundeinstellung des Patienten bzw. der Patientin und die Wirklichkeit der Einnahme für jedes einzelne Arzneimittel zu kennen
    (Präferenzen und Therapieziele des Patienten / der Patientin, Vorhandensein von Non-adhärenz, divergierenden Konzepten oder technischen Schwierigkeiten).

Die Erhebung der aktuellen Exposition ist fast immer lückenhaft und selbst mehrfache Erhebungen durch verschiedene Fachpersonen der Heilberufe führen nicht zu einer kompletten Übersicht (Carow et al. 2013). Häufig übersehen werden nicht verschreibungspflichtige Arzneimittel (Vitamine, Schmerz- und Magenmittel, pflanzliche Produkte, Homöopathika und Anthroposophika) und Arzneimittel zur Behandlung von Augenkrankheiten, urologischen Leiden, psychischen Erkrankungen oder Schlafstörungen, weshalb gezielt danach gefragt werden soll.

Literatur
  • Ärztliches Zentrum für Qualität in der Medizin (ÄZQ) in Zusammenarbeit mit dem Institut für Patientensicherheit und den Projektkrankenhäusern unter: www.patienten-information.de/mdb/edocs/pdf/patientensicherheit/leitfaden-arzneimittelanamnese.pdf/ [Stand: 19.03.2015]
  • Carow F, Rieger K, Walter-Sack I, Meyer MR, Peters FT, Maurer HH, Haefeli WE. Objective assessment of nonadherence and unknown
  • co-medication in hospitalized patients. Eur J Clin Pharmacol 2012; 68: 1191–9.
  • Rieger K, Scholer A, Arnet I, Peters FT, Maurer HH, Walter-Sack I, Haefeli WE, Martin-Facklam M. High prevalence of unknown co-medication in hospitalised patients. Eur J Clin Pharmacol 2004; 60: 363–8.
  • Seidling HM, Lampert A, Lohmann K, Schiele JT, Send AFJ, Witticke D, Haefeli WE. Safeguarding the process of drug administration with an emphasis on electronic support tools. Br J Clin Pharmacol 2013; 76 Suppl 1: 25–36.
  • Send AFJ, Bittmann JA, Dyckhoff G, Haefeli WE, Seidling HM. What do laypeople consider 'medication' and are they aware of modulators of a drug's effects? Eur J Hosp Pharm 2018; 25: 218–221.
  • Serper M, McCarthy DM, Patzer RE, King JP, Bailey SC, Smith SG, Parker RM, Davis TC, Ladner DP, Wolf MS. What patients think doctors know: beliefs about provider knowledge as barriers to safe medication use. Patient Educ Couns 2013; 93: 306–11.

 

3.4. Schlechte Nachrichten überbringen

In der wissenschaftlichen Literatur über ärztliche Gesprächsführung gibt es kaum eine Gesprächssituation, die so intensiv beforscht ist wie das „Überbringen von schlechten Nach-richten“. Das hat damit zu tun, dass die Mitteilung „schlechter Nachrichten“ nicht nur von Patientinnen und Patienten, sondern auch von Ärztinnen und Ärzten als außerordentlich emotional belastend erlebt wird. Das bekannteste Lehr- und Lernmodell ist SPIKES, welches zunächst für die Mitteilung von Diagnosen in der Onkologie entwickelt wurde (Baile et al. 2000):

S etting: Gesprächsrahmen herstellen (Störungen vermeiden, Bezugsperson mit einbestellen ecetera)
P erception: Wahrnehmung/Informationsstand der betroffenen Person einschätzen (Was weiß sie über ihre Erkrankung?)
I nvitation: Einschätzen der Bereitschaft, die „schlechte Nachricht“ aufzunehmen
K nowledge: Ankündigung und Mitteilung der relevanten Informationen
E mpathy: Emotionen der betroffenen Person beachten und auf diese eingehen (Mitgefühl, emotionale Unterstützung ecetera)
S trategy and summary: Zusammenfassen und weiteres Vorgehen besprechen

Ein derart umfangreiches Modell lässt sich nicht auf alle Situationen des klinischen Alltags übertragen. Eine Unterscheidung zwischen der Mitteilung einer chronischen Erkrankung (beispielsweise Rheuma) oder einer akuten und lebensbedrohlichen Erkrankung (beispielsweise palliative Behandlungssituation bei einer Krebserkrankung) ist sinnvoll.

Vor allem bei letzterer ist der zweite Punkt (Perception) umstritten, da sein Befolgen („Haben Sie denn eine Idee, was wir heute miteinander besprechen werden?“) den Patienten / die Patientin unnötig auf die Folter spannt. Es macht aber Sinn, die Erwartungen und Befürchtungen des Patienten / der Patientin zu Beginn des Gespräches zu erfassen, wenn zum Beispiel der onkologischen Fachperson nicht klar ist, ob der Patient / die Patientin überhaupt weiß, dass es jetzt um einen kritischen Befund geht.

Mehr an der klinischen Realität orientiert sich das folgende Prozedere, das zudem die basalen Kommunikationstechniken im Bereich von Struktur, Vermitteln von Informationen und Aufgreifen von Emotionen integriert. Es lässt sich mit dem Akronym BAD beschreiben, wobei B für Breaking bad news, A für Acknowledge patient’s reactions und D für Develop plans for the near future steht. Diesem Dreischritt lassen sich die folgenden detaillierten Punkte zuordnen:

Breaking bad news
Was muss ich wissen? Bevor Ärztinnen und Ärzte Informationen geben, müssen sie sich selbst informieren.

Was wissen Patientinnen und Patienten? In Situationen, in denen Ärztinnen und Ärzte mit spezieller Expertise erstmalig hinzugezogen werden, ist es ratsam, Patientinnen und Patienten zu fragen: „Können Sie mir kurz sagen, was Sie über Ihre Krankheit wissen?“, bevor die schlechte Nachricht überbracht wird. Nicht immer stimmt das, was Kolleginnen und Kollegen über das Wissen von Patientinnen und Patienten erzählen, mit dem überein, was letztere tatsächlich wissen.

Ankündigen:„Es tut mir leid ...“ Die Ankündigung fokussiert die Aufmerksamkeit von Patientinnen und Patienten auf das, was kommt. Manchmal nehmen Betroffene die schlechte Nachricht vorweg: „Ist der Tumor wieder da?“

KISS – Keep It Short and Simple: Die meisten schlechten Nachrichten kann man kurz und einfach übermitteln. Ärztinnen und Ärzte, die lange und kompliziert reden, gehen weniger auf die Bedürfnisse der Patientinnen und Patienten ein als auf ihre eigenen.

Warten: Essenziell nach der Überbringung der schlechten Nachrichten ist eine Pause. Nur so haben Betroffene die Chance, ihre ganz individuellen Reaktionen und ihre momentanen Bedürfnisse zu zeigen. Für Ärztinnen und Ärzte ist dieser Moment oft schwer aushaltbar.

Acknowledge patient’s reactions
Je nachdem, wie die Reaktionen der Patientinnen und Patienten ausfallen, gehen Ärztinnen und Ärzte entweder mehr auf die Emotionen oder auf das Informationsbedürfnis ein.

Zum Umgang mit Emotionen empfehlen sich die Techniken des NURSE (siehe 2.3.).

Zum Umgang mit dem Informationsbedürfnis von Patientinnen und Patienten: Techniken zur Informationsvermittlung (siehe 2.4.).

Kein vorschneller Trost! Trost ist wichtig, wenn er Mitgefühl vermittelt oder Hoffnungen unterstützt. Wenn er vorschnell gegeben wird, nimmt er Patientinnen und Patienten die Zeit, um sich darüber klar zu werden, um was sie sich sorgen, wovor sie Angst haben und was sie im Moment noch wissen wollen.

Develop plans for the near future
Wie geht es weiter (nächste Schritte)? Die betroffene Person muss die nächsten Schritte kennen, ein Beispiel: „Als Nächstes kommt jetzt die Operation. Abhängig vom Resultat werden wir dann entscheiden, wie es weitergeht.“

Kann ich die schlechte Nachricht mit guten ergänzen?
Beispiel: „Die Therapien, die ich Ihnen vorschlage, sind sehr eingreifend, aber unser Ziel ist es, Sie von der Krankheit zu heilen.“

Wann sehen wir uns wieder? Terminvereinbarung und Erreichbarkeit für Notfälle.


Good Practice - Schlechte Nachrichten überbringen (SPIKES-Modell)
Rheumatoide Poyarthritis

Mitwirkende:

Prof. Dr. Jürgen in der Schmitten (Arzt), Susan Fararuni (Schauspielerin), Marlon Jarek (Sprecher)

Beschreibung:

Gespräch eines Hausarztes, der einer Patientin die Diagnose einer chronischen Poliarthritis mitteilt. Im Gespräch werden Elemente des SPIKES-Modells (Baile) zur Überbringung schlechter Nachrichten demonstriert.

Quelle

Creative Commons, Heinrich-Heine-Universität, Düsseldorf


Good Practice - Schlechte Nachrichten überbringen
Palliative Behandlungssituation, Umgang mit Verleugnung

Mitwirkende:

Dr. med. Jacqueline Schwartz (Ärztin), Miriam Gronau (Schauspielerin), Markus Kroner (Sprecher)

Beschreibung:

Gespräch der behandelnden Ärztin des SAPV-Teams mit einer Patientin, die seit 4 Jahren an einem metastasierten Ovarialkarzinom leidet. Die Patientin befindet sich in der späten Terminalphase ihrer Erkrankung und verhält sich stark verleugnend bezüglich ihrer aktuellen Lebenssituation. Die Palliativmedizinerin spricht mit der Patientin über ihre Erkrankung und die begrenzte Prognose.

Quelle

Creative Commons, Heinrich-Heine-Universität, Düsseldorf


Good Practice - Angehörigengespräch über eine Organspende

Mitwirkende:

Dr. med Stefan Meier (Arzt), Melanie Arnold (Schauspielpatientin)

Beschreibung:

Angehörigengespräch mit einer Ehefrau, die auf der Intensivstation von einem Arzt über den irreversiblen Ausfall der Hirnfunktionen ihres Mannes nach einem Verkehrsunfall informiert wird. Im Verlauf wird mit ihr die Möglichkeit zur Organspende des Patienten besprochen. Im Gespräch werden Elemente der patientenzentrierten Gesprächsführung und des SPIKES-Modells zum Überbringen von schwierigen Nachrichten demonstriert.

Quelle

Creative Commons, Heinrich-Heine-Universität, Düsseldorf

 
Literatur
  • Baile W. F., Buckman R., Lenzi, R., Glober G., Beale E. A., Kudelka, A. P.: SPIKES a six-step protocol for delivering bad news: application to the patient with cancer. The oncologist. 2000, 5(4): 320–311.
  • Buckman R. A.: Breaking bad news: the S-P-I-K-E-S strategy. Community Oncology. 2005; 2(2): 138–42.
  • Fallowfield L., Jenkins V.: Communicating sad, bad, and difficult news in medicine. Lancet. 2004; 363: 312–9.
  • Hale E. D., Treharne G. J., Kitas G. D.: The common-sense model of self-regulation of health and illness: how can we use it to understand and respond to our patients’ needs? Rheumatology. 2007; 46(6): 904–6.
  • Phillips L. A., Leventhal H., Leventhal E. A.: Physicians’ communication of the common-sense self-regulation model results in greater reported adherence than physicians’ use of interpersonal skills. British Journal of Health Psychology. 2012; 17(2): 244–57.
  • Tulsky J. A.: Efficacy of communication skills training for giving bad news and discussing transitions to palliative care. Arch Intern Med. 2007; 167(5): 453–60.

 

3.5. Ansprechen heikler Themen: Reanimation

Die Arzt-Patienten-Beziehung hat in den letzten Jahrzenten einen elementaren Wandel vollzogen. Anstatt medizinische Entscheidungen paternalistisch zu treffen, wird unseren Patientinnen und Patienten im Sinne einer patientenzentrierten Versorgung signifikant mehr Autonomie zugesprochen und diese werden in Entscheidungsprozesse eingebunden. Studien aus Deutschland und der Schweiz zeigen, dass etwa zwei Drittel unserer Patientinnen und Patienten wünschen, Entscheidungen im Hinblick auf ihre Erkrankung oder deren Therapie mit ihrem Behandlungsteam gemeinsam zu treffen.

Dieses trifft insbesondere auf kritische Situationen oder Entscheidungen zu, welche lebensverändernd sein können. Ein typisches Beispiel hierfür ist das Gespräch über mögliche Re-animationsversuche im Falle eines Herz-Kreislauf-Stillstands.

Tritt bei einer Patientin / einem Patienten ein Herz-Kreislauf-Stillstand auf, können Wiederbelebungsversuche unternommen werden, um den drohenden Tod zu verhindern. Wiederbelebungsversuche oder anderweitige therapeutische Maßnahmen sollten sich hierbei am dokumentierten oder mutmaßlichen Willen der betroffenen Person orientieren. Wurden Reanimationsmaßnahmen von der Person zu Lebzeiten, zum Beispiel in einer Patientenverfügung, abgelehnt, so sollte das Behandlungsteam von Wiederbelebungsversuchen absehen und sich stattdessen auf palliative Maßnahmen beschränken.

Statistisch tritt bei etwa jeder vierzigsten Person während eines stationären Aufenthalts ein Herz-Kreislauf-Stillstand auf.Da die Präferenzen der Patientinnen und Patienten im Hinblick auf Wiederbelebungsversuche sehr individuell sein können, sollten Ärztinnen und Ärzte – sofern möglich – keine Annahmen über den mutmaßlichen Willen treffen, sondern das Gespräch frühzeitig im Rahmen des stationären Aufenthalts suchen. Dies ermöglicht es, die Patientinnen und Patienten in die Entscheidungsfindung mit einzubeziehen.

Die meisten Patientinnen und Patienten schätzen es, wenn allfällige Wiederbelebungsmaßnahmen thematisiert werden. Patientinnen und Patienten, welche keine Diskussion führen möchten, sollte man jedoch kein Gespräch oder Informationen aufzwingen.

Um eine sinnvolle Entscheidung bezüglich des sogenannten „Reanimationsstatus“ treffen zu können, müssen Patientinnen und Patienten über die Prognose eines Herz-Kreislauf-Stillstands, aber auch über die Risiken und Vorteile allfälliger Wiederbelebungsversuche aufgeklärt werden.

Zahlreiche Studien zeigen, dass Patientinnen und Patienten die Prognose eines Kreislauf-Stillstands überschätzen. Eine im Jahr 2022 durchgeführte, repräsentative Umfrage in der Schweiz fand heraus, dass die Bevölkerung hinsichtlich eines Kreislauf-Stillstands während einer Hospitalisation (In-hospital cardiac arrest) eine Überlebenswahrscheinlichkeit von rund 60 Prozent vermutet. Der plötzliche Herzstillstand ist jedoch ein lebensbedrohlicher Zustand. Die Überlebenswahrscheinlichkeit außerhalb des Spitals (out-of-hospital cardiac arrest) liegt bei lediglich 10 –15 Prozent und auch wenn der Kreislauf-Stillstand während einer Hospitalisation auftritt, versterben rund 80 Prozent der Patientinnen und Patienten trotz optimaler Reanimationsmaßnahmen. Darüber hinaus trägt etwa die Hälfte der Überlebenden neurokognitive Beeinträchtigungen aufgrund einer hypoxischen Enzephalopathie davon und ist im Verlauf auf Hilfe oder Pflege angewiesen. Die Prognose eines Herz-Kreislauf-Stillstands hat sich trotz medizinischer Fortschritte in den letzten Jahren nicht verbessert.

Mit Patientinnen und Patienten zu besprechen und zu entscheiden, ob im Falle eines Herz-Kreislauf-Stillstands Wiederbelebungsversuche eingeleitet werden sollen oder man sich auf palliative Maßnahmen beschränkt, ist ein typisches Beispiel einer partizipatorischen Entscheidungsfindung (vgl. Kapitel 2.6.).

Die wesentliche Aufgabe der Ärztin oder des Arztes während eines Gesprächs über Reanimationsmaßnahmen ist es, der betroffenen Person die beiden potenziell möglichen Therapieoptionen (Reanimationsversuch versus palliativer Fokus) sowie deren Vor- und Nachteile näherzubringen.

Hierdurch kann man es Patientinnen und Patienten erleichtern, die Therapieoptionen gemäß ihren Präferenzen und Wertvorstellungen abzuwägen und die medizinische Entscheidungsfindung aktiv zu beeinflussen.

Allerdings haben viele Patientinnen und Patienten mit einer niedrigen Gesundheitskompetenz (engl. „health literacy“) Schwierigkeiten, medizinische Informationen zu verstehen oder zu beurteilen. Eine nationale Erhebung aus den Jahren 2019 – 2021 ergab, dass in der Schweiz 49 Prozent der Bevölkerung eine niedrige Gesundheitskompetenz aufweisen und daher Mühe haben Therapieoptionen abzuwägen und eine sinnvolle Entscheidung zu treffen. Bei diesen Patientinnen und Patienten kann der Einsatz von Entscheidungshilfen (engl. „Decision Aids“) förderlich sein. Entscheidungshilfen bereiten medizinische Informationen in Form von leicht verständlichen Tabellen, Diagrammen oder Bildern auf und können hierdurch das Wissen und Verständnis von Patientinnen und Patienten verbessern. Studien konnten zeigen, dass durch den Einsatz von Entscheidungshilfen die Beteiligung von Patientinnen und Patienten in der Entscheidungsfindung gesteigert werden kann. Zur Illustrierung der Prognose eines Herz-Kreislauf-Stillstands kann beispielsweise ein Cates Plot verwendet werden. Cates Plots stellen Outcomes in Form von Smileys in unterschiedlichen Farbvarianten beziehungsweise Gesichtsausdrücken dar.

Sind Patientinnen und Patienten unsicher im Hinblick auf ihre Entscheidungsfindung, kann es im Gespräch nützlich sein, mithilfe einer weiteren Decision Aid (Tabelle 1) die Präferenzen oder Einstellung zum Leben zu erfragen.

Futility

Im klinischen Alltag sind Ärztinnen und Ärzte gelegentlich mit Situationen konfrontiert, bei welchen Reanimationsversuche von Seite der Patientinnen und Patienten möglicherweise gewünscht, aus medizinischer Sicht aber als nicht sinnvoll erachtet werden. Ein Beispiel hierfür sind Reanimationsversuche bei Patientinnen und Patienten mit palliativen Erkrankungen, bei denen ein Herz-Kreislauf-Stillstand als ein natürlicher Verlauf der Erkrankung angesehen werden muss, oder bei polymorbiden Patientinnen und Patienten mit verschwindend geringer Überlebenswahrscheinlichkeit. Reanimationsversuche zeigen in diesen Fällen in der Regel keinen Nutzen, sondern führen vielmehr zu einer Leidensverlängerung oder man muss damit rechnen, dass die Patientinnen und Patienten den Kreislaufstillstand nur mit schwersten neurologischen Einbußen überleben. Medizinische Guidelines schätzen Reanimationsversuche in diesen Situationen als sinn- oder nutzlos (englisch „futile“) ein.

