Für die Mehrheit der schwer opioidabhängigen Patienten ist die Substitutionsbehandlung die Therapie der Wahl. Sie eröffnet vielen die Chance auf eine Rückkehr in ein Leben mit eigener Wohnung, geregelter Arbeit und sozialen Kontakten außerhalb der Szene. Doch während die Zahl der Patienten innerhalb der letzten zehn Jahre leicht gestiegen ist, geht die der substituierenden Ärztinnen und Ärzte zurück.
von Heike Korzilius
Düsseldorf, Flurstraße 45: Es ist zehn Uhr morgens an einem warmen Spätsommertag. In den Hauseingängen und auf dem angrenzenden Karl-Wagner-Platz sitzen und stehen in kleinen Gruppen Männer und wenige Frauen, denen man ansieht, dass das Leben es nicht immer gut mit ihnen gemeint hat. Das Suchthilfezentrum des Sozialdienstes Katholischer Frauen und Männer (SKFM) bietet ihnen eine Anlaufstelle abseits der offenen Drogenszene. Die Klienten können dort duschen und ihre Wäsche waschen. Es gibt ein Kontaktcafé, ein Angebot ambulant betreuten Wohnens, und die Sozialarbeiter vor Ort sind Ansprechpartner für Probleme aller Art.
Die Idee hinter dem Suchthilfezentrum, das 2022 aus einem Modellprojekt der Stadt Düsseldorf hervorging, ist, Hilfsangebote für Drogenkonsumierende zu bündeln, niederschwellig zugänglich zu machen sowie das Zusammenspiel zwischen psychosozialer und ärztlicher Betreuung zu intensivieren. Zum Konzept gehört deshalb auch die Substitutionsambulanz im Hinterhaus des Zentrums. Betrieben wird sie von Dr. Dagmar Anheyer, Allgemeinärztin mit suchtmedizinischer Zusatzqualifikation, die sich schon seit gut 20 Jahren in der Substitutionsbehandlung schwer opioidabhängiger Menschen engagiert und die ihre Praxis mit dem Start des Zentrums in die Flurstraße verlegt hat.
Anheyer, zupackend und zugewandt, schätzt den ganzheitlichen Ansatz aus psychosozialer und medizinischer Betreuung, der die Arbeit im Suchthilfezentrum prägt. Die Gabe der Ersatzmedikamente sei ein wichtiger Teil der Therapie und Wiedereingliederung. Sie nehme den Menschen den Sucht- und Beschaffungsdruck. „Die Patienten müssen nicht mehr klauen gehen, sie müssen sich nicht mehr prostituieren“, sagt Anheyer. Die suchtmedizinische Betreuung ermögliche zugleich, Begleiterkrankungen zu erkennen, zu behandeln und damit auch Infektionskrankheiten wie HIV und Hepatiden einzudämmen. „Das erspart dem Gesundheitswesen Kosten, weil beispielsweise lange Krankenhausaufenthalte vermieden werden. Dieser Aspekt wird leicht übersehen“, sagt Anheyer.
Die Behandlung der Opioidabhängigen ist streng geregelt. Rechtliche Grundlage sind die Betäubungsmittelverschreibungs-Verordnung, die Richtlinien der Bundesärztekammer und die Richtlinie Methoden vertragsärztliche Versorgung des Gemeinsamen Bundesausschusses. Als Ersatzmedikamente zugelassen sind Levomethadon, Methadon oder Buprenorphin, in Ausnahmefällen auch Codein oder Dihydrocodein und Diamorphin. Bezahlt wird die Substitutionstherapie seit 1991 von den gesetzlichen Krankenkassen. Seit 2009 ist auch die Therapie Schwerstabhängiger mit Diamorphin Bestandteil des GKV-Leistungskatalogs.
Traumata hinter der Sucht
Über die Wahl des Ersatzmedikaments und dessen Dosierung entscheidet Anheyer gemeinsam mit den Patienten. „Das muss man sehr individuell einstellen – so wenig wie möglich, so viel wie nötig“, meint die Ärztin. Eine optimale Dosierung könne dabei helfen, Arbeitsfähigkeit herzustellen oder schlicht Beikonsum zu vermeiden. Hinter der Sucht steckten oft schwerste Traumatisierungen. Manche Patienten seien so jung in die Abhängigkeit geraten, „die haben im normalen Leben nie Fuß fassen können“. Da sei es wichtig, dass die Menschen durch die Substitution nicht nur wieder zurück ins Medizinsystem fänden, sondern in Zentren wie der Flurstraße 45 auch sozialarbeiterisch begleitet und psychosozial betreut würden. „Die Patienten haben hier Ansprechpartner, wenn es Ärger mit dem Vermieter gibt oder die Staatsanwaltschaft einen Stellungsbefehl zum Haftantritt ausgestellt hat. Die Sozialarbeiter begleiten die Menschen, wenn nötig, zum Arzt und zum Gericht“, sagt Anheyer. Man habe so die Möglichkeit, die Klienten „wieder ein bisschen“ gesellschaftlich zu integrieren.