Das Gespräch über die Aussichtslosigkeit von Reanimationsmaßnahmen bei möglichem Herz-Kreislauf-Stillstand ist herausfordernd und wird von Ärztinnen und Ärzten oftmals als unangenehm empfunden. Häufig besteht von ärztlicher Seite die Sorge, dass ein solches Gespräch für Patientinnen und Patienten zu belastend sein könnte. Die Literatur zeigt jedoch, dass die Thematisierung von schlechter Prognose oder Tod bei polymorbiden Patientinnen und Patienten nicht grundsätzlich als belastend erlebt wird. Allerdings sind kommunikative Fertigkeiten in diesen Gesprächen gefragt. Hierbei können unter Umständen auch Techniken zum Überbringen schlechter Nachrichten (vgl. Kapitel 3.4.) hilfreich sein.

Die Beurteilung einer möglichen „Futility“ im Hinblick auf potenzielle Reanimationsmaßnahmen basiert häufig auf subjektiver Einschätzung der Ärztin oder des Arztes. Untersuchungen haben allerdings gezeigt, dass auch Ärztinnen und Ärzte die Überlebenswahrscheinlichkeit eines Herz-Kreislauf-Stillstands bei polymorbiden Patientinnen und Patienten um bis zu 300 % überschätzen, sodass eher zu selten von einer nicht sinnvollen Reanimation ausgegangen wird.

Auch wenn keine einheitlichen Handlungsempfehlungen bezüglich Sinnlosigkeit von Reanimationsmaßnahmen existieren, können klinische Risiko-Scores die Entscheidungsfähigkeit erleichtern. Eine Metaanalyse aus dem Jahre 2011 zeigte, dass insbesondere der GO-FAR (Good Outcome Following Attempted Resuscitation) und der PIHCA (The Prediction of Outcome for in-Hospital Cardiac Arrest) Score gute prädiktive Werte aufweisen. Beide Scores erfassen relevante Vorerkrankungen (zum Beispiel metastasierende Tumorleiden, Sepsis oder respiratorische Insuffizienz) der Patientinnen und Patienten, welche mit einer schlechten Prognose nach Herz-Kreislauf-Stillstand verbunden sind. Auf Grundlage früherer Forschungsergebnisse berechnen GO-FAR und PIHCA hierbei eine statistische Wahrscheinlichkeit, einen Herz-Kreislauf-Stillstand mit gutem neurologischen Ergebnis zu überleben. Publikationen aus einer ethischen Perspektive legen nahe, dass man bei einer Überlebenswahrscheinlichkeit von < 3 Prozent von aussichtslosen (futilen) Reanimationsversuchen ausgehen muss.

Beide Scores können bei Reanimationsgesprächen als Entscheidungshilfe herangezogen werden und die Entscheidungsfindung erleichtern. Darüber hinaus dienen sie auch Ärztinnen und Ärzten als Anhaltspunkt, um die Sinnhaftigkeit von Reanimationsversuchen zu evaluieren.

Fazit

Die Besprechung von Reanimationsversuchen, eine therapeutische Maßnahme, deren Prognose häufig ungewiss ist, stellt für das ärztliche Personal häufig eine Herausforderung dar. Viele Ärztinnen und Ärzte fühlen sich für diese Gespräche unvorbereitet. Insbesondere wenn infauste Prognosen oder palliative Therapieansätze besprochen werden müssen, können Kommunikationstrainings hilfreich sein.

Literatur

  • Schweizerische Akademie der Medizinischen Wissenschaften. Reanimationsentscheidungen 2018 [Available from: https://www.samw.ch/de/Ethik/Themen-A-bis-Z/Reanimationsentscheidungen.html]
  • Becker C, Hunziker S. Decision Making in Code Status Discussions. Ther Umsch. 2022; 79(8): 387–392.
  • Becker C, Gross S, Gamp M, Beck K, Amacher SA, Mueller J, Bohren C, Blatter R, Schaefert R, Schuetz P, Leuppi J, Bassetti S, Hunziker S. Patients' Preference for Participation in Medical Decision-Making: Secondary Analysis of the BEDSIDE-OUTSIDE Trial. J Gen Intern Med. 2022 Sep 9.
  • Perkins GD, Graesner JT, Semeraro F, Olasveengen T, Soar J, Lott C, et al. European Resuscitation Council Guidelines 2021: Executive summary. Resuscitation. 2021; 161: 1–60.
  • Schluep M, Gravesteijn BY, Stolker RJ, Endeman H, Hoeks SE. One-year survival after in-hospital cardiac arrest: A systematic review and meta-analysis. Resuscitation. 2018; 132: 90–00.
  • Becker C, Künzli N, Perrig S, Beck K, Vincent A, Widmer M, Thommen E, Schaefert R, Bassetti S, Hunziker S. Code status discussions in medical inpatients: results of a survey of patients and physicians. Swiss Med Wkly. 2020 Mar 23; 150: w20194.
  • Becker C, Manzelli A, Marti A, Cam H, Beck K, Vincent A, Keller A, Bassetti S, Rikli D, Schaefert R, Tisljar K, Sutter R, Hunziker S. Association of Communication Interventions to Discuss Code Status With Patient Decisions for Do-Not-Resuscitate Orders: A Systematic Review and Meta-analysis. JAMA Netw Open. 2019; 2(6): e195033.
  • Beck K, Vincent A, Cam H, Becker C, Gross S, Loretz N, Müller J, Amacher SA, Bohren C, Sutter R, Bassetti S, Hunziker S. Medical futility regarding cardiopulmonary resuscitation in in-hospital cardiac arrests of adult patients: A systematic review and Meta-analysis. Resuscitation. 2022; 172: 181–93.
  • Schneiderman LJ, Jecker NS, Jonsen AR. Medical futility: its meaning and ethical implications. Ann Intern Med. 1990; 112(12): 949–54.

 

3.6 Ansprechen heikler Themen: Sprechen über Tod und Sterben

Obwohl Menschen spätestens in ihrer Pubertät begreifen, dass auch das eigene Leben endlich ist, finden Gespräche über das Lebensende, über Tod und Sterben selten statt. Oft findet die Auseinandersetzung mit dem eigenen Tod erst im Verlauf einer schwerwiegenden Erkrankung statt. Es existiert eine gewisse Diskrepanz zwischen dem häufig zur Schau gestellten medialen Tod in Literatur, Film und digitalen Medien und der mangelnden Reflexion über das eigene, unvermeidliche Lebensende. Die Menschen, die heute unsere Patientinnen und Patienten sind, haben häufig als Kinder einen fast tabuisierten Umgang mit Tod und Sterben erlebt, weil das Sterben von Anverwandten allzu häufig im Krankenhaus oder im Hospiz, selten zu Hause geschah und selten offen darüber gesprochen wurde. Somit ist es nicht verwunderlich, dass eine gewisse Sprachlosigkeit vorherrscht, wenn es darum geht, auch eine fragliche oder bedrohliche Prognose der eigenen Erkrankung zu besprechen und abschätzen zu lernen.

Einladung zum Gespräch

Patientinnen und Patienten suchen meist indirekt das Gespräch über ihre Sorgen und Ängste in Bezug auf den weiteren Verlauf ihrer Erkrankung. Sie machen Andeutungen wie zum Beispiel: „Aber ich werde doch wieder gesund?“, „Kann ich denn noch Hoffnung haben?“, „Macht das denn alles noch Sinn?“ oder auch: „Wissen Sie, ich mache mir Sorgen um meinen Partner.“ Manchmal sagen Patientinnen und Patienten auch: „Ich habe Angst …“ oder: „Denken Sie, dass ich für nächstes Jahr meinen Urlaub planen kann?“ Eher seltener fragen Patientinnen und Patienten direkt nach der Prognose, wie lange Zeit ihnen noch bleibt oder was im Prozess des Sterbens konkret auf sie zukommen könnte.

Der Zeitpunkt, an dem Patientinnen und Patienten das Thema Tod und Sterben ansprechen, ist sehr unterschiedlich. Manche versuchen dies ein erstes Mal direkt bei der Diagnosemitteilung, zum Beispiel wenn es um eine Krebserkrankung geht. Häufig wird von Ärztinnen und Ärzten aber nicht darüber, sondern ausschließlich über Heilungschancen und Behandlungsmöglichkeiten gesprochen. Patientinnen und Patienten registrieren sehr genau, ob ihr Gegenüber prinzipiell bereit ist, über Tod und Sterben zu sprechen, oder dieses Thema ebenfalls tabuisiert.

Andererseits gibt es auch Situationen, in denen vonseiten der Ärztinnen und Ärzte der Eindruck besteht, dass es für die weitere Behandlung und Zusammenarbeit erforderlich ist, unter anderem auch über die Prognose zu sprechen und damit auch über ein mögliches Versterben. Dies kommt insbesondere vor, wenn es um Therapiebegrenzung geht oder Ärztinnen bzw. Ärzte und Patientinnen bzw. Patienten eine sehr unterschiedliche Vorstellung über den weiteren Verlauf der Erkrankung haben.

Unabhängig davon, ob Patientinnen und Patienten indirekte Andeutungen machen, direkte Fragen zum weiteren Verlauf stellen oder Ärztinnen und Ärzte das Gefühl haben, ein Gespräch über Tod und Sterben wäre erforderlich, immer sollte zunächst ein Einvernehmen hergestellt werden, ob über das Thema gesprochen werden darf. Eine gute Formulierung zum Einstieg in das Thema könnte sein:

„Würden Sie gerne mit mir über den weiteren Verlauf Ihrer Krankheit, die Prognose und eventuell auch über die Themen Tod und Sterben sprechen?“

Diese Frage erfüllt drei Funktionen. Zum einen wird das Thema direkt benannt, aus der Grauzone herausgeholt, zum anderen wird ein Einverständnis mit der Patientin oder dem Patienten hergestellt, ob in dieser Konstellation und zu diesem Zeitpunkt darüber gesprochen werden darf. Unabhängig davon, ob die Patientin oder der Patient zu diesem Zeitpunkt das Gespräch annimmt, erfolgt ein Angebot, als potenzielles Gegenüber für Gespräche zu diesen Themen zur Verfügung zu stehen. Darüber hinaus besteht auf diese Weise die Möglichkeit, zwar das Thema zu benennen, andererseits aber auch so etwas zu sagen wie: „Ich würde mich sehr gerne mit Ihnen über diese Themen unterhalten, aber möchte dazu einen neuen Termin mit Ihnen vereinbaren, um etwas mehr Zeit zu haben.“

Alte Kommunikationsregeln

Viele Ärztinnen und Ärzte haben in ihrer Aus- und Weiterbildung gelernt, dass man

  • Patientinnen und Patienten niemals die Hoffnung nehmen darf,
  • Patientinnen und Patienten nur erläutern soll, wonach sie konkret gefragt haben,
  • Patientinnen und Patienten keinerlei Zeitangaben machen soll.

Die alten Kommunikationsregeln kommen aus einer Zeit, in der ein patriarchaler Beziehungsstil die Kommunikation zwischen Arzt / Ärztin und Patient / Patientin geprägt hat und das Wissen über die Verläufe der meisten Erkrankungen deutlich geringer war, als das heute der Fall ist. Außerdem sind durch die Entwicklung der Palliativmedizin Versorgungsstrukturen entstanden, in denen Patientinnen und Patienten durchaus bis zum Lebensende eine relativ hohe Lebensqualität erleben können, allerdings nur, wenn ein absehbares Versterben zuvor offen kommuniziert werden konnte.

Der-Frage-Antwort-Modus

Ärztliche Kommunikation mit Patientinnen und Patienten ist in der Regel dadurch geprägt, dass die Betroffenen Fragen stellen und Ärztinnen oder Ärzte diese beantworten. Für das Gespräch über Tod und Sterben ist es wichtig, zunächst aus diesem Modus auszusteigen. Denn selbst die Frage „Wie lange habe ich noch?“ ist in erster Linie eine Bitte, in diesen Themenkomplex einzusteigen und zunächst zu eruieren, ob eine Antwort auf die Frage sinnvoll und möglich ist. Es ist nicht ratsam, diese Frage sofort zu beantworten, ohne den Hintergrund zu verstehen.

Somit macht es Sinn, in die Gedankenwelt der Patientin oder des Patienten einzusteigen:
„Gibt es einen konkreten Grund/Anlass, dass Sie danach fragen, oder ist es mehr eine ganz allgemeine Frage?“
„Was genau möchten Sie wissen? Was steckt hinter Ihrer Frage?“
„Was denken Sie selbst zum weiteren Verlauf Ihrer Erkrankung? Haben Sie spezielle Sorgen? Wovor haben Sie Angst?“

Diese Fragen geben Einblick in die subjektive Krankheitssicht und Prognoseeinschätzung der betroffenen Person und häufig auch in ihre Gedankenwelt und Lebensrealität. Relativ bald erschließt sich dann im weiteren Gespräch, ob es in der Ausgangsfrage der Patientin beziehungsweise des Patienten wirklich um eine konkrete Zeiteinschätzung ging oder um ganz andere Inhalte. Außerdem lässt sich so in Erfahrung bringen, wie detailliert die zeitliche Einschätzung sein muss, um für die betroffene Person hilfreich zu sein.

Manchmal geht es bei der Frage nach der Prognose tatsächlich um eine ganz konkrete Grundlage für wichtige soziale, finanzielle oder persönliche Entscheidungen. Es kann sich dabei zum Beispiel um die anstehende Hochzeit des Sohnes handeln, die je nach weiterem Krankheitsverlauf terminiert werden soll, damit der Patient noch anwesend sein kann, oder auch um die Nachlassregelungen, die Regelung von Sorgerecht für minderjährige Kinder ecetera.

Häufig ist es aber auch der Wunsch, das Krankheitsgeschehen richtig einschätzen zu können, zu wissen, ob man auf Besserung des Allgemeinzustandes hoffen kann oder sich an eingeschränkte Leistungsfähigkeit und begrenzte Lebensperspektive anpassen muss. In letzteren Fällen geht es dann weniger um eine konkrete zeitliche Einschätzung. Die Frage nach der weiteren Prognose, nach dem anstehenden Sterben spielt in der Palliativmedizin eine noch viel größere Rolle, vor allem wenn es darum geht abzuschätzen, wann es Zeit ist, Abschied zu nehmen, oder wie lange man selbst und die Angehörigen noch durchhalten müssen.

Bei lebensbedrohlichen Erkrankungen, insbesondere bei Krebserkrankungen, ist es oft am Anfang sehr schwer, eine zeitliche Einschätzung abzugeben. In sehr fortgeschrittenen Krankheitsstadien wird die verbleibende Zeitspanne häufig besser greifbar. Da aber jeder Krankheitsverlauf individuell ist, hat es sich bewährt, Zeitangaben – wenn sie denn sinnvoll sind – eher in Zeiträumen auszudrücken. Geeignete Formulierungen im Gespräch mit Patientinnen und Patienten sind beispielsweise: „Wir gehen eher von Monaten als von Jahren aus.“ „Wahrscheinlich handelt es sich eher um Tage denn um Wochen.“

Gleichzeitig kann es hilfreich sein, die betroffene Person einzuladen, häufiger über die Prognose zu sprechen, gerade weil individuelle Krankheitsverläufe sehr unterschiedlich sind und prognostische Einschätzungen sich ändern können. Wenn es um so schwierige und belastende Themen geht, ist es wichtig, frühzeitig bei Patientinnen und Patienten Bewältigungsstrategien zu aktivieren, indem ihnen Lösungskompetenzen zugeschrieben werden:

„Was könnte Ihnen die Situation erleichtern?“
„Was würde helfen, mit dieser Situation zurechtzukommen?“

Mit diesen Fragen geben Sie zu erkennen, dass Sie der Patientin bzw. dem Patienten zutrauen, selbst eine Idee zu haben oder zu entwickeln, wie diese schwierige Situation besser zu bewältigen sein könnte. Sie geben ebenfalls zu erkennen, dass es sich nicht um ein rein medizinisches Problem handelt, sondern dass es auch darum geht, eine der schwierigsten menschlichen Entwicklungsaufgaben zu meistern: das Leben im Angesicht des Todes und die Gestaltung des eigenen Versterbens.

Rollenwechsel

Im rein medizinischen und somatischen Kontext sind Ärztinnen und Ärzte gefragt als lösungssichere Expertinnen und Experten. Sie müssen in der Lage sein, Symptome zuzuordnen, Diagnosen zu stellen, sinnvolle Untersuchungen anzuordnen, die Patientinnen und Patienten über ihre Krankheit zu informieren, Fragen zu beantworten, Therapiekonzepte zu planen und durchzuführen. Im Gespräch über Tod und Sterben sind Ärztinnen und Ärzte darüber hinaus auch empathische Begleiterinnen und Begleiter, die ebenfalls an ihrem Lebensende die oben angesprochenen Entwicklungsaufgaben meistern müssen. Auf persönlicher Ebene sind wir dabei genauso unerfahren wie die Patientinnen und Patienten selbst. In der Rolle der empathischen Begleitenden geht es darum, Patientinnen und Patienten zu unterstützen, einen guten Weg für sich zu finden und die anstehende Entwicklungsaufgabe bestmöglich zu bewältigen. Diese Rolle ist eher ungewohnt.

Die eigenen Erfahrungen mit dem Versterben von Angehörigen, von Patientinnen und Patien-ten, eigene Vorstellungen vom Tod und möglicherweise Vorstellungen von einer Existenz nach dem Tod prägen bewusst oder unbewusst die Gespräche mit den Patientinnen und Patienten. Insofern ist es gerade für solche Gespräche sinnvoll, im Kreis von Kolleginnen und Kollegen, zum Beispiel in einer Balint-Gruppe, einer Supervisionsgruppe oder einer Selbsterfahrungsgruppe, sich der eigenen Vorstellungen, Vorbehalte, Ängste und Sorgen bewusst zu werden.

Hoffnung

Den Patientinnen und Patienten die Gelegenheit zu geben, über ihre Sorgen und Ängste, über ihre Belastungen und auch die negativen Gefühle wie Trauer und Wut zu sprechen, führt in der Regel zu emotionaler Entlastung und zu einer Anpassung der Hoffnung. Patientinnen und Patienten, die wissen, dass sie nicht mehr gesund werden, hoffen auf ein möglichst langes Leben in guter Lebensqualität. Patienten und Patientinnen, die wissen, dass sie bald versterben werden, hoffen auf eine gute Zeit bis zum Tod und ein gutes Sterben. Somit führt so das offene Gespräch über so belastende Themen wie Tod und Sterben nicht zu mehr Verzweiflung und Angst, sondern zu mehr Bewältigung und Hoffnung.

Literatur

  • Royal College of Physicians (ed.) Talking about dying: How to begin honest conversations about what lies ahead. 2018.
  • Heyland D. K., Dodek P., You J. J., Sinuff T., Hiebert T., Tayler, C. ... & Downar, J.: Validation of quality indicators for end-of-life communication: results of a multicentre survey. Cmaj, 2017; 189(30), E980–E989.
  • Ekberg S., Parry R., Land V., Ekberg K., Pino M., Antaki C., ... & Whittaker, B.: Communicating with patients and families about illness
  • progression and end of life: a review of studies using direct observation of clinical practice. BMC palliative care, 2021; 20(1), 1–12.

 

3.7 Ansprechen heikler Themen: häusliche Gewalt

repräsentativen Befragung in der Bundesrepublik Deutschland gaben 37 Prozent der Frauen im Alter von 18 bis 64 Lebensjahren an, mindestens einmal in ihrem Leben häusliche Gewalt erlebt zu haben. Internationale Studien zur Häufigkeit von Gewalterfahrung zeigen stark unterschiedliche Prävalenzraten, abhängig von der Gewaltform (psychische, körperliche oder sexuelle Gewalt), dem Geschlecht, aber auch der untersuchten Stichprobe.

Die Definition von Gewalt wird nach wie vor kontrovers diskutiert. Selg et al. (1997) verstehen unter Gewalt schwere Formen von Aggression, bei denen zusätzlich zu einer Schädigungsabsicht ein psychisches oder physisches Machtgefälle zugrunde liegt. Bei häuslicher Gewalt handelt es sich um Gewalt im sozialen Nahraum durch Partner bzw. Partnerin oder Familienangehörige. Die 12-Monats-Prävalenz für widerfahrene körperliche Gewalt durch Partner / Partnerin oder Familienangehörige liegt in internationalen Studien bei etwa 1 Prozent. Frauen sind vor allem bei sexueller Gewalt häufiger betroffen.

Häusliche Gewalt in der medizinischen Versorgung

Opfer häuslicher Gewalt suchen zwar häufig wegen ihrer körperlichen Verletzung Hilfe im medizinischen Versorgungssystem. Die zum langfristigen Schutz der Gesundheit neben der medizinisch-somatischen Versorgung erforderlichen psychosozialen Hilfen unterbleiben jedoch oft.

Solche psychosozialen Hilfen sind in der Regel:

  • Sicherstellung des elementaren Rechts der körperlichen und psychischen Unversehrtheit;
  • Einschätzung des akuten Gefährdungspotenzials;
  • Berücksichtigung der akuten, emotionalen Belastung des Gewaltopfers;
  • Initiierung von (meist nur längerfristig zu erreichenden) Ablösungsprozessen aus der von Abhängigkeit geprägten, gewaltsamen Beziehung zum Täter / zur Täterin.

Häufigster Grund, warum psychosoziale Hilfen unterbleiben, ist die Tatsache, dass die Gewalterfahrung nicht angesprochen wird. Dabei wünschen sich Gewaltopfer überwiegend, in einem geschützten Rahmen offen über ihre Gewalterfahrung sprechen zu können. Es gibt verschiedene Gründe, warum die häusliche Gewalt nicht thematisiert wird: Die betroffene Person zweifelt vielleicht an der Vertraulichkeit des Gesprächs oder geht davon aus, dass die Fachperson kaum Interesse oder kaum Zeit hat.

Was ist bei Verdacht auf häusliche Gewalt zu beachten?
Äußere Bedingungen: Vordringlich ist es, eine sichere Gesprächssituation herzustellen. Dies bedeutet neben einem ungestörten Ort und einem entsprechenden Zeitrahmen auch, sensibel mit den Begleitpersonen umzugehen und Patient beziehungsweise Patientin und Begleitperson allenfalls zu separieren (denn unter Umständen ist die Begleitperson der Täter beziehungsweise die Täterin).

Auf Emotionen eingehen: Gewaltopfer befinden sich oft in einem emotionalen Ausnahmezustand. Leitaffekte sind Scham und Angst. Gewaltopfer geben sich die Schuld für das Erlittene („Ich hab ihn doch provoziert.“) und schämen sich, dass sie sich nicht selbst aus dieser demütigenden Situation befreien können („Wieso lasse ich zu, dass man so mit mir umgeht?“). Daneben besteht oft auch eine reale Angst, denn Gewaltopfer haben schon erfahren, dass sie geschlagen und gedemütigt werden, und befürchten zu Recht, dass ihnen dies wieder geschieht. Häufig werden sie von den Tätern oder Täterinnen konkret bedroht („Wenn du erzählst, was dir passiert ist, mach ich dich fertig.“). Daher ist es wichtig, auf diese starken Emotionen im Gespräch einzugehen. Hilfreiche Techniken hierfür sind im NURSE-Modell beschrieben (siehe 2.3.).

Direktes Ansprechen bei Verdacht auf häusliche Gewalt: Besteht der Verdacht auf häusliche Gewalt, sollte dies direkt angesprochen werden. Hilfreiche Formulierungen können sein: „Könnte es sein, dass vielleicht doch noch etwas anderes zu Ihren Verletzungen geführt hat?“, oder „Wissen Sie, wir haben hier häufiger Patientinnen und Patienten, die mit körperlichen Verletzungen zu uns kommen, weil sie von jemandem, der ihnen nahesteht, verletzt worden sind.“ Zu vermeiden sind konfrontierende Formulierungen wie: „Das Muster Ihrer Verletzungen passt aber gar nicht zu der von Ihnen angegebenen Unfallursache.“

Schuldverhältnisse eindeutig benennen: Da viele Gewaltopfer sich selbst die Schuld geben und sich schämen, können Formulierungen, die die Unrechtmäßigkeit des Widerfahrenen betonen, hilfreich sein („Niemand hat ein Recht, Sie körperlich und psychisch zu verletzen.“)

Eigene Handlungsperspektiven aufzeigen und stärken: Viele Gewaltopfer erleben sich als hilf- und wehrlos, ohnmächtig einer Situation ausgesetzt, die sie nicht beeinflussen können. Hier kann im Gespräch der Hinweis auf die eigenen Handlungsmöglichkeiten (Empowerment) und die rechtlichen Rahmenbedingungen hilfreich sein.

Entscheidungsdruck vermeiden: Häusliche Gewalt ereignet sich in Beziehungen mit meist asymmetrischen Machtverhältnissen. Viele Gewaltopfer sind oder erleben sich vor allem als abhängig. Die Ablösung aus einer abhängigen Beziehung ist aber oft ein langer Weg. Diese Ablösung sofort zu erreichen oder gar durchzusetzen, stellt für alle Beteiligten eine Überforderung dar. Ein Entscheidungsdruck auf das Gewaltopfer, sich sofort vom Täter bzw. der Täterin zu trennen, sollte dringlich vermieden werden. Einzige Ausnahme: Es besteht eine akute Gefährdung für das Gewaltopfer. Dann haben Sofortmaßnahmen zum Schutz des Gewaltopfers Vorrang, allenfalls unter Einschaltung von Polizei und Behörden.

Gerichtsfest dokumentieren: Möglicherweise wird die Dokumentation der medizinischen Befunde (zum Beispiel bei einer Erstuntersuchung nach Vergewaltigung) später in einem Gerichtsverfahren verwendet, daher ist es wichtig, entsprechende rechtsmedizinische Standards einzuhalten (Fotodokumentation, Asservate).

Folgekontakte anbieten: Da häusliche Gewalt eine hohe Wiederholungshäufigkeit hat, ist es hilfreich, aktiv Folgekontakte anzubieten – auch unter dem Aspekt des Aufbaus einer vertrauensvollen Beziehung.

Interprofessionelle Zusammenarbeit: Interventionen bei häuslicher Gewalt erfordern interprofessionelle Zusammenarbeit. Die Kenntnis der lokalen Netzwerkakteure (Frauenhaus, Ansprechpartner bei der Polizei, Jugendamt und so weiter ist essenziell, auch um Patientinnen und Patienten entsprechend zu beraten.

Weisen Befunde bei der Untersuchung von Kindern auf Gewalteinwirkungen hin, ist die Ärztin bzw. der Arzt verpflichtet, zum Schutz des Kindes aktiv zu werden. Wichtige Handlungsschritte zum Kinderschutz sind in Leitfäden der Landesärztekammern dargestellt, beispielsweise im Ärztlichen Leitfaden Kinderschutz, Niedersachsen (DSKB, 2013) oder in der Kinderschutzleitlinie (Kinderschutzleitlinienbüro 2019).


Good Practice - Umgang mit schwierigen Emotionen bei häuslicher Gewalt

Mitwirkende:

Andrea Baumann (Ärztin), Eva-Marianne Kraiss (Schauspielerin)

Beschreibung:

Eine Patientin wird wegen Schlafstörungen bei ihrer Hausärztin vorstellig. Auslösend für die Beschwerden ist häusliche Gewalt, deren Mitteilung der verängstigten und sich schämenden Patientin schwer fällt. Im Gespräch wird der Umgang mit Emotionen (NURSE-Modell) beispielhaft demonstriert. .

Quelle

Creative Commons, Heinrich-Heine-Universität, Düsseldorf


 
 
Literatur
  • Coker A. L. et al.: Physical and Mental Health Effects of Intimate Partner Violence for Men and Women. American Journal of Preventive Medicine. 2002; 23: 260–8.
  • DKSB: Ärztlicher Leitfaden Kinderschutz, 2013 unter: www.bundesaerztekammer.de/fileadmin/user_upload/_old-files/downloads/LeitfadenKinderschutzNs2013.pdf [Zugriff am 12.02.2023]
  • Feder G. S., Hudson M., Ramsay J., Taket A. R.: Expectations and experiences when they encounter health care professionals: a meta-analysis of qualitative studies. Arch Intern Med. 2006; 166(1): 22–37.
  • Kinderschutzleitlinienbüro: AWMF S3+ Leitlinie Kindermisshandlung, -missbrauch, -vernachlässigung unter Einbindung der Jugendhilfe und Pädagogik (Kinderschutzleitlinie). Langfassung 1.0, 2019, AWMF-Reg.Nr. 027–069.
  • Olive P.: Care for emergency department patients who have experienced domestic violence: a review of the evidence base. Journal of Clinical Nursing. 2007; 16(9): 1736–48.
  • Selg H., Mees U., Berg D.: Psychologie der Aggressivität. 2. Auflage. Hogrefe, Göttingen 1997.
  • WHO: Umgang mit Gewalt in Paarbeziehungen und mit sexueller Gewalt gegen Frauen. Leitlinie der WHO für Gesundheitsversorgung und Gesundheitspolitik. Signal e. V., Berlin 2014.

 

3.8. Ansprechen heikler Themen: Alkoholkonsum

Das Ansprechen heikler Themen verlangt das Überschreiten von Hemmschwellen, unabhängig davon, ob über Sexualität, Sterben oder über Sucht gesprochen wird. Diese Themen haben etwas Privates, Intimes, sodass es einer ‚Erlaubnis‘ der / des Betroffenen bedarf, sie ansprechen zu dürfen. Fühlen sich Patientinnen und Patienten überrumpelt, werden sie sich schützen und verschließen. Daher sind besonders die vertrauten Hausärztinnen und Hausärzte geeignet, sich unter Respekt vor ihren individuellen Eigenheiten in der Problemsphäre der Patientinnen und Patienten zu bewegen.

Wie viel ist zu viel?

Nach aktuellen epidemiologischen Daten konsumiert die Mehrheit der erwachsenen Deutschen keinen Alkohol oder betreibt einen risikoarmen Alkoholkonsum (DHS, 2022). Von medizinischer beziehungsweise psychiatrischer Relevanz sind der riskante, der schädliche und der abhängige Alkoholkonsum. Der riskante Konsum (12,6 Prozent der erwachsenen Bevölkerung in Deutschland; DHS, 2022) betrifft einen chronischen, (nahezu) täglichen Alkoholkonsum, der das langfristige Risiko körperlicher Schäden, zum Beispiel einer Leberzirrhose, erhöht, aber zum Zeitpunkt der Diagnose noch nicht zu negativen körperlichen, psychischen oder sozialen Konsequenzen geführt hat, sodass keine alkoholbezogene psychische Störung wie Abhängigkeit und schädlicher Gebrauch diagnostiziert werden kann. Riskanter Konsum ist definiert als ein täglicher Konsum von mehr als 10 –12 Gramm reinen Alkohols bei Frauen beziehungsweise 20 – 24 Gramm bei Männern. Dies entspricht einem beziehungsweise zwei Standardgetränken. Ein Standardgetränk umfasst zum Beispiel 0,3 l Bier oder 0,1 l Wein und enthält etwa 10 bis 12 Gramm Reinalkohol. Rauschtrinken wird definiert als vier Standardgetränke oder mehr bei einer Gelegenheit bei Frauen, fünf Standardgetränke oder mehr bei Männern.

Beim schädlichen Alkoholkonsum (früher Alkoholmissbrauch genannt; 2,8 Prozent der erwachsenen Bevölkerung in Deutschland beziehungsweise 1,4 Millionen Personen; DHS, 2022) ist ein Schaden für die körperliche oder psychische Gesundheit eingetreten. Die Kriterien des Abhängigkeitssyndroms sind allerdings nicht erfüllt. Beim abhängigen Alkoholkonsum (siehe oben 3,1 Prozent der erwachsenen Bevölkerung beziehungsweise 1,6 Millionen Personen) schließlich bestanden nach ICD-10 (F.10.2) in den letzten zwölf Monaten vor Diagnose Symptome der psychischen Abhängigkeit, wie heftiges Verlangen nach Alkoholkonsum oder Verlust der Kontrolle über den Zeitpunkt des Konsums oder über die konsumierte Menge beziehungsweise Symptome der physischen Abhängigkeit wie das Auftreten von Entzugsbeschwerden bei Stopp des Konsum oder die Toleranzentwicklung, das heißt die Notwendigkeit aus Sicht der Betroffenen, die Alkoholdosis zu steigern, um den erwünschten psychotropen Effekt zu erzielen. Entzugsbeschwerden und Toleranzentwicklung sind Folge der Adaptation des Gehirns an die chronische Aufnahme von Alkohol. Fragebogen wie der AUDIT helfen bei der Einteilung des Alkoholproblems (S3-Leitlinie, 2021); sie berücksichtigen neben der Menge an konsumiertem Alkohol die sozialen und psychischen Konsequenzen des Trinkens.

Epidemiologie, Folgen und Bedeutung des übermäßigen Alkoholkonsums

In Deutschland sind 1,6 Millionen Personen alkoholabhängig (DHS, 2022). Alkoholabhängigkeit ist eine chronische psychiatrische Erkrankung, die mit einer hohen genetischen Vorbelastung einhergeht und zu gesundheitlichen Schäden, zu Problemen in der Familie und am Arbeitsplatz führt. Zudem gibt es schwerwiegende Folgen des Alkoholkonsums für die Gesellschaft als Ganzes (Verkehrsunfälle, Straftaten, Arbeitsausfall). Der Alkoholkonsum verursacht hohe direkte und indirekte Kosten von geschätzt 57,04 Milliarden Euro/Jahr für die Volkswirtschaft in Deutschland (DHS, 2022). Zudem sind etwa 80 – 90 Prozent der Alkoholabhängigen zum gegebenen Zeitpunkt nicht in einer suchtspezifischen Behandlung („treatment gap“). Die Verringerung alkoholbedingter Schäden und die Prävention gehören heute zu den wichtigsten gesellschaftlichen Herausforderungen.

Behandlung

Bei alkoholabhängigen Patientinnen und Patienten ist eine spezialisierte Behandlung indiziert, die insbesondere Therapieelemente wie die Entzugsbehandlung, die Entwöhnungsbehandlung und die Nachsorge zur Aufrechterhaltung des abstinenten Zustandes umfasst. Bei der (meist stationären) qualifizierten Entzugsbehandlung wird das Entzugssyndrom medikamentös gelindert. Begleitend werden etwaige psychische oder körperliche Erkrankungen diagnostiziert und eine Behandlung eingeleitet. Patientinnen und Patienten werden motiviert, eine Behandlung im Anschluss an den Entzug aufzunehmen, um ein abstinentes Leben aufzubauen. Dies kann eine mehrmonatige stationäre Entwöhnungsbehandlung in einer Suchtfachklinik sein. Inzwischen gibt es aber auch ambulante psychiatrische Angebote zur abstinenzorientierten Behandlung, zum Teil unter Einsatz von abstinenzstützenden Medikamenten wie Acamprosat, Naltrexon und Nalmefen.

Insbesondere die Hausärztin beziehungsweise der Hausarzt hat eine Schlüsselrolle, wenn es darum geht, eine Alkoholproblematik anzusprechen und eine Behandlung anzuregen. Es gibt in Deutschland ein breites und vielfältiges Netz an Suchtberatungsstellen, Stationen zur qualifizierten Entzugsbehandlung sowie von Suchtfachkliniken. An vielen Orten traten in den vergangenen Jahren ambulante Therapieangebote hinzu. Wenn es eine Ärztin oder ein Arzt schafft, mittels Kurzinterventionen Alkoholabhängige zum Aufsuchen einer Beratungsstelle beziehungsweise einer suchtspezifischen Behandlung zu motivieren, ist schon sehr viel erreicht. Die Hausärztin oder der Hausarzt sollte wissen und auch der betroffenen Person mitteilen, dass der Behandlungserfolg bei Alkoholkranken in einer spezialisierten Klinik weit besser ist, als gemeinhin angenommen. Dies stimmt vor allem für Patientinnen und Patienten mit einer Anstellung und einem erhaltenen sozialen Netz. Entsprechende Nachuntersuchungen zeigen Erfolgsquoten (Abstinenzrate) von etwa 60 Prozent 12 Monate nach der Entwöhnungsbehandlung (Kiefer et al., 2022). Die Aufgabe der Hausärztin oder des Hausarztes besteht hier in der Unterstützung und Ermutigung, diesen langfristigen, aber erfolgversprechenden Weg aufzunehmen.

Nach der aktuellen AWMF-Leitlinie zur Behandlung alkoholbezogener Störungen ist die Wirksamkeit von Kurzinterventionen bei der großen Gruppe derjenigen, die zwar (noch) nicht abhängig sind, aber einen riskanten Konsum aufweisen, mit hoher Evidenz belegt; ihre Durchführung durch Behandelnde wird empfohlen (S3-Leitlinie, 2021). Ausgehend von einem körperlichen Befund, einem Laborbefund oder einem Screening-Fragebogen versuchen Behandelnde, mit Patientinnen und Patienten im Sinne einer Unterstützung bei einer gesundheitsfördernden Lebensführung über ihren Alkoholkonsum ins Gespräch zu kommen.Auch können Angehörige den Anlass liefern, über Alkoholkonsum zu sprechen. Daher kann der Einbezug der Familie oder von Bekannten hilfreich sein. Dem steht allerdings entgegen, dass Familien oft aus Scham die Abhängigkeit eines Familienmitgliedes verbergen und alles daransetzen, dieses Problem nicht publik werden zu lassen.

Vorgehen

Oft werden Hausärztinnen und Hausärzte nicht primär wegen Alkoholproblemen aufgesucht, sondern wegen körperlicher Beschwerden, die aber durchaus Folge des übermäßigen Alkoholkonsums sein können. Im Zusammenhang mit der Abklärung dieser Beschwerden kann dann der Alkoholkonsum angesprochen werden. Falls aus Sicht der Ärztin oder des Arztes Anhalt für eine Alkoholproblematik besteht, muss die Ärztin oder der Arzt sich für ein entsprechendes Gespräch genügend Zeit reservieren. Die Patientin beziehungsweise der Patient muss die Gelegenheit haben, sich zu erklären, die Ärztin bzw. der Arzt muss die Möglichkeit haben, Rückfragen zu stellen und weitere Schritte anzubieten. Die Diagnostik und Einteilung der Schwere des Alkoholkonsums verfolgen zwei Ziele: zum einen die Exploration des aktuellen Status und zum anderen die Erfassung der Stufen der Bereitschaft (Motivation), ein allfälliges Alkoholproblem zum Thema zu machen und sich gegebenenfalls auf einen Veränderungsprozess einzulassen (DiClemente und Prochaska, 1998).