Erstmals eine Tagesstruktur
Dazu trage auch die Substitutionstherapie als solche bei. Denn die Patientinnen und Patienten müssen ihre Ersatzmedikamente vor Ort unter Aufsicht einnehmen – jeden Tag. „Für viele ist es das erste Mal im Leben, dass sie eine Tagesstruktur haben. Wenn sie zum Teil über Jahre hinweg einmal täglich hierherkommen, ist das manchmal schon ein Riesenerfolg“, sagt Anheyer. Etwa ein Fünftel ihrer Patientinnen und Patienten erhalte eine sogenannte Take Home-Verordnung für fünf Tage, die sie selbst in der kooperierenden Apotheke einlösen könnten. Der Großteil dieser Patienten gehe wieder einer regulären Arbeit nach und müsse sich dann am Wochenende wieder in der Praxis vorstellen. Voraussetzung für die Take Home-Verordnung sei, dass die Patienten stabil und frei von Beikonsum seien. Auch bei Pflegebedürftigkeit, die einem täglichen Erscheinen entgegenstehe, sei das Take Home unter bestimmten Voraussetzungen möglich.
Von dem ursprünglichen Therapieziel der Abstinenz habe sich die Suchtmedizin im Laufe der Jahre gelöst, sagt Anheyer. Beikonsum versuche man dadurch zu verhindern, dass man die Patienten ermutige, sich in stressigen Situationen mit erhöhtem Suchtdruck an den Arzt oder die Ärztin zu wenden, um gegebenenfalls die Dosis des Ersatzmedikaments vorübergehend anzupassen. „Sonst verliert man die Patienten wieder an die Straße“, so Anheyer.
Axel Dannenfeld scheint sich seinen Platz im Leben zurückerobert zu haben. Der 63-Jährige erscheint pünktlich zum Gesprächstermin. Er wird seit 2018 in der Substitutionsambulanz von Dagmar Anheyer mit Methadon versorgt und ist einer ihrer Take Home-Patienten. Er hat gerade Mittagspause, arbeitet 30 Stunden die Woche im Programm ETAPPE der Caritas, das sich an Menschen in Substitution richtet. „Ich bin da in der IT tätig“, sagt Dannenfeld, der eigentlich gelernter Maurer ist. Die dazu notwendigen Kenntnisse habe er sich erst einmal aneignen müssen, aber alles, was mit Computern zu tun habe, interessiere ihn und mache ihm Spaß. „Ich mache, was anfällt: Notebooks neu installieren, Updates aufspielen. Außerdem verwalte ich das Lager“, beschreibt er seinen Arbeitsalltag.
Dass er nach jahrzehntelanger Heroinabhängigkeit wieder eine Arbeit und eine eigene Wohnung hat, ein geregeltes Leben führt, hat für Dannenfeld viel mit der Substitutionsbehandlung zu tun. Denn mehrere Entzugsversuche, darunter ein halbjähriger Aufenthalt in einer Suchtklinik, waren zuvor gescheitert. „Ich bin raus aus der Therapie und nach einem oder zwei Tagen war ich wieder dabei“, sagt Dannenfeld. „Clean geworden bin ich dadurch nicht.“ Dazu kamen zahlreiche Haftstrafen wegen Beschaffungskriminalität. „Ich bin 1983 zum ersten Mal mit Heroin in Kontakt gekommen“, erzählt Dannenfeld. Er sei da so reingeschlittert. Und er ergänzt: „Ich hatte nicht das Glück, in einer heilen Welt aufzuwachsen.“ Ein Schlüsselerlebnis für den ernsthaften Schritt heraus aus der Drogenszene sei der Tod seiner Mutter gewesen. „Das war der ausschlaggebende Grund für mich, was zu ändern.“ Dannenfeld entgiftete stationär und begab sich danach direkt in die Behandlung von Substitutionsärztin Anheyer. „Ich habe ihr gesagt, ich will weg von dem Zeug. Mit aller Gewalt. Ich muss da raus. Da hat sie gesagt, das kriegen wir hin“, beschreibt er den ersten Termin in der Suchtambulanz. Nach einem dreiviertel Jahr unter Methadon habe er kein Heroin mehr angefasst. „Das ist auch so geblieben“, sagt Dannenfeld nicht ohne Stolz.
Die Substitution habe für ihn alles verändert. Der tägliche Druck, die Heroinsucht zu befriedigen, sei weggefallen. „Das ist Freiheit“, sagt Dannenfeld. Das Ersatzmedikament habe zwar nicht die gleiche Wirkung wie die Droge. Aber man sei gedämpft, der Suchtdruck sei weg. „Das hat mir die Grundlage gegeben, mein neues Leben aufzubauen. Oder das zumindest zu versuchen.“ Klar habe er zwischendurch Phasen gehabt, in denen er alles hinschmeißen wollte. „Aber ich habe die Kurve immer wieder gekriegt. Man muss das wirklich wollen und darf sich kein Türchen offenhalten“, betont Dannenfeld. Den Kontakt zur offenen Drogenszene habe er deshalb vollständig abgebrochen.