Die Ärztin oder der Arzt kann ein Gespräch so einleiten:
„Sie haben mir einige wichtige Informationen zu Ihrem Gesundheitsverhalten wie körperliche Aktivitäten, Trink- und Rauchgewohnheiten gegeben. Das ist nicht selbstverständlich, vielen Dank! Ich möchte mit Ihnen kurz darüber reden. Einverstanden?“

Für das ärztliche Gespräch in der Praxis eignen sich am ehesten Kurzinterventionen nach den Gesprächsprinzipien des „motivational interviewing“ (siehe Rollnick et al., 1999). Solche Kurzinterventionen helfen der Ärztin oder dem Arzt herauszufinden, inwieweit Patientinnen und Patienten motiviert sind, ihr Verhalten zu ändern, und wie sie dabei am besten unterstützt werden könnten. Im Gegensatz zu einer paternalistischen, unter Umständen als bevormundend erlebten ärztlichen Kommunikation, die Patientinnen und Patienten quasi vorschreibt, was sie zu tun haben, setzt das „motivational interviewing“ (MI) auf die Aktivierung der Ressourcen der Patientinnen und Patienten. Zu den Gesprächsprinzipien des MI gehört die Annahme, dass die Patientin oder der Patient grundsätzlich zu einer angemessenen Verhaltensänderung in der Lage ist (self-efficacy) und hierfür selbst die Verantwortung (responsibility) trägt. Hierbei können Ärztinnen und Ärzte Veränderungsprozesse anstoßen, indem sie – ohne die Patientin oder den Patienten entlarven oder überführen zu wollen – medizinische Befunde, zum Beispiel Laborwerte, in Zusammenhang mit dem Alkoholkonsum stellen (Feedback) und die betroffene Person zum Nachdenken über Schlussfolgerungen aus solchen Befunden für ihren Alkoholkonsum anregen. Die Ärztin oder der Arzt kennt die regionalen Hilfsangebote und kann ihre Besonderheiten erläutern. Das Gespräch ist getragen von einem einfühlenden Verständnis (empathy) für die Lebenslage der Patientin oder des Patienten und die Schwierigkeiten einer Verhaltensänderung. Letztlich bestimmt jedoch die betroffene Person selbst, wie viel und welche Verhaltensänderungen sie angehen möchte. Der Arzt beziehungsweise die Ärztin prüft hierbei, in welchem Veränderungsstadium („Stages of Change“) sich die betroffene Person befindet, was wiederum die Ziele des Gespräches bestimmt und unnötige Interventionen, zum Beispiel in Hinblick auf die aktuelle Aufnahme einer abstinenz-orientierten Behandlung, vermeidet, wenn der Patient bzw. die Patientin im Moment dafür gar nicht zugänglich ist.

Gibt eine betroffene Person klar zu verstehen, dass sie auf das Beratungsangebot (im Moment) nicht eingehen will, muss der Arzt beziehungsweise die Ärztin dies respektieren. Auch dann ist diese Intervention aber nicht sinnlos, da der Patient bzw. die Patientin die Erfahrung machen konnte, dass die Fachperson bereit ist, das Thema Alkohol anzusprechen. Ein weiterer wichtiger Grundsatz besteht darin, Rückfälle nicht als Versagen zu verstehen – weder ärztlich noch auf Betroffenenseite. Rückfälle sind vielmehr Teil des Veränderungsprozesses und lassen sich für einen erneuten Anfang mit entsprechender kluger Anpassung nutzen.

Da Motivationsgespräche länger dauern können, lohnt es sich, die betroffene Person zu einer Randstunde einzubestellen. Zu vermeiden sind ineffiziente Konsultationen, in denen von ärztlicher Seite herabsetzende Fragen gestellt oder beschämende Ratschläge gegeben werden. Oft geht es darum, deutlich zu machen, dass Arzt / Ärztin und Patient / Patientin das Problem erkannt haben, dass das Problem explizit und unmissverständlich beim Namen genannt wird und dass die Fachperson ihre Bereitschaft, darauf einzugehen, wirklich ernst meint.

Aktuell wird diskutiert, ob der Wechsel von der ausschließlich abstinenzorientierten Behandlung zum „harm reduction approach“ (Schadensminderung) vertretbar ist. Sinnvoll scheint dies vor allem bei alkoholabhängigen Patientinnen und Patienten, die immerhin bereit sind, an einem kontrollierten (reduzierten) Konsum zu arbeiten, aber sich auf das Ziel der Abstinenz aktuell nicht ausrichten wollen. Insbesondere in Hinblick auf die körperliche Gesundheit und soziale Probleme im Zusammenhang mit übermäßigem Alkoholkonsum ist ein kontrollierter Konsum bereits von Bedeutung. Medikamente wie Naltrexon oder Nalmefen, also Opioidrezeptor-Antagonisten, deren Wirksamkeit vorrangig für die Reduktion des Konsums belegt ist, könnten diesem Ansatz mehr Bedeutung verleihen. Zudem wird kontrovers diskutiert, ob das kontrollierte Trinken für Alkoholabhängige nur ein Zwischenstadium ist, auf das später dann der Entscheid zur Abstinenz folgt beziehungsweise der Rückfall in den abhängigen Konsum, oder ob es Alkoholabhängigen gelingt, langfristig einen kontrollierten Konsum zu praktizieren. Auch wenn es nur ein Zwischenstadium wäre, kann das Angebot von therapeutischen Hilfen, bei denen die Betroffenen sich nicht zum Anfang der Behandlung schon zum Abstinenzziel verpflichten müssen, eine Möglichkeit sein, den Anteil der Alkoholabhängigen in Behandlung zu erhöhen. Kontrolliertes Trinken besteht zum Beispiel darin, auf Alkoholkonsum an bestimmten Tagen oder in bestimmten Situationen zu verzichten oder die Trinkmenge pro Tag zu reduzieren.

Ziel der hier vorgestellten Vorgehensweise ist es, eine therapeutische Umgebung herzustellen, die es Patientinnen und Patienten erlaubt, ihre Gesundheit selbstverantwortlich in die Hand zu nehmen. Besteht seitens der Patientinnen und Patienten der Wunsch nach Verhaltensänderungen, sollten Ärztinnen und Ärzte mit allen Mitteln unterstützend eingreifen. Doch auch wenn Patientinnen und Patienten aktuell Veränderungen ablehnen, sollten diese Entscheidungen respektiert und Betroffene als Personen akzeptiert werden. Gerade hiermit schaffen Ärztinnen und Ärzte in der ärztlichen Praxis das therapeutische Klima, das es Patientinnen und Patienten erlaubt, Konflikte und Schwierigkeiten anzusprechen. Dieser gegenseitige Respekt zwischen Arzt/Ärztin und Patient/Patientin führt dann auch im schwierigen Bereich der Suchtbehandlung eher zu einer befriedigenden und erfolgversprechenden Dialogbereitschaft und erleichtert so eine Verhaltensänderung.

Literatur
  • DHS (2022) Jahrbuch Sucht 2022. Pabst, Lengerich.
  • Di Clemente C., Prochaska J.: Toward a comprehensive, transtheoretical model of change: Stages of Change and addictive behaviors. In: Miller W R, Heather N (Hrsg.): Treating addictive behaviors. 2nd edn. Plenum, New York 1998.
  • Kiefer F., Koopmann A., Müller C. A., Mann K. F., Heinz A.: Alkoholabhängigkeit. In: Voderholzer U., Hohagen F. (Hrsg.) Therapie psychischer Erkrankungen – State of the Art. Urban & Fischer, München Jena, 17. Aufl., S. 45–59; 2022
  • Rollnick S., Mason P., Butler Ch.: Health Behaviour Change – a Guide for Practitioners. Churchill Livingstone, Philadelphia 1999.
  • S3-Leitlinie „Screening, Diagnose und Behandlung alkoholbezogener Störungen“ AWMF-Register Nr. 076-001; Stand 01.01.2021. www.awmf.org

 

3.9. Gespräch mit Angehörigen von kranken Kindern

Gespräche mit Eltern von kranken Kindern weisen gegenüber anderen ärztlichen Gesprächen einige Besonderheiten auf. In der Regel handelt es sich um Mehrpersonengespräche, an denen die Ärztin bzw. der Arzt, die Eltern, das Kind und evtl. weitere Gesundheitsfachleute anwesend sind. Das verlangt von der Ärztin bzw. vom Arzt die Fähigkeit, sich gleichzeitig und flexibel auf mehrere Menschen mit unterschiedlichen Wünschen, Ansprüchen und kommunikativen Fertigkeiten einzustellen und zudem auch das Kind in die Gespräche miteinzubeziehen. Dafür muss es der Ärztin oder dem Arzt gelingen, eine Beziehung zum Kind aufzubauen und die Gesprächsführung an die kommunikative Kompetenz des Kindes anzupassen. Der Umstand, dass nicht die Patientin oder der Patient selbst, sondern die Eltern für ihr minderjähriges Kind sowohl Ansprechpersonen als auch Entscheidungstragende für medizinische Maßnahmen sind, macht die Zusammenarbeit komplex und störungsanfällig. Auch die Tatsache, dass die Angehörigen für ihre Kinder Entscheidungen treffen (müssen), die möglicherweise von der Ärztin bzw. vom Arzt nicht gutgeheißen werden (zum Beispiel Verweigerung einer notwendigen medizinischen Maßnahme), kann zu schwierigen Gesprächssituationen führen und in der Folge schlimmstenfalls Fragen nach Kinderschutzmaßnahmen aufwerfen.

Für eine gute Zusammenarbeit ist es deshalb wichtig, gemeinsam mit der Familie ein von allen akzeptiertes und stimmiges Krankheitsverständnis zu erarbeiten und die therapeutischen Maßnahmen stets zu kommunizieren. Nicht das kranke Kind ist die Patientin bzw. der Patient, sondern die Familie. Die Erkrankung eines Kindes wirkt sich immer auf die ganze Familie aus und beeinflusst die Paar- und Elternbeziehung, aber auch die Beziehung zu gesunden Geschwistern. Die Beeinträchtigung im Befinden von Geschwistern wird jedoch häufig nicht ausreichend wahrgenommen. Die Ärztin oder der Arzt sollte deshalb immer aktiv danach fragen, wie sich die Erkrankung auf die Familie auswirkt und wie die Geschwister mit der Erkrankung zurechtkommen.

Ob das Gespräch von Beginn an zusammen mit dem Kind und den Angehörigen geführt wird, ob die Angehörigen mit dem Kind zunächst alleine über die Erkrankung sprechen oder die Ärztin beziehungsweise der Arzt zuerst mit dem Kind alleine spricht, muss vorher zusammen mit den Angehörigen geklärt werden. In einer Arbeit über Eltern von Kindern mit akuter lymphoblastischer Leukämie wünschen sich fast alle Eltern, ohne Beisein der Kinder mit Ärztinnen und Ärzten sprechen zu können, da sie sich dann besser konzentrieren können und da sie selbst entscheiden wollen, wie sie ihrem Kind die Informationen weitergeben.

Mit zunehmendem Alter wird die Autonomie des Kindes zu einem zentralen Thema. Ab etwa zwölf Jahren sind Jugendliche urteilsfähig und haben ein Entscheidungsrecht für persönliche Angelegenheiten. Sie müssen deshalb in Entscheidungen miteinbezogen werden. Damit stellt sich auch die Frage, wie weit die Eltern über das ärztliche Tun an ihren Kindern (mit)bestimmen dürfen. Das Eltern-Arzt-Patienten-Verhältnis wird komplexer und damit auch störungsanfälliger, weil strittig sein kann, welche Entscheidungen der Jugendliche selbst treffen darf. Auch die konkrete Auslegung der Schweigepflicht wird nun zentral, da sie die Frage berührt, auf welche Informationen über ihre Kinder Angehörige Anspruch haben.

Das schwierige Gespräch mit den Eltern

Das Gespräch mit den Eltern ist meist unkompliziert, wenn eine leicht erkennbare und gut behandelbare Erkrankung vorliegt. Darüber informiert zu werden, dass eine schwere Erkrankung des Kindes vorliegt oder ein langfristig fataler Verlauf zu erwarten ist, stellt jedoch für Angehörige und pädiatrische Fachkräfte eine große Belastung dar.

Im Prinzip gelten die gleichen Empfehlungen zum Überbringen schlechter Nachrichten wie in der Erwachsenenmedizin (Kapitel 3.3.). Erschwerend kommt bei Gesprächen mit Eltern schwer kranker Kinder hinzu, dass sie sich auf der Suche nach Erklärungen und Ursachen oft Vorwürfe machen, selbst schuld zu sein, etwa Krankheitszeichen zu spät erkannt zu haben. Sie suchen nicht nur bei sich, sondern auch beim anderen Elternteil oder anderen Beteiligten nach Schuldigen. Ärztinnen und Ärzte sind also mit vielfältigen Ängsten, Befürchtungen und Fragen konfrontiert und sollten sich daher – genauso wie in der Erwachsenenmedizin – genau überlegen, was sie zu einem bestimmten Zeitpunkt ansprechen wollen.

Bei der Vermittlung von Informationen sollte berücksichtigt werden, dass viele Angehörige durch die Erkrankung ihres Kindes emotional so aufgewühlt und betroffen sind, dass es ihnen kaum gelingt, sich auf das Gespräch einzustellen, zuzuhören und die Informationen aufzunehmen.

Eltern krebskranker Kinder artikulieren unterschiedliche Anliegen gegenüber verschiedenen Berufsgruppen: Von behandelnden Ärztinnen und Ärzten erhoffen sie sich vor allem ehrliche und kompetente Information, von Pflegenden eher emotionale Unterstützung durch explizites Aufgreifen von Sorgen und Trauer. Aus der Sicht der Eltern helfen ihnen beide Berufsgruppen auf ihre je eigene Art, was für die gängige Praxis spricht, sich in der Krebsbehandlung auf multiprofessionelle Teams zu verlassen.

Das Gespräch mit Kindern und Jugendlichen

Kinder haben das Recht auf altersgemäße Information und Aufklärung über alle diagnostischen und therapeutischen Schritte sowie den zu erwartenden Verlauf der Erkrankung. Auch wenn das Kind noch über wenig verbale Kompetenz verfügt, sollte immer mit ihm gesprochen werden. Ab einem Alter von etwa sieben Jahren können Kinder in medizinische Entscheidungen miteinbezogen werden. Die Ärztin oder der Arzt sollte das Kind wahrheitsgetreu über seine Erkrankung informieren. Dies fällt vielen Ärztinnen und Ärzten schwer, weil sie nicht wissen, wie sie die (komplexe) Krankheit erklären sollen und/oder sich vor möglichen Fragen fürchten. Aus falsch verstandenem Schonverhalten die Kinder nicht oder gar falsch zu informieren, ist jedoch nicht hilfreich. Falschinformationen und Schweigen sind für das Kind schlimmer als Reden, nimmt es doch meist genau wahr, wenn etwas nicht stimmt, und macht sich entsprechend seine eigenen Gedanken und Fantasien. Diese sind oft bedrohlicher als die Realität. Es kommt zu falschen Schlüssen und Annahmen, etwa in dem Sinne, dass es selbst für die Erkrankung verantwortlich ist. Jede Falschinformation oder Notlüge untergräbt das Vertrauen und fördert das Misstrauen gegenüber Ärztinnen beziehungsweise Ärzten und Eltern, was eine weitere Behandlung schwierig macht. Eine altersgerechte Information über die Erkrankung gibt dem Kind die Möglichkeit, Fragen zu stellen und sich Unterstützung zu holen.

Zeichnungen und Bücher zur Illustration sind bei jüngeren Kindern zur Information wichtig. Ein gutes Beispiel, wie Kindern die Angst vor dem Arztbesuch genommen werden kann, ist das von Kindern selbst verfasste „Mutmachbuch für Krankenhaus und Arztpraxis“, das von der Ärztekammer Nordrhein gemeinsam mit der AOK Rheinland/Hamburg herausgegeben worden ist.

Ärztinnen und Ärzte sollten bei Kindern immer rückfragen, was sie verstanden haben. Suggestive Fragen wie „Du hast es doch verstanden?“ helfen nicht weiter, weil Kinder gegenüber Autoritätspersonen in der Regel zustimmen, auch wenn sie das Gesagte nicht verstanden haben. Das Kind sollte beim Arztgespräch vor den Eltern gefragt werden, was es über die Erkrankung oder Behandlung weiß. Dabei soll es selbst zu Wort kommen und die Beschwerden in seinen eigenen Worten schildern. Die ärztliche Fachperson kann sich so eine Vorstellung darüber machen, welche konkreten Krankheitsvorstellungen das Kind hat, um sich im anschließenden Gespräch an das Vorwissen und die Krankheitsvorstellungen des Kindes anzupassen. In vielen Fällen redet die Fachperson nach der Begrüßung jedoch nicht mehr direkt mit dem Kind, sondern nur noch mit den Eltern über das Kind. Antwortet das Kind jeweils nicht sofort, greifen oft die Eltern ein und antworten stellvertretend für das Kind. Hier ist es wichtig, die Eltern zu bitten, sich zurückzuhalten und dem Kind zu signalisieren, dass man daran interessiert ist, dass es die Fragen selbst beantwortet.

Grundregeln für das Gespräch mit dem Kind:

  • Sprache dem Alter und Entwicklungsstand des Kindes anpassen.
  • Das Kind selbst über seine Beschwerden reden lassen.
  • Dem Kind Zeit geben, im eigenen Tempo zu sprechen.
  • In kurzen, klaren, einfachen Sätzen sprechen; Fachausdrücke vermeiden.
  • Wichtige Informationen mehrfach geben, aber Eltern und Kind nicht mit Informationen überhäufen.
  • Sich erzählen lassen, was das Kind verstanden hat.
  • Keine Suggestivfragen stellen.
  • Nicht nur reden, sondern das Gesagte auch visualisieren (Zeichnungen, Illustrationen und so weiter).
  • Der Krankheit einen Namen geben (zum Beispiel Krebs).
  • Raum für Fragen lassen; zu Fragen ermutigen, aber nicht drängen.
  • Es muss nicht alles beim ersten Gespräch im Detail erklärt werden.
  • Was gesagt wird, muss wahr sein.
  • Das Kind von möglichen Schuldgefühlen und Selbstvorwürfen entlasten.
  • Dem Kind versprechen, dass es über alles Wichtige informiert werden wird.
  • Alle Fragen wahrheitsgetreu beantworten. Kinder erwarten ehrliche Antworten auf ihre Fragen.
  • Dazu stehen, wenn für eine Frage keine sichere Antwort möglich ist (zum Beispiel „Werde ich wieder ganz gesund?“, „Muss ich sicher nicht sterben?“).

Eine zeitliche Limitierung der Gespräche nach Alter der Kinder ist sinnvoll. Empfehlenswert ist für 3- bis 6-Jährige eine Gesprächszeit von etwa 10 bis 15 Minuten, für 6- bis 8-Jährige 20 Minuten, für über 8-Jährige etwa 30 Minuten.


Good Practice - Gespräch mit Angehörigen von kranken Kindern

Mitwirkende:

Dr. med. Hans-Martin Bosse (Arzt), Charlotte Welling (Schauspielerin)

Beschreibung:

Gespräch eines Kinderarztes mit der Mutter des 3 Jahre alten Patienten Fabian, der unter unklarem Fieber leidet. In dem Angehörigengespräch werden wichtige anamnestische Informationen zielgerichtet erhoben und die besorgte Mutter informiert und beruhigt.

Quelle

Creative Commons, Heinrich-Heine-Universität, Düsseldorf


Literatur
  • Ärztekammer Nordrhein / AOK Rheinland/Hamburg: Mutmachbuch für Krankenhaus und Praxis unter: https://www.gesundmachtschule.de/fileadmin/user_upload/gesundmachtschule/images/Wettbewerbsergebnisse/Gluecksbuch_i.pdf
  • Langer T.: Das Gespräch zwischen Patienten, Eltern und Arzt in der Pädiatrie. In: Langer T., Schnell M. W. (Hrsg.): Das Arzt-Patient/Patient-Arzt-Gespräch. Marseille-Verlag, München 2009. S. 43–52.
  • Sisk, B. A., J. Mack J. W., Ashworth R., DuBois J. (2018). Communication in pediatric oncology: state of the field and research agenda. Pediatric blood & cancer 65(1): e26727.
  • Stein, A., Dalton L., Rapa E., Bluebond-Langner M., Hanington L., Stein K. F., Ziebland S., Rochat T., Harrop E., Kelly B. (2019).
  • Communication with children and adolescents about the diagnosis of their own life-threatening condition. The Lancet 393(10176): 1150–1163.
  • Tates K., Meeuwesen L.: Doctor-parent-child communication. A (re)view oft the literature. Social Science and Medicine. 2001; 52: 839–51
  • Tates K., Meeuwesen L., Elbers E., Bensing J.: I’ve come for this throat’: roles and identities in doctor-parent-child communications. Child Care, Health and Development. 2002; 28: 109-16.
  • Wassmer E., Minnaar G., Abdel Aal N. et al.: How do paediatricians communicate with children and parents? Acta Paediatrica. 2004; 93: 1501–6.

3.10. Gespräch mit Angehörigen von Patientinnen und Patienten mit Demenzerkrankungen

In Deutschland leben aktuell etwa 1,8 Millionen Menschen mit einer Demenzerkrankung.

Im Jahr 2050 werden es voraussichtlich 2,8 Millionen Menschen sein. 69,3 Prozent der hochaltrigen Betroffenen leben daheim, 18,6 Prozent werden in einem Alten- oder Pflegeheim betreut, der Rest in alternativen Wohnformen wie Mehrgenerationenhäuser und Wohnpflegegruppen. Demenz betrifft in hohem Maß auch die Angehörigen. Bei den daheim lebenden Erkrankten übernehmen sie mehrheitlich die Verantwortung für Pflege und Betreuung. Hauptpflegepersonen sind meistens enge Familienangehörige, überwiegend Frauen, mehr als die Hälfte selbst in einem fortgeschrittenen Alter.

Betreuenden Angehörigen von Menschen mit Demenz fällt es oft schwer, die bei Partnern / Partnerinnen oder Eltern erkannten Probleme in der ärztlichen Praxis anzusprechen. Häufig geschieht dies erst, wenn psychiatrische Begleitsymptome wie Aggressivität, Weglauftendenz, Tag-Nacht-Umkehr, Halluzinationen oder Wahnvorstellungen das Zusammenleben beeinträchtigen.

Es gehört daher zu den hausärztlichen Aufgaben, diskreten Hinweisen auf kognitive Störungen vonseiten der Betroffenen oder ihrer Angehörigen nachzugehen.

Pflegende Angehörige von Menschen mit Demenz leiden vermehrt unter psychischen und somatischen Erkrankungen. Man weiß, dass Interventionen, die sich rein auf die Vermittlung von Wissen konzentrieren, Wohlbefinden und Lebensqualität der Angehörigen kaum verbessern. Viel effektiver sind kognitiv-verhaltenstherapeutisch ausgerichtete Interventionen in der Absicht, die Problemlösungskompetenz der Angehörigen zu stärken. Vorsichtig soll kommuniziert werden, dass sich vermeidende und regressive Copingstrategien (Wunschdenken, Resignation und Klagen) ungünstig auswirken und zu vermehrter Depressivität führen. Hingegen können folgende Verhaltensweisen für Angehörige von Menschen mit Demenz im Sinne einer positiven, belastungsreduzierenden und gesundheitsfördernden Bewältigung hilfreich sein: Entspannung, Information, Ablenkung, Distanzierung, Problemanalyse und -lösung, Akzeptanz, soziale Unterstützung, Veränderung der Lebenssituation, Neubewertung der Symptomatik und der Pflegesituation sowie Kontrollierbarkeit von Stressereignissen.

Vermitteln der Demenzdiagnose

Schon im Rahmen der hausärztlichen Abklärung empfiehlt es sich, neben der Anamnese mit der betroffenen Person selbst je nach Situation eine Fremdanamnese mit Angehörigen allein ohne die erkrankte Person zu erheben. Eine frühzeitige Diagnose sowie der Einsatz von nicht medikamentösen und evtl. auch medikamentösen Behandlungen vermag in der Regel die Lebensqualität der Betroffenen und deren Angehörigen zu verbessern, erlaubt eine sorgfältige Zukunftsplanung (zum Beispiel das Errichten von Patientenverfügungen und Notfallanordnungen) und kann Krisen und Folgeschäden verhindern. Bezugspersonen haben Gelegenheit, sich mit ihrer zukünftigen Rolle als Betreuende auseinanderzusetzen und sich auf die mit der Demenzerkrankung ihrer Angehörigen einhergehenden Veränderungen vorzubereiten. Diese Vorbereitung trägt nachweislich dazu bei, den Druck und die Belastung von Erkrankten und ihren Bezugspersonen zu verringern. Es ist deshalb auch nicht erstaunlich, dass 90 Prozent aller an einer Demenz erkrankten Menschen und Angehörigen die ihnen eröffnete Diagnose als Erleichterung empfinden. Für das eigentliche Diagnosegespräch soll die betroffene Person von einer Vertrauensperson begleitet werden; die Informationen sollen aber wenn immer möglich an den erkrankten Menschen allein gerichtet sein. Da Angehörige oftmals andere Fragen haben als Betroffene, können abschließend im Einverständnis mit der erkrankten Person Gespräche allein mit Angehörigen stattfinden.

Diagnosegespräch als Beginn einer Begleitung über einen längeren Zeitraum

Das Diagnoseeröffnungsgespräch soll als Anfang eines länger dauernden Prozesses betrachtet werden. Zumal die Aufnahmefähigkeit für die komplexen Gesprächsinhalte bei Betroffenen und Angehörigen begrenzt ist, soll im Verlauf der Erkrankung wiederholt auf die Natur, den Verlauf und die Prognose der Erkrankung, aber auch über die vorzukehrenden Maßnahmen eingegangen werden. Auch Empfehlungen für Beratungsstellen, Selbsthilfe- und Angehörigengruppen sind immer wieder zu geben, da sich die Bedürfnisse und die Bereitschaft, Hilfe anzunehmen, im Verlauf eines Krankheitsprozesses oft verändern.

Erleben und Akzeptieren des uneindeutigen Verlustes eines geliebten Menschen

Pauline Boss hat den Begriff des uneindeutigen Verlusts geprägt. Angehörige von Menschen mit Demenz erleben diesen Verlust auf der Beziehungsebene anhaltend: Auf der einen Seite ist die erkrankte geliebte Person noch da, auf der anderen Seite entschwindet sie jeden Tag ein wenig mehr. Dies führt zu einem Wechselbad der Gefühle. Angehörige fühlen Zuneigung und gleichzeitig Ablehnung; sie trauern und haben gleichzeitig den Wunsch nach vermehrter Freiheit und einem Leben mit weniger Belastungen. Mit geeigneten Fragetechniken gelingt es, diese Gefühle und Bedürfnisse der Angehörigen zu erfassen und ihnen zu ermöglichen, für sich neue Wege zu finden; in einer Partnerschaft geht es darum, die Realität einer Beziehung mit einem demenzbetroffenen Menschen zu akzeptieren und sich, wie Pauline Boss schreibt, aktiv für eine „genügend gute“ Beziehung zu entscheiden, auch wenn diese weniger als perfekt ist.

Literatur
  • Global status report on the public health response to dementia. Geneva: World Health Organization; 2021.
  • GBD 2019 Dementia Forecasting Collaborators. (2022). Estimation of the global prevalence of dementia in 2019 and forecasted prevalence in 2050: An analysis for the Global Burden of Disease Study 2019. The Lancet Public Health, 7, e105–e125.
  • Brijoux T, Zank S. D.: 80+ Kurzbericht. Auswirkungen kognitiver Einschränkungen (Demenz) auf Lebensqualität und Versorgung, Nummer 7 April 2022.
  • Ehrlich U, Kelle N.: Pflegende Angehörige in Deutschland: Wer pflegt, wo, für wen und wie? Zeitschrift für Sozialreform 2019, Jg. 65(2), S. 175–203.
  • Nowossadeck S., Engstler H., Klaus D.: Pflege und Unterstützung durch Angehörige, Report Altersdaten, (Bd. 1/2016), Berlin: Deutsches Zentrum für Altersfragen.
  • Lämmler G.: Hilfe beim Helfen: Angehörigenarbeit in Deutschland; in Bopp-Kistler I. Demenz – Fakten, Geschichten, Perspektiven. Rüffer & Rub 2016.
  • Gilhooly KJ, Gilhooly ML, Sullivan MP, McIntyre A, Wilson L, Harding E, Woodbridge R, Crutch S. A meta-review of stress, coping and interventions in dementia and dementia caregiving. BMC Geriatr. 2016 May 18; 16: 106
  • Wilz G, Gunzelmann T. Demenz und Angehörige in Wallesch CW und Förstl H.: Demenzen 2012: 382–387.
  • Bockstaller R.: Angehörigengruppen: Gemeinsam stark; in Bopp-Kistler I. Demenz – Fakten, Geschichten, Perspektiven. Rüffer & Rub 2016.
  • Schweizerische Akademie der Medizinischen Wissenschaften (SAMW): Medizin-ethische Richtlinien: Betreuung und Behandlung von Menschen mit Demenz. Bern: SAMW; 2017.
  • de Vugt ME, Verhey FR. The impact of early dementia diagnosis and intervention on informal caregivers. Prog Neurobiol. 2013; 110: 54–62.
  • Gruters AAA, Christie HL, Ramakers IHGB, Verhey FRJ, Kessels RPC, de Vugt ME. Neuropsychological assessment and diagnostic disclosure at a memory clinic: A qualitative study of the experiences of patients and their family members. Clin Neuropsychologist. 2020 Apr 17; 1–17.
  • Boss P.: Da und doch so fern – Vom liebevollen Umgang mit Demenzkranken. Rüffer & Rub 2014.
  • Bopp-Kistler I.: Einmal nach nirgendwo – die Perspektive der Angehörigen; in Bopp-Kistler I. Demenz – Fakten, Geschichten, Perspektiven. Rüffer & Rub 2016.
  • Kindle-Beilfuss C.: Fragen können wie Küsse schmecken. Systemische Fragetechniken für Anfänger und Fortgeschrittene. Carl Auer 2022.

3.11. Arbeiten mit Dolmetscherinnen und Dolmetschern

Patientinnen und Patienten, die nicht Deutsch oder ein gängiges ausländisches Idiom wie Englisch sprechen, können sich oft nicht verständlich machen und werden daher zum Teil nicht richtig verstanden. Mittlerweile ist gut etabliert, dass Sprachbarrieren die Qualität der gesundheitlichen Versorgung beeinträchtigen. Es ist auch klar, dass Dolmetscherinnen und Dolmetscher mit einer professionellen Ausbildung besser geeignet sind, ein Gespräch zwischen Patient / Patientin und Arzt / Ärztin zu übersetzen als Ad-hoc-Übersetzerinnen und -Übersetzer (etwa zufällig anwesendes Personal oder Familienangehörige).

Das Problem ist allerdings, dass professionelle Dolmetscherinnen und Dolmetscher nicht immer verfügbar und – wenn vorhanden – nicht immer finanzierbar sind. Dann stellt sich die Frage, wie zumindest grob abgeschätzt werden könnte, über welche Sprachkompetenz eine Patientin oder ein Patient verfügt. Was sicherlich nicht zielführend ist, sind Fragen – wo-möglich nach einer längeren Erklärungsphase der Fachperson – wie: „Haben Sie mich verstanden?“oder geschlossene, womöglich suggestive Fragen wie: „Sie nehmen das Marcumar seit 2 Jahren?“. Am ehesten lässt sich das tatsächliche Niveau sprachlicher Kompetenz einschätzen, wenn die betroffene Person gebeten wird, in freier Rede zusammenzufassen, was sie gerade gehört hat. Diese Art des Zurückmeldens des Verstandenen wird mit Teach Back bezeichnet; die wahrscheinlich am besten funktionierende Version geht so: „Wenn Sie gleich nach Hause kommen, wird Ihre Frau / Ihr Mann, …. Sie ja sicher fragen, was wir beide miteinander besprochen haben. Was werden Sie dann sagen?“ und dann bekommt man im O-Ton zu hören, was als Essenz aus der Konsultation resultiert.

Bei Patientinnen und Patienten, die eingeschränkt sprachkompetent sind, ist es nicht sinnvoll, in Kindersprache zu verfallen und Verben nicht mehr zu konjugieren. Einfacher zu verstehen sind kurze Aussagesätze, ohne komplexere grammatikalische Strukturen wie Relativsätze oder Konditionalsätze. Bei langsamem Sprechen wird manchmal bereits durch die Beobachtung des Gegenübers deutlich, an welchen Stellen ein Wort auf Unverständnis stößt; wer sein Gegenüber nicht anschaut, verpasst diese Gelegenheiten.

Ad-hoc-Übersetzerinnen und -Übersetzer werden in der Literatur aus verschiedenen Gründen nicht empfohlen: Wenn sie verwandt sind mit der Patientin oder dem Patienten oder wenn sie aus der gleichen überschaubaren Sprachgemeinschaft wie die Patientin oder der Patient stammen, geraten sie beim Übersetzen häufig in einen Solidaritätskonflikt. Das führt dazu, dass sie zum Beispiel schlechte Nachrichten nicht übersetzen, weil sie die Patientin oder den Patienten nicht belasten wollen oder weil sie die Regeln ihrer Kulturgemeinschaft einhalten wollen; im Unterschied zu professionellen Dolmetscherinnen und Dolmetschern sagen sie nicht, was sie tun, sodass die Fachperson nicht weiß, was genau – und was eben nicht – übersetzt wurde.

Problematisch sowohl am Einsatz von Ad-hoc- als auch von professionellen Dolmetscherinnen und Dolmetschern ist, dass letztlich die Fachperson dafür verantwortlich ist, worüber gesprochen und was verstanden wird. Da sie die Fremdsprache, in die gedolmetscht wird, nicht versteht, ist sie auf Gedeih und Verderb der Kompetenz der Dolmetscherin oder des Dolmetschers ausgeliefert.

Es ist allerdings nicht so klar, welche Aufgabe professionelle Dolmetscherinnen oder Dolmetscher eigentlich haben: Sollen sie möglichst wortgetreu übersetzen oder sollen sie zwischen Kulturen vermitteln, also auch auf Gebräuche, Wertvorstellungen und unterschiedliche Definitionen von Tabuthemen fokussieren? Das Conduit-Modell entspricht der ersten Variante, bei der die Dolmetscherin oder der Dolmetscher den gesprochenen Text möglichst genau wiedergibt und die eigene Person stark zurücknimmt. Die weiter gefasste Definition entspricht zumindest zum Teil dem des „interkulturellen Übersetzens“, bei der die Dolmetscherin oder der Dolmetscher auch als interkulturelle Vermittelnde fungieren.

Der folgende Verhaltenskatalog für Fachpersonen hilft beiden Parteien, ein gedolmetschtes Gespräch möglichst korrekt und im Sinne der Patientin oder des Patienten durchzuführen.

Verhaltenskatalog für medizinische Fachpersonen

Vor dem Gespräch

  1. Klären Sie, welche Fachbegriffe Sie benutzen werden (zum Beispiel ‚Blutdruckmanschette‘)
  2. Informieren Sie die Dolmetscherin oder den Dolmetscher über:
    a. Inhalt, Ziel und Dauer des Gesprächs.
    b. Die Notwendigkeit einer getreuen Wiedergabe, ohne eigene Interpretationen, ohne eigenes Hinzufügen oder Erklären.
    c. Die Regel, in der Ich-Form zu dolmetschen.
    d. Die Möglichkeit, bei der Fachperson nachzufragen, wenn die Dolmetscherin etwas
       nicht verstanden hat.

Im Gespräch

  1. Stellen Sie Dolmetscherin/Dolmetscher und Patientin/Patient einander mit Namen vor.
  2. Informieren Sie die Patientin / den Patienten, dass die Dolmetscherin / der Dolmetscher der Schweigepflicht untersteht.
  3. Erklären Sie der Patientin / dem Patienten, dass die Dolmetscherin / der Dolmetscher ALLES, was im Gespräch gesagt wird, vollständig wiedergeben wird.
  4. Halten Sie Augenkontakt zu der Patientin beziehungsweise zum Patienten.
  5. Sprechen Sie die Patientin beziehungsweise den Patienten immer direkt an und sprechen Sie nicht in der dritten Person.
  6. Formulieren Sie klar und deutlich, in vollständigen Sätzen und verwenden Sie keine unnötigen Fachwörter.
  7. Fragen Sie die Patientin bzw. den Patienten, wenn die Wiedergabe für Sie keinen Sinn ergibt und / oder Sie keinen Zusammenhang mit Ihrer Frage sehen.
  8. Bitten Sie die Patientin beziehungsweise den Patienten zusammenzufassen, was verstanden wurde.

Nach dem Gespräch

  1. 1. Vergewissern Sie sich bei der Dolmetscherin beziehungsweise dem Dolmetscher, ob es den Eindruck gab, dass das Gespräch für die betroffene Person korrekt und verständlich war.
  2. Bitten Sie den Dolmetscher beziehhungsweise die Dolmetscherin um ein Feedback zu Ihrer Gesprächsführung.

Interkulturelle Vermittlung

Abschließend geht es um die grundsätzliche Frage, inwieweit Dolmetscherinnen und Dolmetschern die Aufgabe einer interkulturellen Vermittlung übertragen werden kann.

Man könnte kritisch anmerken, dass interkulturelles Übersetzen vor allem dann Sinn macht, wenn klar ist, zwischen welchen Kulturen vermittelt werden soll. Das Problem besteht hier im Kulturverständnis, also der Annahme, es gebe eine kurdische, kosovarische oder anatolische Kultur und diese lasse sich durch entsprechende Kulturstandards definieren. Die Tatsache, dass eine Dolmetscherin oder ein Dolmetscher die Sprache einer anderen Kultur spricht, ist nicht automatisch gleichbedeutend mit der Qualifikation, sich zur kulturellen Identität dieser Patientinnen und Patienten kompetent zu äußern. Letztlich ist die Dolmetscherin oder der Dolmetscher genauso wie eine Fachperson darauf angewiesen, diese Verortung einer kulturellen Identität jeweils neu und sorgfältig durchzuführen.