Manche haben Berührungsängste
In Nordrhein-Westfalen befinden sich zurzeit knapp 24.500 Patientinnen und Patienten in einer Substitutionstherapie, bundesweit sind es 80.400. Das geht aus dem Substitutionsregister 2025 hervor, das beim Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte geführt wird. Insgesamt ist danach die Zahl der Substitutionspatienten innerhalb von zehn Jahren um 3.200 leicht angestiegen. Anders verhält es sich bei den Ärztinnen und Ärzten, die substituieren. Deren Zahl lag laut Register in den Jahren 2015 bis 2019 bundesweit stabil bei etwa 2.600. Während der Coronapandemie sei sie jedoch deutlich gefallen auf heute gut 2.400 (NRW: 654, Nordrhein: 240 gegenüber 280 im Jahr 2019).
Angesichts des Rückgangs substituierender Ärzte fördert die Kassenärztliche Vereinigung (KV) Nordrhein seit 2022 über den Strukturfonds Ärztinnen und Ärzte, die bereit sind, in unterversorgten Gebieten zusätzliche Substitutionsangebote zu schaffen. Sie erhalten 1.000 Euro für den Erwerb der Zusatzbezeichnung „Suchtmedizinische Grundversorgung“ und bis zu 5.000 Euro, um ihre Praxen auszurüsten, beispielsweise mit einem Tresor für die Ersatzmedikamente oder einem Dosierungsautomaten.
Für den Rückgang substituierender Ärztinnen und Ärzte führt die KV mehrere Ursachen an: Viele ältere Ärzte, die „aus innerer Überzeugung“ Substitution angeboten hätten, würden aus Altersgründen sukzessive aus der Versorgung ausscheiden. Nachrückende Ärzte scheuten oft den bürokratischen und organisatorischen Mehraufwand aufgrund gesetzlicher Vorschriften. Manche dürften auch Berührungsängste haben.
Die hat Dagmar Anheyer nicht. „Ich empfinde meine Arbeit als sehr befriedigend, denn ich bekomme von den Patientinnen und Patienten viel zurück.“ Es sei allerdings wichtig, dass man im Umgang mit den Suchtkranken eine klare Linie verfolge. „Zugleich müssen die Patienten spüren, dass man hinter ihnen steht und sie so nimmt, wie sie sind.“ Behandlungserfolge wie die bei Axel Dannenberg zeigten ihr, wie wichtig die Substitutionstherapie sei. Obgleich es natürlich immer auch Rückschläge gebe und man Menschen an die Drogen und den Tod verliere.
„Nicht in unserer Straße“
In die Entwicklung des Flurstraßenkonzepts waren vor knapp zehn Jahren alle Suchthilfeakteure der Stadt Düsseldorf eingebunden. „Unsere Erfahrungen sind bisher sehr gut“, sagt der Fachbereichsleiter Drogenhilfe der SKFM, Patrick Plötzke. „Wir halten für alle Lebenslagen ein Angebot vor: von der Obdachlosigkeit über die Substitution bis hin zum kompletten Ausstieg aus der Drogensucht.“ Was ihm zurzeit Sorge bereitet, sind die Reaktionen aus der Nachbarschaft auf das Suchthilfeangebot. Das Zentrum liege in unmittelbarer Nähe einer Grundschule, was einige Eltern bewogen habe, gegen die Einrichtung zu klagen, weil sie das Wohl ihrer Kinder gefährdet sähen. Plötzke kann die Verunsicherung nachvollziehen. „Die Situation ist eine Herausforderung und braucht ein besonderes Augenmerk,“ räumt er ein. „Unser Wunsch ist es, mit der Schule und den Eltern in den Austausch zu kommen.“ So könne man zum Beispiel das Thema Sucht und Abhängigkeit in der Klasse kindgerecht erklären. „Aber die Vorbehalte und Ängste gegenüber unserer Zielgruppe – substituierten, drogenabhängigen und konsumierenden Menschen – sind leider groß“, sagt Plötzke. Dabei schaffe ein Zentrum wie das in der Flurstraße eine Struktur, die einer Verelendung wie in der offenen Drogenszene entgegenwirken und Betroffene und Nachbarschaften schützen und unterstützen könne. „Dr. Anheyer, wir Sozialarbeiter, die Mitarbeiter von Polizei und Ordnungsamt – wir alle setzen uns dafür ein.“ Es sei wohl ein Grundphänomen der Sucht- und Drogenhilfe, dass die meisten die Arbeit wichtig und gut fänden – aber nicht in der eigenen Straße.
Die KVNO genehmigt die Substitutionsbehandlung und fördert diese finanziell in unterversorgten Gebieten: www.kvno.de/praxis/qualitaet/genehmigungen/substitution
Die Beratungskommission substitutionsgestützte Behandlung Opioidabhängiger der Ärztekammer Nordrhein unterstützt Ärztinnen und Ärzte in allen Fragen rund um das Thema:
www.aekno.de/aerzte/beratung/beratungskommission-substitutionsgestuetzte-behandlung-opioidabhaengiger