Good Practice - Dolmetscher-vermitteltes Arzt-Patienten Gespräch
Übelkeit und Schmerzen im Bereich des Brustkorbs

Mitwirkende:

Ärztin: Dr. med. (Univ. Rijeka) Jana Urban-Ukic (Ärztin); Darsteller: Monika Wysluch (Patientin) und Peter Sieg (Dolmetscher)

Beschreibung:

Dolmetscher-vermitteltes Arzt-Patientin Gespräch, in dem die nur polnisch sprechende Patientin über akute Schmerzen im Brustbereich und ein Würgefühl klagt. Die Ärztin erhebt eine Anamnese und bespricht mit der Patientin das weitere Vorgehen. Das Gespräch findet als triadische Kommunikation mit der Übersetzung durch einen Sprach- und Kulturmittler statt. Die DocCards Dolmetschen sind zu finden unter www.fit-for-diversity-skills.de

Quelle

Creative Commons, Heinrich-Heine-Universität, Düsseldorf


Dolmetschervermitteltes psychotherapeutisches Erstgespräch

Mitwirkende:

Marie Bette (Psychologin), Erhan Erdogan (Simulationspatient), Ercan Aker (Übersetzer / Simulationspatient)

Beschreibung:

Das Video zeigt ein psychotherapeutisches Erstgespräch im transkulturellen Setting mit einem Patienten mit Foltererfahrungen.

Quelle

Creative Commons, Heinrich-Heine-Universität, Düsseldorf

 
Literatur
  • Angelelli C.: Revisiting the interpreter’s role: a study of conference, court, and medical interpreters in Canada, Mexico and United States. John Benjamins, Amsterdam 2004.
  • Bischoff A. et al.: Language barriers between nurses and asylum seekers: their impact on symptom reporting and referral. Social Science & Medicine. 2003; 57(3): 503–12.
  • Elderkin-Thompson V., Silver R. C., Waitzkin H.:, When nurses double as interpreters: a study of Spanish-speaking patients in a US primary care setting. Social Science & Medicine. 2001. 52(9): 1343–58.
  • Flores G. et al.: Errors in medical interpretation and their potential clinical consequences in pediatric encounters. Pediatrics. 2003; 111(1): 6 –14.
  • HHU Düsseldorf, 2014: Dolmetscher-vermitteltes Arzt-Patient-Gespräch unter: mediathek.hhu.de/watch/ef478fe0-beb6-49ea-a9be-4113e76ac706 [Stand: 19.03.2015]
  • HHU Düsseldorf, 2014: Interkulturelle Kompetenz für kommunale, soziale und klinische Arbeitsfelder unter: fit-for-diversity-skills.de/index.php [Stand: 19.03.2015]
  • HHU Düsseldorf, 2014: Posttraumatische Belastungsstörung (PTBS) unter: mediathek.hhu.de/watch/4612929d-f0b8-4cac-9a79-36f003823995 [Stand: 19.03.2015]
  • Kale E., Syed H. R.: Language barriers and the use of interpreters in the public health services. A questionnaire-based survey. Patient Educ Couns. 2010; 81(2): 187–91.
  • Ngo-Metzger Q. et al.: Providing high-quality care for limited English proficient patients: the importance of language concordance and interpreter use. J Gen Intern Med. 2007; 22 (Suppl. 2): 324–30.
  • Sleptsova M, Hofer G, Morina N, Langewitz W.: The role of the health care interpreter in a clinical setting – a narrative review. J Community Health Nurs. 2014; 31: 167–84.
  • Woloshin S. et al.: Is language a barrier to the use of preventive services? J Gen Intern Med. 1997; 12(8): 472–7.
  • Krystallidou D, Langewitz W, van den Muijsenbergh M: Multilingual health care communication: stubling blocks, solutions, recommendations. Pat Educ Couns 2020; 104: 512–516.

 

3.12. Gespräch über Patientenverfügungen und Wiederbelebung - rechtliche Rahmenbedingungen

Der Wunsch und das Recht auf Selbstbestimmung sowie die Vielfalt der Handlungsmöglichkeiten am Lebensende haben dazu geführt, dass sich immer mehr Menschen frühzeitig selbst für oder gegen medizinische Maßnahmen entscheiden wollen.

In diese Entscheidungen fließen die individuellen Wertevorstellungen, Lebenserfahrungen und Haltungen ein, die sich im Laufe eines Lebens bilden. Es ist daher Ziel und gleichzeitig Herausforderung für eine Patientenverfügung, diese Aspekte auf der Grundlage der individuellen Situation der Betroffenen möglichst genau und verständlich abzubilden, um so ein plastisches und nachvollziehbares Abbild der gewünschten oder unerwünschten Behandlungsmaßnahmen zu erhalten. Im Sinne einer auf die Bedürfnisse der einzelnen betroffenen Person zugeschnittenen Behandlung ist es daher sehr begrüßenswert, dass heute immer mehr Menschen eine Patientenverfügung (PV) verfassen – am besten in gesunden Tagen. Der typische Ernstfall, für den sich Patientinnen und Patienten mit einer PV wappnen, ist die Frage nach einer Reanimation bei einem Herz-Kreislauf-Stillstand.

Damit Ärztinnen und Ärzte sowie Pflegekräfte bei der Erstellung einer PV die Urteilsfähigkeit, Wertvorstellungen und Behandlungspräferenzen der Patientinnen und Patienten erfassen können, bedarf es professioneller und kommunikativer Kompetenz.

PV halten die persönlichen Wertvorstellungen sowie den Willen einer betroffenen Person fest, für den Fall, dass sie sich nicht mehr äußern beziehungsweise nicht mehr entscheiden kann. Sie muss also mit Angehörigen, Ärzten/Ärztinnen und Pflegekräften über Fragen sprechen, in denen es um schwere Erkrankung, Sterben und Tod geht. Daher löst das Formulieren einer PV per se eine intensive Auseinandersetzung mit schwierigen Themen aus.

Vorformulierte PV, die Menschen ohne begleitendes Gespräch mit Ärzten / Ärztinnen oder Pflegekräften und ohne vertiefte Auseinandersetzung mit den Angehörigen unterschreiben, sind von fehlendem bis geringem Nutzen, weil sie meist zu wenig Bezug nehmen auf persönliche Wertevorstellungen und Anliegen. Sie unterstützen die Angehörigen und ärztlichen Fachkräfte in der Regel nicht dabei, ein Verständnis vom tatsächlichen Patientenwillen zu gewinnen. Allerdings scheuen viele Ärztinnen und Ärzte das direkte Gespräch mit ihren Patientinnen und Patienten, wenn es um das Sterben geht. Dies betrifft nicht nur die Patientenverfügung selbst, sondern auch eine konkrete Klärung des Vorgehens bei einem Herz-Kreislauf-Stillstand. Mehrere Untersuchungen belegen, dass diese Zurückhaltung nicht gerechtfertigt ist (Visser, M. et al., 2014).

Ablauf des Gesprächs

Zuerst sollte der Anlass für das Verfassen einer PV oder das Gespräch über eine Reanimation geklärt werden. Hat die betroffene Person selbst von einer schweren Erkrankung erfahren oder ist ein ihr nahestehender Mensch nach langem Leiden verstorben? Danach wird folgendes Vorgehen empfohlen:

  • Urteilsfähigkeit des Patienten / der Patientin erfassen.
  • Werteanamnese erheben.
  • Vorgehen in konkreten Situationen festlegen.
  • Eine Person oder mehrere Personen bestimmen, die im Falle einer Äußerungs- oder Urteilsunfähigkeit stellvertretend Entscheidungen über die Lebensverlängerung oder den Therapieabbruch fällen sollen.

Je nach Situation, in der sich Betroffene befinden, wird dem einen oder anderen Aspekt mehr oder weniger Gewicht beigemessen. Bei gesunden Menschen wird die Klärung der persönlichen Werte ganz im Vordergrund stehen. Bei Patientinnen und Patienten, die von einer schweren eigenen Erkrankung erfahren und bei denen eine Urteilsunfähigkeit (zum Beispiel im Rahmen einer Demenzerkrankung) zu erwarten ist, muss das Vorgehen in ganz konkreten Behandlungssituationen besprochen werden.

In gleicher Weise verläuft ein Gespräch mit Patientinnen und Patienten, die sich zur Frage einer Reanimation äußern sollen. Nach einem einleitenden Gespräch zum Aufbau einer Beziehung wird die Wertehaltung der Patientin oder des Patienten erfasst und dann mit ganz konkreten Fragen die Situation einer Reanimation diskutiert.

Die ärztliche Beratung ist allerdings keine Wirksamkeitsvoraussetzung der PV, sodass Betroffene eine wirksame PV auch dann erstellen können, wenn sie auf ein vorheriges Gespräch mit behandelnden Ärztinnen und Ärzten verzichtet haben.

Einwilligungsfähigkeit

Damit die betroffene Person überhaupt eine PV erstellen kann, muss sie einwilligungsfähig sein (§ 1901a Abs. 1 S. 1 BGB). Einwilligungsfähigkeit ist dann gegeben, wenn die Person aufgrund ihrer Einsichts- und Steuerungsfähigkeit Art, Bedeutung, Tragweite und Risiken der Maßnahme erfassen und ihren Willen hiernach richten kann. Auf die Geschäftsfähigkeit der betroffenen Person im Sinne des § 104 BGB kommt es nicht an. Allerdings kann nur nach Volljährigkeit eine wirksame PV errichtet werden. Zur Abschätzung der Einwilligungsfähigkeit kann dem Patienten bzw. der Patientin ein einfaches Fallbeispiel vorgelegt werden. Die Person sollte in der Lage sein, dieses zu verstehen und zusammenzufassen. Auch sollte sie fähig sein, ihre Behandlungspräferenz für diese konkrete Situation zu äußern, alternative Vorgehensweisen zu bewerten und die sich aus ihrer Wahl ergebenden kurz- und längerfristigen Konsequenzen abzuleiten.

Konkret kann die ärztliche Fachperson folgendermaßen vorgehen:

„Ich erzähle Ihnen jetzt eine Fallgeschichte. Stellen Sie sich vor, Sie erleiden einen Hirnschlag. Als Folge des Hirnschlags können Sie Ihren rechten Arm und Ihr rechtes Bein nicht mehr bewegen. Sie können auch nicht mehr sprechen und schlucken, die Sprache Ihrer Mitmenschen nehmen Sie aber noch wahr.
Wegen der Schluckunfähigkeit würde man Sie fragen, ob Sie der Einlage einer Magensonde durch Ihre Bauchwand zustimmen würden, um eine ausreichende Nahrungszufuhr zu gewährleisten.
Würden Sie mir diese Geschichte bitte nochmals kurz zusammenfassen?
Würden Sie einer derartigen Maßnahme zustimmen?
Welche alternativen Handlungsoptionen können Sie sich vorstellen?
Was, denken Sie, würde geschehen, wenn Sie der Maßnahme nicht zustimmen?“

Der Mini-Mental-State kann zur Beurteilung der Einwilligungsfähigkeit nur als Vorabprüfung dienen (Stier, 2006). Daran muss sich eine individuelle kontextabhängige Tiefenprüfung durch die Ärztin bzw. den Arzt anschließen.

Werteanamnese

Sicher gibt es Situationen, in denen eine PV in einer einzigen Sitzung erstellt werden kann. Meist werden aber mehrere Sitzungen notwendig sein, denn für eine vollständige und sinnvolle PV müssen Wertehaltungen formuliert, Behandlungsziele und Vertrauenspersonen benannt und Aussagen zu verschiedenen spezifischen Behandlungssituationen gemacht werden (siehe 3.3.).

In einem ersten Gespräch geht es darum, mit der betroffenen Person einen Zugang zu Themen wie schwere Krankheiten und Lebensende zu finden. Sie erzählt, wie ihre gegenwärtige Lebenssituation aussieht (Gesundheit, soziale Kontakte, Zukunftspläne), wie weit sie sich schon mit Fragen über Krankheit, Sterben und Tod auseinandergesetzt hat, welche Ängste in diesem Zusammenhang bestehen und von welchen Personen sie denkt, dass sie als Vertrauenspersonen eingesetzt werden könnten. Der Arzt bzw. die Ärztin kann in diesem Zusammenhang auch Informationsmaterial zu Patientenverfügungen abgeben (zum Beispiel BÄK-ZEKO, 2018 oder Ärztekammer Nordrhein, 2020).

Patientenverfügung der BÄK-ZEKO

Patientenverfügung der Ärztekammer Nordrhein (Leitfaden für die persönliche Vorsorge)


Eine Eingangsfrage könnte so formuliert werden:
„Haben Sie sich schon mal Gedanken gemacht über Ihr Altwerden, über das Sterben und über den eigenen Tod? Wenn ja, warum und in welchem Zusammenhang? Wollen Sie mir ein bisschen mehr darüber erzählen?“

In einem zweiten Gespräch soll in der Regel die Vertrauensperson anwesend sein (im Hinblick auf eine Vollmacht). In diesem Gespräch wird eine Werteanamnese aufgenommen, dokumentiert und es werden die Themen Behandlungsabbruch und Lebensverlängerung anhand von Fallbeispielen diskutiert. Darauf wird ein Entwurf für eine PV erstellt.

Erst in einer dritten Sitzung wird die PV dann definitiv geschrieben, kopiert und unterschrieben.

Werteklärung

Je individueller die Werteklärung ist, desto höher wird die Qualität der PV sein. Eine Werteanamnese kann erhoben werden, indem der Patient bzw. die Patientin mit einer einfachen, offenen Frage gebeten wird, konkrete Wertvorstellungen zu schildern: „Bitte sagen Sie mir, was für Sie im Leben wichtige Werte sind und was für Sie in einer Phase des nahenden Todes besonders wichtig sein könnte.“

Da es Menschen oftmals schwerfällt, diese Werte zu definieren, kann der Arzt bzw. die Ärztin hier auf Fragensammlungen zurückgreifen. Auch werden Kartensammlungen empfohlen, wobei die betroffene Person Karten (Go-Wish-Kartenspiel) mit definierten Items bezüglich der Wichtigkeit für sie selbst bewerten soll.

Denkbar ist folgendes Vorgehen:

„Nehmen wir an, dass Ihre Lebenszeit auf wenige Wochen bis Monate begrenzt ist.
Welche der folgenden Werte sind für Sie von großer und welche von geringer Wichtigkeit?
Dass ich möglichst lange schmerzfrei sein kann.
Dass ich keine Atemnot leiden muss.
Dass ich bis zuletzt bei klarem Verstand sein darf.
Dass ich meine Würde behalten kann.
Dass ich bis zuletzt Behandlungswünsche äußern kann.
Dass ich gewisse Dinge in meinem Leben abschließen kann.
Dass ich meinen Angehörigen nicht zur Last falle.
Dass ich daheim sterben kann.“

(Aufzählung nicht abschließend)

Behandlungspräferenzen

Je nach Situation wird der Arzt beziehungsweise die Ärztin mit dem Patienten beziehungsweise der Patientin konkrete Fallgeschichten besprechen. Die betroffene Person muss entscheiden, ob sie sich in der jeweiligen Situation eher für eine Lebensverlängerung oder einen Therapieabbruch entscheiden würde. Auch zur Erfassung dieser Präferenzen gibt es validierte Instrumente.

Vertrauenspersonen

Die ausgewählten Vertrauenspersonen sollen mit den Wertvorstellungen des Patienten bzw. der Patientin vertraut sein. Im Gespräch mit der verfassenden Person der PV und den Angehörigen muss darauf geachtet werden, dass Ärztinnen und Ärzte sowie Pflegekräfte von der Schweigepflicht gegenüber den in der PV genannten Vertrauenspersonen befreit werden.

Literatur
  • Ärztekammer Nordrhein: Leitfaden für die persönliche Vorsorge der Ärztekammer Nordrhein 2015 unter: https://www.aekno.de/patienten/patientenverfuegung [Stand 2023]
  • Barrio-Cantalejo I. M., Molina-Ruiz A., Simon-Lorda P. et al.: Advance directives and proxies’ predictions about patients’ treatment preferences. Nurs Ethics. 2009; 16(1): 93–109.
  • Beland D. K., Froman R. D.: Preliminary validation of a measure of life support preferences. Image J Nurs Sch. 1995; 27(4): 307–10.
  • Bundesärztekammer-ZEKO: Umgang mit Vorsorgevollmacht und Patientenverfügung in der ärztlichen Praxis 2013 unter: www.bundesaerztekammer.de/downloads/Empfehlungen_BAeK-ZEKO_Vorsorgevollmacht_Patientenverfuegung_19082013l.pdf [Stand: 18.03.2015]
  • Emanuel L. L., Danis M., Pearlman R. A., Singer P.A.: Advance care planning as a process: structuring the discussions in practice. J Am Geriatr Soc. 1995; 43(4): 440–6.
  • Fazel S., Hope T., Jacoby R.: Assessment of competence to complete advance directives: validation of a patient centred approach. BMJ 1999; 318: 493–7.
  • Folstein M. F., Folstein S. E., McHugh P. R.: Mini-mental state. A practical method for grading the cognitive state of patients for the clinician. J Psychiatr Res. 1975; 12(3): 189–98.
  • Ghelli R., Gerber A. U.: Die Frage der Reanimation (REA). Der Patientenauftrag und Reaktionen auf dessen Erfragung. 66. Jahresversammlung der Schweiz. Gesellschaft für Innere Medizin 1998.
  • Lack P.: Verschiedene Formen der Patientenverfügung und ihre Eignung für bestimmte Personengruppen. Bull Soc Sci Med. 2008: Nr. 3: 415–27.
  • Lankarani-Fard A., Knapp H., Lorenz K. A. et al.: Feasibility of discussing end-of-life care goals with inpatients using a structured, conversational approach: the go wish card game. J Pain Symptom Manage 2010; 39(4): 637–43.
  • Ramsaroop S. D., Reid M. C., Adelmann R. D.: Completing an advance directive in the primary care setting: What do we need for success? J Am Geriatr Soc. 2007; 55(2): 277–83.
  • Stier, M.: Ethische Probleme in der Neuromedizin. Identität und Autonomie in Forschung, Diagnostik und Therapie.2006, PU: Frankfurt a. M. / New York: Campus 2006., S. 131.
  • Visser M., Deliens L., & Houttekier D. (2014): Physician-related barriers to communication and patient- and family-centred decision-making towards the end of life in intensive care: a systematic review. Critical Care, 18(6), 604. doi:10.1186/s13054-014-0604-z

 

3.13. Gespräch über Behandlungsfehler

Behandlungsfehler stellen für Patientinnen und Patienten, ihre Angehörigen sowie die beteiligten Ärztinnen und Ärzte eine komplexe Herausforderung dar. Neben den direkten Folgen eines Fehlers, zum Beispiel einer physischen Schädigung, kann auch die Kommunikation nach einem Fehler eine zusätzliche Belastung darstellen. Viele betroffene Patientinnen und Patienten sowie Angehörige berichten, dass eine unangemessene Kommunikation nach einem Behandlungsfehler zu tiefgreifender Verunsicherung, Verletzung und intensiven emotionalen Reaktionen geführt hat. Ein sorgsamer und sensibler Umgang mit Patientinnen und Patienten sowie Angehörigen kann dies vermeiden und sogar entlastend wirken.

Die meisten Menschen haben Verständnis dafür, dass es auch in der medizinischen Behandlung zu Fehlern kommen kann. Patientinnen und Patienten haben jedoch auch eine universelle, eindeutige und umfassende Präferenz für das Offenlegen von Fehlern, die nahezu unabhängig von Alter, Geschlecht oder Bildungsstand der Betroffenen ist. Wenn die beteiligten Ärztinnen und Ärzte die Patientinnen und Patienten nicht offen informieren, führt gerade dies nicht selten erst zum Versuch, eine Klärung durch Dritte (Anwältinnen und Anwälte, Gutachterinnen und Gutachter, Schlichtungsstellen) herbeizuführen. Ärztinnen und Ärzte hingegen versuchen häufig, einer eindeutigen und klaren Kommunikation über einen Fehler auszuweichen. Zum einen, weil es eine belastende Aufgabe ist, zum anderen, weil sie rechtliche Konsequenzen fürchten. So entsteht nicht selten eine paradoxe Situation, in der erst die nebulöse Kommunikation eine konfrontative und oft eskalierende Auseinandersetzung außerhalb der Arzt-Patienten-Beziehung in Gang setzt. Studien aus anderen Ländern zeigen, dass die Suche nach Wahrheit und Aufklärung eine Hauptursache ist, warum Patientinnen und Patienten sich an entsprechende Institutionen wenden.

Für die Kommunikation nach einem Behandlungsfehler sind folgende Aspekte wesentlich:

  • die rasche, persönliche und eindeutige Offenlegung des Fehlers
  • die Übernahme der Verantwortung
  • die Informationen über den Fehler und etwaige Folgen
  • der glaubhafte Ausdruck des ehrlichen Bedauerns

Anlässe für die Kommunikation über Fehler

Alle Fehler, die zu einer temporären oder dauerhaften Schädigung, Beeinträchtigung oder die zu einer zusätzlichen Behandlung von Patientinnen und Patienten führen, sollten offengelegt werden. Dazu gehören auch Ereignisse, die von Patientinnen und Patienten oder von Angehörigen nicht zweifelsfrei als fehlerhaft oder fehlerbedingt identifiziert werden können. Das Informationsungleichgewicht zwischen Ärzten / Ärztinnen und Patienten / Patientinnen führt in vielen Fällen dazu, dass ein vermeidbares, also auf einen Fehler zurückzuführendes, unerwünschtes Ereignis komplett verschwiegen oder zu einer unvermeidbaren Schädigung, also einer Nebenwirkung oder Komplikation, „umetikettiert“ werden kann. Da dadurch das Vertrauensverhältnis und das Informationsungleichgewicht ausgenutzt und die selbstbestimmte Bewertung des Vorfalls durch die betroffene Person verhindert würden, ist dies ethisch äußerst fragwürdig und sollte vermieden werden.

Nicht alle Behandlungsfehler führen auch zu einer Schädigung. So gibt es Fälle, in denen eine Schädigung rechtzeitig abgewendet werden kann. Grundsätzlich sollten Fehler, die keine Auswirkungen auf die Patientinnen und Patienten haben, dann kommuniziert werden, wenn diese den fehlerhaften Vorgang vermutlich wahrgenommen haben. Dies wäre beispielsweise bei einer diagnostischen Untersuchung der falschen Körperseite aufgrund einer Seitenverwechslung der Fall. In solchen Situationen führt das Verschweigen des Fehlers zu Irritation und Verunsicherung, während das klare Aussprechen, dass dies ein Fehler war, das Vertrauen der betroffenen Person in die ärztliche Fachkraft (und in die eigene Wahrnehmung) fördern kann. Wenn ein Ereignis nicht zu einer Schädigung geführt hat und vom Patienten beziehungsweise der Patientin auch nicht bemerkt wurde, ist eine Aufklärung über den Sachverhalt in der Regel nicht sinnvoll.

Form des Gespräches

Wie bei allen schwierigen Gesprächssituationen sollte auch die Kommunikation über einen Fehler persönlich erfolgen. Zudem braucht es eine ruhige Umgebung und genügend Zeit. Angehörige sollten die betroffene Person begleiten dürfen, falls sie dies wünscht. Gerade bei Fehlern mit schwerwiegenderen Konsequenzen ist die Kommunikation eine Aufgabe der ärztlichen Leitung, auch wenn diese nicht direkt in den Vorfall involviert ist. Gleichwohl ist es oft hilfreich und von Patientinnen und Patienten erwünscht, wenn die direkt am Fehler Beteiligten ebenfalls am Gespräch teilnehmen. Die erste Kommunikation über einen Behandlungsfehler sollte so schnell wie möglich stattfinden. Wenn gesicherte Informationen über das Geschehen vorliegen, ist in den meisten Fällen ein weiteres Gespräch erforderlich.

Inhalte eines Gespräches über Behandlungsfehler

Die ärztliche Fachperson erklärt, dass es zu einem Fehler gekommen ist und was genau passiert ist. Sie informiert über die Folgen für den Patienten beziehungsweise die Patientin, die Prognose sowie Pläne oder Empfehlungen für die weitere Behandlung. Auch das weitere Vorgehen zur Aufarbeitung des Fehlers im Betrieb sollte thematisiert werden. Dazu gehört beispielsweise, ob und in welcher Form der Vorfall analysiert wird und welche Konsequenzen daraus gezogen werden. In diesem Gespräch soll der Arzt beziehungsweise die Ärztin nur gesichertes Wissen und keine Spekulationen kommunizieren.

Wenn möglich, sollte der Arzt beziehungsweise die Ärztin der betroffenen Person einen Wechsel der behandelnden Fachkraft oder des Behandlungsteams anbieten. Wenn dieses Angebot angenommen wird, muss der behandelnde Arzt beziehungsweise die Ärztin die Übergabe des Patienten beziehungsweise der Patientin sorgfältig vorbereiten und vorbehaltlos unterstützen.

Ein Ausdruck des Bedauerns ist zentrales Element der Kommunikation über einen Behandlungsfehler und hat für Patientinnen und Patienten eine herausragende Bedeutung. Ein Ausdruck des Bedauerns ist kein Schuldeingeständnis und daher auch nicht haftungsrelevant. Das ehrliche Bedauern als Ausdruck von Empathie und Respekt für die Patientin oder den Patienten ist daher unverzichtbarer Bestandteil des Gespräches über einen Behandlungsfehler.

Weitere Nachsorge

Viele für Patientinnen und Patienten relevante Informationen werden erst zu einem späteren Zeitpunkt verfügbar sein. So können Fehlerursachen und betriebsinterne Konsequenzen wie veränderte Prozessabläufe in der Regel erst durch sorgfältige Analysen aufgearbeitet werden. Die Patientinnen und Patienten sowie Angehörigen sind zu einem späteren Zeitpunkt über diese Erkenntnisse proaktiv zu informieren. Auf jeden Fall soll den betroffenen Patientinnen und Patienten ein weiterer Termin angeboten werden, auf den sie sich vorbereiten können.

Fehler passieren immer und überall. Das Wichtigste ist, dass man aus Fehlern lernt. Dies erfordert als Erstes eine offene Kommunikation innerhalb des Behandlungsteams, des Krankenhauses oder einer Berufsgruppe vor dem Hintergrund einer offenen und konstruktiven Fehlerkultur. Hilfreiche Handreichungen sind beispielsweise die von der Bundesärztekammer unterstützten Broschüren „Aus Fehlern lernen“ und „Reden ist Gold“ (www.aktionsbuendnis-patientensicherheit.de) oder das Fehlerberichtssystem der deutschen Ärzteschaft, das Critical-Incident-Reporting-System (CIRS) (www.cirsmedical.de).

Literatur
  • Aktionsbündnis Patientensicherheit e. V.: Reden ist Gold. Kommunikation nach einem Zwischenfall. Bonn, 2012.
  • Aktionsbündnis Patientensicherheit e. V.: Netzwerk für eine kontinuierliche Verbesserung der Patientensicherheit in Deutschland unter: www.aktionsbuendnis-patientensicherheit.de [Stand: 12.02.2023]
  • Helmchen L. A., Richards M. R., McDonald T. B.: How does routine disclosure of medical error affect patients’ propensity to sue and their assessment of provider quality? Evidence from survey data. Med Care. 2010; 48(11): 955–61.
  • Kachalia A., Kaufman S. R., Boothman R., Anderson S., Welch K., Saint S., Rogers M. A.: Liability claims and costs before and after implementation of a medical error disclosure program. Ann Intern Med. 2010; 153(4): 213–21.
  • López L., Weissman J. S., Schneider E. C., Weingart S. N., Cohen A. P., Epstein A. M.: Disclosure of hospital adverse events and its association with patients’ ratings of the quality of care. Arch Intern Med. 2009; 169(20): 1888–94.
  • O’Connor E., Coates H. M., Yardley I. E., Wu A. W.: Disclosure of patient safety incidents: a comprehensive review. Int J Qual Health Care. 2010; 22(5): 371–9.
  • Stiftung für Patientensicherheit: Kommunikation mit Patienten und Angehörigen – Wenn etwas schief geht. Schriftenreihe Nr. 1. Zürich, 2006.
  • CIRS: Berichts- und Lernsystem der deutschen Ärzteschaft für kritische Ereignisse in der Medizin des Ärztlichen Zentrums für Qualität in der Medizin (gemeinsames Institut von BÄK und KBV) unter: www.cirsmedical.de [Stand: 12.02.2023]

 

3.14. Gespräch zwischen den Berufsgruppen und unter Kolleginnen und Kollegen

Hintergrund –Warum ist interprofessionelle Kommunikation wichtig?

Im klinischen Alltag ist es evident, dass in Teams das Fachwissen über einen Patienten beziehungsweise eine Patientin auf verschiedene Personen mit verschiedenen Berufsqualifikationen verteilt ist – erst die Zusammenführung macht dieses gemeinsame Wissen für die Beteiligten nutzbar, auch wenn der jüngste Cochrane Review zur Evidenz weitere Studien einfordert. In einer Metaanalyse (Tan, Zhou & Kelly, 2017) konnte gezeigt werden, dass vor allem fehlende Möglichkeiten zur Face-to-Face-Kommunikation Ursache für ineffiziente Pflege-Arzt-Interaktion waren.

Definition – Was ist der Unterschied zwischen interprofessioneller und interdisziplinärer Kommunikation?

Die Kommunikation zwischen verschiedenen Berufsgruppen bezeichnet man als interprofessionelle, diejenige zwischen verschiedenen Fachdisziplinen als interdisziplinäre.

Anwendungsbereiche – In welchen Settings findet interprofessionelle Kommunikation statt?

Die Chance zur Zusammenarbeit der verschiedenen Gesundheitsberufe ergibt sich sowohl im ambulanten (zum Beispiel Übermittlung von Verordnungen und Rezepten) als auch (teil)stationären Setting (zum Beispiel Übergabe, Visite), in welchem je die Hälfte der 6 Millionen im Gesundheitswesen arbeiten. Gut 45 Prozent sind in der Pflege tätig und gehören somit zu den Hauptansprechpersonen der Ärztinnen und Ärzte.

Modelle der Gesprächsführung

Zur interprofessionellen Kommunikation eignen sich einige der in der Arzt-Patienten-Kommunikation etablierten Gesprächstechniken und Modelle der Kommunikation (Calgary-Cambridge-Schema, Die vier Seiten einer Nachricht von Schultz von Thun, Die fünf Axiome der Kommunikation nach Watzlawick, die Transaktionsanalyse nach Berne, das Transtheoretische Modell nach Prochaska, die Buchmetapher nach Langewitz, das CALM-Modell zum Konfliktmanagement, das SBAR-Modell zur Patientenübergabe, das NURSE-Modell zu Emotionen, das SPIKES-Modell zur Überbringung schlechter Nachrichten). Hierzu gehört das WWSZ-Modell (Warten, Wiederholen, Spiegeln, Zusammenfassen), welches sich zum Beispiel für telefonische Übergaben anbietet.

Die meisten Modelle – WWSZ (2.2.), SPIKES (3.4.) und NURSE (2.3.) sowie Watzlawick und Schulz v. T. (1.) – wurden in anderen Kapiteln behandelt.

Praxistipps – Wie kommuniziere ich (professionsübergreifend) erfolgreich?

  • Kommunikation auf Augenhöhe
  • Respektvoller und vertrauensbildender Umgang(-ston) und Bereitschaft zu partizipativer Entscheidungsfindung führt unter anderem zu einer höheren Arbeitszufriedenheit unter Kolleginnen und Kollegen
  • Eindeutige Sprache (zum Beispiel „Dipi“ steht je nach gegebenenfalls fachspezifischer Sozialisation für das Schmerzmittel Dipidolor oder das schlafanstoßende Neuroleptikum Dipiperon)
  • Bereitschaft zur Reflexion und Perspektivenwechsel
  • Rollen und Verantwortlichkeiten definieren, Bereitschaft Verantwortung situations-bedingt entweder abzugeben und zu übernehmen und somit eine Arbeitsentlastung herbeizuführen (einige Studien konnten zeigen, dass sich ein anfänglich befürchteter Mehraufwand durch Teamkommunikation mittelfristig sowohl im Hinblick auf Patienten-Outcome als auch zeitliche Ressourcen rentiert hat)
  • Gemeinsame Ziele formulieren und Ziel- und Interessenskonflikte erkennen (zum Beispiel onkologische und psychoonkologische Fachkraft, im Sinne eines patientenzentrierten individualisierten Therapieansatzes sollte das Team „an einem Strang ziehen“)
  • Vermeidung von ressourcenkostenden Monologen (Aufmerksamkeitsspanne beim Zuhören beträgt circa 20 Minuten, cave: ausschweifende Visiten mit vielen passiven Zuhörenden)
  • Vor allem jüngere und unerfahrenere Mitarbeitende wünschen sich mehr Feedback
  • Eine qualifizierte wertschätzende Führungskommunikation führt zu einem ausgeprägteren Wohlbefinden der Mitarbeitenden
  • Implementierung von Standards zum Ablauf von Visiten, Verwendung von Checklisten mit Tagesaufgaben und -zielen, multidisziplinäre Fallbesprechungen, gemeinsame Aus-, Weiter- und Fortbildungen, unterstützt durch die Leitungsebene
  • Gegebenenfalls Inanspruchnahme von externer Team-Supervision

(Interprofessionelle) Kommunikationstrainings – Wie lernt man erfolgreiche interprofessionelle Zusammenarbeit?

In den Ausbildungs- und Studiengängen der Medizin, Pflege und Therapieberufe umfasste bis 2015 interprofessionelle Lehre fast nur Pilotprojekte. Das änderte sich unter anderem mit dem von der Robert-Bosch Stiftung geförderten „Operation Team“ und der Entwicklung des „Nationalen Mustercurriculums interprofessionelle Zusammenarbeit und Kommunikation“, welche unter anderem den entsprechenden Empfehlungen des Wissenschaftsrates, des Masterplans 2020, des Pflegeberufegesetz 2020, des überarbeiteten Nationalen Lernzielkatalog NKLM und der anstehenden Novellierung der ärztlichen Approbationsordnung zur Stärkung der interprofessionellen Kommunikation Rechnung tragen. Etabliert haben sich hierbei vor allem 360 Grad Mini-CEX (arbeitsplatzbasiertes interprofessionelles Feedback) und interprofessionelle Ausbildungsstationen auch im Hinblick auf das informelle Lernen. Dort versorgen Auszubildende und Studierende der Medizin und Pflege supervidiert durch Lernbegleitende mithilfe von interdisziplinären Fallbesprechungen Patientinnen und Patienten. Empfehlenswert ist ebenso der Einsatz von Teaching-Tandems, zum Beispiel Statistiker / Statistikerin und Arzt / Ärztin zur Risikokommunikation oder Virologe / Virologin und Pharmazeut / Pharmazeutin im Bereich Impfaufklärung zur indirekten Förderung der interprofessionellen Kommunikation. Für den Bereich der Weiter- und Fortbildung werden zunehmend Kommunikationstrainings entwickelt.

Literatur


 


3.15. Kommunikation unter Einbezug digitaler Medien – digitale Kommunikation

Einleitung

Die digitale Transformation unserer Gesellschaft wirkt sich nicht allein auf den Beruf der Ärztin beziehungsweise des Arztes aus, sondern auch auf die Kommunikationsbeziehung zur Patientin beziehungsweise zum Patienten. Viele Patientinnen und Patienten kommunizieren in ihrem alltäglichen Leben mit digitalen Tools. Interaktive, gemeinschaftliche Internetplattformen wie soziale Netzwerke, Wikis, Videoplattformen, Chaträume und Blogs machen passive Internetnutzende zu aktiven Teilnehmenden. Sie bieten Möglichkeiten für Zusammenkünfte, zum Teilen und Verbreiten persönlicher Erfahrungen einschließlich gesundheitsbezogener Informationen unter Freundinnen und Freunden, Verwandten, Kolleginnen und Kollegen und bisher fremden Menschen. Diese neue Art der Kommunikation wirkt sich auch auf die Erwartungen an Ärztinnen und Ärzten aus.

Die langsam stattfindende digitale Transformation im Gesundheitswesen schafft eine Vielzahl an weiteren Kommunikationswegen zwischen Patienten / Patientinnen und Ärzten / Ärztinnen. Neben Messengerdiensten und Telemedizin mit dem speziellen Bereich der Videosprechstunde kann eine Kommunikation auch über die medizinischen Anwendungen der Telematikinfrastruktur wie die elektronische Patientenakte, den elektronischen Medikationsplan oder den Notfalldatensatz erfolgen. Hierbei werden sich in den nächsten Jahren neue Wege der synchronen und asynchronen Kommunikation etablieren, die die ärztliche Fachperson zusätzlich im Blick halten sollte.

In diesem Abschnitt des Leitfadens wird nun speziell auf die Kommunikation mit Patientinnen und Patienten über soziale Medien eingegangen.

Der neue und alles verändernde Aspekt bei der Nutzung sozialer Medien ist, dass auch die Patientinnen und Patienten selbst sich beteiligen können und damit Inhalte schaffen. Diese Inhalte sind der Kern sozialer Medien, durch den auch eine Steigerung der Patientenautonomie entstehen kann. Natürlich gibt es Risiken in dieser offenen Kommunikation insbesondere aus der Frage des Umgangs mit der Verantwortlichkeit für einzelne Informationen.

Definition – was sind soziale Medien?

Eine erste brauchbare Definition für „soziale Medien“ findet sich bei (Kaplan und Haenlein, 2010): „is a group of Internet-based applications that builds on the ideological and technological foundations of Web 2.0, and that allows the creation and exchange of usergenerated content.“ Eine gute Übersetzung ins Deutsche findet man bei Böker 2013 in einem wirtschaftswissenschaftlichen Kontext (https://www.boeckler.de/pdf/p_edition_hbs_281.pdf).
 
Als „soziale Medien“ oder „Social Media“ werden Internetanwendungen bezeichnet, die der Zusammenarbeit und dem Austausch dienen. Nutzerinnen und Nutzer stellen ihre Inhalte ins Netz. Diese sogenannten „nutzergenerierten Inhalte“ (user-generated contents) können gemeinsam mit anderen weiterentwickelt werden. Einen wesentlichen Bestandteil bildet zudem der Austausch der Nutzenden untereinander.

Wie werden soziale Medien genutzt?

Soziale Medien ermöglichen es auch den Patientinnen und Patienten, Inhalte zu generieren, zu teilen und mit anderen Patientinnen und Patienten, Ärztinnen und Ärzten sowie anderen Nutzenden zu interagieren. Social-Media-Plattformen sind sowohl über einen Internetbrowser als auch über eine App auf dem Smartphone zugänglich. Das vielfältige Angebot reicht von Webseiten und Apps bis hin zu Austauschplattformen mit speziellen Schwerpunkten, wie Lauftracker, Anbietern von Podcasts und Videoplattformen. Auf allen Plattformen können spezielle Angebote für Patientengruppen oder einzelne Erkrankungen entstehen.

Über soziale Medien können Informationen zur Diagnostik oder zu einzelnen Erkrankungen und darüber hinaus auch Gesundheitsziele vermittelt werden. Im positiven Falle können sie ein Ort für Gesundheitsförderung werden oder als gemeinschaftliches Unterstützungsnetzwerk genutzt werden. Gleichwohl bedarf es der Korrektur falscher oder irreführender Inhalte. Es gilt hier insbesondere von ärztlicher Seite Verzerrungen zu korrigieren, um das volle Potenzial sozialer Medien als positiver Verstärker von Gesundheit auszuschöpfen.

Über die drei Grundformen der Kommunikation wurde bereits in den ersten Kapiteln berichtet. Der Schwerpunkt sozialer Medien liegt im zweiten Bereich, der schriftlichen, asynchronen Kommunikation. Obwohl die Geschwindigkeit des Informationsaustausches in sozialen Medien sehr nahe an der „Face-to-Face“-Kommunikation sein kann, hat diese Kommunikationsform durchaus auch Eigenschaften des dritten Bereiches, der Kommunikation über Massenmedien, weil soziale Medien eine sehr hohe Reichweite bekommen können.

Ärztliche Kommunikation über soziale Medien

Der zentrale Inhalt von sozialen Medien ist die Kommunikation. Folgende Aspekte können zur Veränderung von Wahrnehmung und Inhalten führen:

Höhere Verfügbarkeit durch asynchrone Kommunikation

Im Unterschied zum direkten bisher üblichen Austausch zwischen Arzt / Ärztin und Patient / Patientin zeichnen sich die Kommunikationsprozesse in sozialen Medien vor allem durch eine höhere Verfügbarkeit aufgrund einer asynchronen Kommunikation aus.

Die asynchrone Kommunikation bedingt wiederum in der Regel eine schriftliche Form der Kommunikation, bei der die Inhalte gut aufgezeichnet werden können und zu einem späteren Zeitpunkt abrufbar sind.

Beispielsweise können Ärztinnen und Ärzte ihre Patientinnen und Patienten über soziale Medien an Impfungen erinnern, grundsätzlich über Therapien informieren und Neuigkeiten aus ihrer Praxis mitteilen.

Veränderte oder fehlende Wahrnehmungen durch digitale Informationsübermittlung

Bei der Kommunikation über neue Kanäle der Informationsübertragung können Informationen wie beispielweise der Blick, das Aussehen der Patientin oder des Patienten fehlen oder bei der Übertragung durch Video nicht so wiedergegeben werden, wie die Ärztin beziehungsweise der Arzt es bisher gewohnt war. Hierdurch können Missverständnisse oder Fehleinschätzungen entstehen. Die Erfahrungen, die Ärztinnen und Ärzte bisher in ihrer Kommunikation mit Patientinnen und Patienten gemacht haben, müssen neu justiert werden.

Veränderung des Kontextes von Information

Bei der offenen Kommunikation speziell über soziale Medien können einzelne Inhalte auch zu einem späteren Zeitpunkt „außerhalb des Kontexts“ wiedergegeben werden. Ein anderer Kontext oder ein Ausschnitt einer Nachricht, bei dem die Teile danach oder davor fehlen, kann die Bedeutung einer Nachricht entscheidend verändern.

Im folgenden Abschnitt werden einzelne Aspekte ärztlicher Tätigkeiten im Kontext von sozialen Medien betrachtet und Hinweise zum Umgang mit dieser Kommunikationsform gegeben. Wichtigste Maßgabe ist, dass Ärztinnen und Ärzte unabhängig davon, ob sie privat oder beruflich auftreten, immer als „Ärztin“ beziehungsweise „Arzt“ wahrgenommen werden. Diese Eigenschaft bringt viele Vorteile in das Vertrauen mit sich, bedingt aber auch die Verantwortung, damit sorgsam umzugehen.

Die ärztliche Schweigepflicht

Ärztinnen und Ärzte haben über das, was ihnen in ihrer Eigenschaft als Ärztin beziehungsweise Arzt anvertraut wird oder bekannt geworden ist, zu schweigen. Diese Jahrtausende alte Verpflichtung gilt selbstverständlich auch bei der Nutzung jeglicher Form sozialer Medien – ganz unabhängig davon, ob der Austausch mit anderen Ärztinnen und Ärzten, einer bestimmten Personengruppe oder öffentlich – beispielsweise in Form eines Blogs – erfolgt.

Diffamierung und Falschaussagen

Auseinandersetzungen in sozialen Medien werden oft mit großer Härte geführt. Nicht selten schlägt eine zunächst sachliche Debatte in eine Verunglimpfung des Gegenübers um. Oft werden ungeprüfte Inhalte von anderen Nutzenden übernommen, weil sie beim ersten Lesen glaubwürdig erscheinen.

Neben der berufsrechtlichen Konsequenz einer diffamierenden Äußerung können auch strafrechtliche (§§ 185 ff. StGB) und zivilrechtliche Folgen entstehen. Prüfen Sie genau, was Sie weiterverbreiten, beachten Sie, dass Sie immer als Ärztin beziehungsweise Arzt agieren, auch wenn Sie nicht unter Ihrem Klarnamen posten. Pseudonyme können unter Umständen schnell aufgedeckt werden.

Onlinefreundschaften und deren Grenzen

Trotz aller persönlichen Bindung zwischen Arzt / Ärztin und Patient / Patientin sollte das Verhältnis zwischen beiden Agierenden ein professionelles sein, das scharf von einer rein persönlichen Beziehung getrennt werden muss.

Wenn Ärztinnen und Ärzte ihren Patientinnen und Patienten Zugang zu ihrem persönlichen Profil eines sozialen Netzwerks erlauben, bekommen Patientinnen und Patienten Einblicke in das persönliche Leben der Ärztinnen und Ärzte, wie sie diese im üblichen Patient-Arzt-Verhältnis nicht bekommen würden. Hierdurch könnten leicht Grenzen überschritten werden, die das Patient-Arzt-Verhältnis nachteilig beeinflussen könnten.Die Schwelle für solche Grenzüberschreitungen ist in Onlinemedien bei vielen Menschen niedriger als im „normalen Leben„ ausgeprägt, wodurch es neben der Beeinflussung des Patient-Arzt-Verhältnisses auch zu Verletzungen der Schweigepflicht kommen kann.

Interkollegialer Austausch über soziale Netzwerke

Viele Ärztinnen und Ärzte haben bereits die Entscheidung getroffen, sich mit Kolleginnen und Kollegen über soziale Netzwerke auszutauschen. Diese Entscheidung sollte in dem Bewusstsein erfolgen, dass eine unbekannte Anzahl von Personen sehen kann, was in den sozialen Netzwerken geäußert wird. Eine entsprechende Ausdrucksweise sollte dabei selbstverständlich sein – ebenso wie bei Äußerungen einer Ärztin oder eines Arztes in anderen öffentlichen Räumen!

Fernbehandlung und soziale Medien

Auf dem 121. Deutschen Ärztetag 2018 wurde das berufsrechtliche Verbot der ausschließlichen Fernbehandlung gelockert. Eine Beratung und Behandlung über Kommunikationsmedien auch ohne persönlichen Erstkontakt ist im Einzelfall erlaubt, wenn dies ärztlich vertretbar ist und die erforderliche ärztliche Sorgfalt gewahrt wird. Im Rahmen der Kommunikation über soziale Medien werden im Standardfall alle Inhalte offen kommuniziert, daher sollte eine Beratung einer einzelnen betroffenen Person, auch wenn sie diese explizit nachfragen würde, nicht erfolgen.

Sinnvoller und sicherer als die Einzelfallberatung oder -behandlung über Kommunikationsmedien wie Social Media ist die Beantwortung von allgemeinen Gesundheitsaussagen. Daher ist es besser, innerhalb sozialer Medien nur allgemeine medizinische Fragen zu beantworten – beispielsweise „Was ist ein Karpaltunnelsyndrom?“ oder „Ist hoher Blutdruck schädlich?“.
Sicherheitshalber sollte aber immer deutlich auf die Grenzen dieser allgemeinen Beratung für den Einzelfall und die Grenzen einer Fernbehandlung hingewiesen werden.

Öffentliche Diskussion medizinischer Themen auf Twitter

In der Zeit der Pandemie wurde auch innerärztlich heftig um das richtige Vorgehen zu deren Eindämmung diskutiert. Viele Ärztinnen und Ärzte waren persönlich betroffen und mussten miterleben, dass sie auch jüngeren Patientinnen und Patienten mit einer schweren Infektion nicht mehr helfen konnten. Viele mussten in dieser Zeit auch kräftemäßig über ihre Grenzen gehen.

In anderen Arbeitsbereichen haben Ärztinnen und Ärzte aber auch erfahren, wie beispielsweise Kinder unter den Eindämmungsmaßnahmen gelitten haben. Daher wurden insbesondere im Microblogging-Dienst „Twitter“ heftige zum Teil auch sehr emotionale Diskussionen geführt:

Lesende, die keine entsprechende statistische und medizinische Ausbildung haben, können diese Einzelfallberichte schlecht einschätzen. Aussagen zu Studien vermischen sich mit ungeprüften Einzelberichten, deren Validität und Herkunft nicht überprüft werden kann. Zudem können falsche Schlüsse gezogen werden, da das wirkliche Nutzen-Risiko-Verhältnis ohne zusätzliche Hintergrundinformationen schwer eingeschätzt werden kann.

Die emotionale Darstellung des Themas erschwert eine sachliche faktenbasierte Entscheidung und es werden vermeidbare Ängste geschürt.

Im Kontext von sozialen Medien ist für Lesende nicht nachvollziehbar:

  • ob die Autorin bzw. der Autor des Textes wirklich ein Arzt oder eine Ärztin mit der entsprechenden fachlichen Expertise für das betreffende Thema ist,
  • mit welchen Quellen die Information belegt wurde,
  • wie die Validität und Aussagekraft der zitierten Studien sind,
  • wie das wirkliche Nutzen-Risiko-Verhältnis einer ärztlichen/medizinischen Maßnahme ist.

Berufswidrige Werbung über soziale Medien

Der Einsatz sozialer Medien im ärztlichen Bereich ist auch im Hinblick auf eine mögliche Kommerzialisierung des Arztberufs kritisch zu sehen. In der (Muster-)Berufsordnung (§ 27: Erlaubte Information und berufswidrige Werbung) wird Ärztinnen und Ärzten nur die sachliche berufsbezogene Information gestattet.

Eine anpreisende, irreführende oder vergleichende Werbung dagegen wird als berufswidrig untersagt. Zweck dieser Vorschriften sind die Gewährleistung des Patientenschutzes und die Vermeidung der bereits erwähnten Kommerzialisierung des Arztberufs, die dem Selbstverständnis der Ärztinnen und Ärzte zuwiderläuft.
Die Rechtsprechung in diesem Bereich hat gezeigt, dass sich detaillierte Regelungen wegen der Vielzahl der Fallgestaltungen nicht bewährt haben.

Daher sollten grundsätzliche Vorsichtsregeln beachtet werden:

  • Denken Sie bei Ihrem Profil daran, dass Sie für die Werbung verantwortlich sind in Bezug auf die Inhalte, die grundsätzlich unter Ihrer Kontrolle stehen. Von Ihnen wird aber nicht erwartet, dass Sie alle Antworten in sozialen Medien oder Postings in Foren, die nicht unter Ihrer Kontrolle stehen, überwachen.
  • Überlegen Sie gut, ob es auf Ihrer Website oder in Ihrem Profil in sozialen Medien möglich sein sollte, Kommentare zu hinterlassen. Im Zweifel sollten Sie die Kommentaroption deaktivieren.
  • Seien Sie vorsichtig und zurückhaltend beim Posten von Kommentaren oder Bildern hinsichtlich Ihrer Fähigkeiten und Dienstleistungen, damit Sie nicht versehentlich gegen die Werberichtlinien verstoßen.
  • Sie dürfen eine Onlinerezension, die negativ ist, nicht bearbeiten, um sie positiv zu machen, oder Feedback von Rezensierenden gegen ihre Absicht ändern.

Datenschutz und Datensicherheit

Wenn sensible Inhalte wie beispielsweise Informationen zu Patientinnen und Patienten oder Erkrankungsverläufen in sozialen Medien eingestellt werden, verlieren Einstellende weitgehend die Kontrolle über die Verbreitung und Verwendung dieser Daten.

Bei der Nutzung sozialer Medien im beruflichen Umfeld sollten folgende Fragen abgewogen werden:

Was kann mit den Daten im Rahmen der AGBs des sozialen Netzwerks gemacht werden?

Häufig werden von Nutzenden die AGBs der sozialen Medien ohne genauere inhaltliche Analyse pauschal mit dem „Ich-stimme-zu“-Häkchen weggeklickt. Dadurch können dem Betreiber weitreichende Nutzungsmöglichkeiten mit den veröffentlichten Daten eingeräumt werden. Teilweise wird damit die Zustimmung erteilt, dass Daten auch von Dritten in einem völlig anderen Kontext genutzt werden.

Welcher Personenkreis sieht die Einträge?

Interessierte wie beispielsweise gegenwärtige oder künftige Arbeitgebende können Inhalte aus sozialen Medien aus unterschiedlichen Gründen beobachten. Aber auch Versicherungsgesellschaften und andere kommerzielle Nutzende können die Informationen auswerten, um beispielsweise mehr über das Risikoprofil oder das Verhalten ihrer Kundinnen und Kunden zu erfahren.

Welche technischen Möglichkeiten habe ich, meine Privatsphäre in sozialen Medien zu wahren?

Die Privatsphäre von Beteiligten in sozialen Medien ist entscheidend von den technischen Möglichkeiten zu deren Schutze abhängig. Diese variieren sehr zwischen unterschiedlichen Medien und sind zudem abhängig von den individuellen Einstellungen der jeweiligen Nutzenden. Der Schutz der Privatsphäre kann daher sowohl durch die fehlende technische Voraussetzung als auch durch die unangemessene Nutzung der vorhandenen Möglichkeiten beeinträchtigt werden. Zudem unterliegen die Nutzungsbedingungen und Einstellungen zum Schutz der Privatsphäre stetigen Veränderungen. Prüfen Sie daher regelmäßig den aktuellen Status der Nutzungsbedingungen und Ihrer Privatsphäre-Einstellungen.

Was kann möglicherweise mit den Daten noch geschehen?

Bei Kasuistiken in sozialen Medien besteht immer die Gefahr, dass durch die Menge oder Zusammenführung von Informationen Rückschlüsse auf eine einzelne Person erfolgen können (De-Anonymisierung) oder die betreffenden Personen beziehungsweise deren Angehörige sogar selbst mitlesen und ihren Fall wiedererkennen.

Darüber hinaus sollte auch bedacht werden, dass eingestellte Daten auch außerhalb des Rahmens der AGBs Dritten zugänglich sein könnten – beispielsweise durch Suchmaschinen, Hackerangriffe oder Schwachstellen bei den Netzwerkbetreibern.

Informationen aus sozialen Medien können als Kopie auf andere Computer übertragen werden – eine dauerhafte Entfernung von solchen Daten aus dem Internet ist somit nahezu unmöglich.

Nutzende sozialer Medien sollten alle Einträge in diese Netzwerke unter der Frage „Wie viel Informationen gebe ich von mir, aber auch von meinen Patienten und Patientinnen preis?“ abwägen.

Ärztinnen und Ärzte sollten sich bei der Nutzung sozialer Medien auch mit der Frage auseinandersetzen, inwieweit allein durch die Präsenz einer Ärztin beziehungsweise eines Arztes in der betreffenden Plattform Patientinnen und Patienten dazu verleitet werden, persönliche Krankheitsdetails zu offenbaren.

Dieses Thema erhält zusätzliche Brisanz durch die Tatsache, dass Identitäten in sozialen Medien mitunter leicht zu fälschen sind und Benutzerinnen und Benutzer sich als andere Personen ausgeben können.

Die eigene Meinung über Produkte im Internet veröffentlichen

Hierbei ist entscheidend, ob es sich bei den getätigten produktbezogenen Äußerungen um Tatsachenbehauptungen, die stets dem Beweis der Wahrheit beziehungsweise Unwahrheit zugänglich sind, oder um Meinungsäußerungen (subjektive Werturteile) handelt. Während wahre Tatsachenbehauptungen grundsätzlich hinzunehmen sind, sind unwahre Tatsachenbehauptungen grundsätzlich nicht zu dulden. Demgegenüber unterliegen Meinungsäußerungen grundsätzlich dem Schutz von Artikel 5 Absatz 1 des Grundgesetzes (Meinungsäußerungsfreiheit). Unternehmerinnen und Unternehmer müssen daher kritische Äußerungen über ihre unternehmerischen Leistungen – hier ihre Produkte – bis zur Grenze der sogenannten Schmähkritik hinnehmen. Eine herabsetzende Äußerung nimmt dann den Charakter einer Schmähung an, wenn in ihr nicht mehr die Auseinandersetzung mit der Sache, sondern die Diffamierung der Person im Vordergrund steht.

Fragen der Haftpflicht

Wie in den vorangegangenen Abschnitten dargestellt, sollten Ärztinnen und Ärzte auf die individuelle Beratung von Patientinnen und Patienten allein über soziale Medien verzichten. Der Einsatz von sozialen Medien im medizinischen Bereich kann und sollte aber nicht prinzipiell ausgeschlossen werden.

Die Vielfalt der Einsatzmöglichkeiten sozialer Medien im ärztlichen Umfeld kann dabei auch haftungsrechtliche Risiken für Ärztinnen und Ärzte mit sich bringen. Prinzipielle Aussagen zur Abdeckung solcher Fälle durch Haftpflichtversicherungen und Rechtsschutzversicherungen sind durch die Heterogenität der Anwendungsszenarien erschwert. Bevor Ärztinnen und Ärzte den Einsatz sozialer Medien im beruflichen Umfeld beginnen, sollten sie also mit ihrer Versicherung Kontakt aufnehmen und sich hinsichtlich des geplanten Einsatzes sozialer Medien beraten lassen.


Literatur

Kapitelübersicht

 3.1. Erstgespräch
 3.2. Anamneseerhebung
 3.3. Arzneimittel-Anamnese
 3.4. Schlechte Nachrichten überbringen (mit Video)
 3.5. Ansprechen heikler Themen: Reanimation
 3.6. Ansprechen heikler Themen: Sprechen über Tod und Sterben
 3.7. Ansprechen heikler Themen: häusliche Gewalt (mit Video)
 3.8. Ansprechen heikler Themen: Alkoholkonsum
 3.9. Gespräch mit Angehörigen von kranken Kindern (mit Video)
3.10. Gespräch mit Angehörigen von Patientinnen und Patienten mit Demenzerkrankungen
3.11. Arbeiten mit Dolmetscherinnen und Dolmetschern (mit Video)
3.12. Gespräch über Patientenverfügungen und Wiederbelebung - rechtliche Rahmenbedingungen
3.13. Gespräch über Behandlungsfehler
3.14. Gespräch zwischen den Berufsgruppen und unter Kolleginnen und Kollegen
3.15. Kommunikation unter Einbezug digitaler Medien - digitale Kommunikation

Inhaltsübersicht des Leitfadens